| # taz.de -- Flucht in die Westukraine: Von Kiew bleibt Trockenfisch | |
| > Wie fühlt es sich an, plötzlich von zu Hause fort zu müssen? Und was tut | |
| > man am neuen Ort, um nicht die Nerven zu verlieren? | |
| Bild: Frauen fertigen Tarnelemente und Tarnnetze in der Westukraine | |
| Wir fingen an, zu packen. Sogar die Worte [1][„Ich verlasse Kiew“] machten | |
| mir Angst. Bei Mama stieg sofort der Blutdruck. Ich suchte meine Sachen | |
| zusammen und verstehe, dass, wenn ich jetzt gehen würde, völlig unklar sei, | |
| wann ich hierher zurückkäme. Dann redete ich mit Mama und dachte: Wenn ich | |
| bleibe, ist nicht klar, wann ich sie und Papa wiedersehe… und ob. Ich | |
| möchte, dass meine Eltern (sie sind über 70) in Sicherheit sind. | |
| Der Mann, der uns wegbringen sollte, verspätete sich, man kam gerade nicht | |
| so gut durch. Ich setze mich mit den Eltern ins Auto. Und dann fing ich wie | |
| aus heiterem Himmel zu weinen an und weinte die ganze Fahrt über. | |
| Es ist der erste Tag [2][nach der Ankunft in der Westukraine]. Öffentlich | |
| keine Orte, Namen und Details zu nennen, ist mittlerweile schon zur | |
| Gewohnheit geworden. Im Supermarkt gibt es alles zu kaufen, sogar Brot. Es | |
| gibt auch keine Schlangen. Aus den Bankautomaten bekommt man Bargeld. Ich | |
| verstehe, dass das immerhin gut ist. Aber es zerreißt mir das Herz, dass es | |
| in meiner Heimatstadt Kiew überhaupt nicht so ist. | |
| Als Erstes gehe ich zum Friseur, um mir die Haare schneiden zu lassen. Es | |
| scheint, als sei das Blödsinn im Krieg, aber mir kommt es vor, als würde es | |
| dann leichter. Die Friseurin stellte die üblichen Fragen. Ich kann nicht | |
| anders und fange an zu weinen. Sie schenkt mir Kräutertee ein und sagt, | |
| dass, wenn ich jetzt hier sei, das so sein solle. Man müsse Gott vertrauen. | |
| Und sie fragt, ob ich später mitkommen will, um Netze fürs Militär zu | |
| knüpfen. Sie sagt, dass die Arbeit mit den Händen beruhige. Ich gehe dann | |
| mit, aber die Arbeit verwirrt mich. In meinem Kopf schwirrt die Frage | |
| herum: „Was tust du hier?“ [3][Ich bin Journalistin und meine Front ist die | |
| Nachrichtenfront]. | |
| Ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt. Sie ist hübsch. Normalerweise | |
| fotografiere ich viel mit dem Handy. Jetzt darf man das nicht tun. Kein | |
| Mosaik, keinen Platz, kein Haus mit ungewöhnlicher Architektur, keine | |
| Werbetafeln mit der Aufschrift „WSU (das sind die bewaffneten ukrainischen | |
| Streitkräfte), ihr seid die Besten“ darf fotografiert werden. Man könnte | |
| mich für eine Spionin oder Saboteurin halten. | |
| Am ersten Tag hat ein Verwandter den Ausblick aus seinem Fenster geknipst. | |
| Nur für sich selbst. Nach zehn Minuten kamen sie in seine Wohnung, baten | |
| ihn, das Foto zu löschen und haben das auch überprüft. Sicherheit ist im | |
| Augenblick wichtiger als alles andere. | |
| Trotz all dem hat mich das Netzeknüpfen ein bisschen beruhigt. Zurück in | |
| der Wohnung sehe ich, dass die Eltern Essen gekauft haben. Aber ich nehme | |
| nichts davon, ich esse ein Stückchen von dem Trockenfisch, den ich aus Kiew | |
| mitgenommen habe. Es ist, als könnte dieses Stückchen die Entfernung | |
| verringern und die Illusion erzeugen, als sei nichts geschehen. Als sei es | |
| ein Stück Heimat. Es ist „von dort“. Die Eltern verstehen nicht, warum ich | |
| beim Essen weine – vermutlich, weil ich gerade die aktuellsten Nachrichten | |
| lese. | |
| „Ich will zurück“. Man rät uns ab, sagt, dass in Kiew jetzt die Soldaten | |
| ihren Job machen und man sie nicht behindern darf. Und dass der Weg zurück | |
| gefährlicher sei als Kiew selbst. Das sind Ausflüchte. Und so sitzen wir | |
| hier mit unserem „Ich will nach Hause“, jeder Einzelne von uns. | |
| Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
| Finanziert wird das Projekt durch die [5][taz Panter Stiftung]. | |
| 10 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Olena Makarenko | |
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