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# taz.de -- Hauptstadt der Ukraine im Krieg: Wut und der Wunsch, sich zu wehren
> In Kiew schlagen weiter Geschosse in Wohnhäuser ein – offenbar, um die
> Bewohner der Stadt mürbe zu machen. Der Druck auf die Hauptstadt wächst.
Bild: Kiew am Montag: Bewohnerin eines Plattenbaus auf dem Balkon ihrer ausgebr…
Kiew taz | Der Luftalarm beginnt um neun Minuten nach vier. Es ist
Montagmorgen. Das ist überraschend, denn das Ende des vorherigen Alarms,
der vor knapp zwei Stunden begonnen hat, wird nicht bekannt gegeben.
Die Fensterscheiben vibrieren leicht. So ist es immer, wenn irgendwo in der
Ferne Explosionen zu hören sind. [1][In Kiew haben sich die Menschen
bereits daran gewöhnt]. Es vibriert, wenn das Luftverteidigungssystem
aktiviert wird, das Raketen abschießt. Also noch mal auf die andere Seite
drehen und ein kleines Nickerchen machen. Bis zum Aufstehen bleibt noch
eine Stunde Zeit.
Genau neun Minuten nach fünf Uhr kracht es – drei Explosionen. Sie sind so
stark, dass, wenn hier ein Sideboard mit Kristallgeschirr stünde, es nicht
leiser klingen würde als eine Sirene.
Eine Stunde später wird klar: [2][Russische Artilleriegeschosse] haben ein
mehrstöckiges Wohnhaus in einem der Wohngebiete von Kiew sowie das Gelände
des berühmten Flugzeugbaubetriebes Antonov getroffen. Es ist dasselbe
Areal, wo zu Sowjetzeiten das größte Transportflugzeug der Welt „Mrija“
gebaut wurde und das die russischen Besatzer am 27. Februar bei der
Bombardierung des Flugplatzes in Gostomel niedergebrannt haben.
## Angriff auf Plattenbauten
Da, wo erst vor zwei Stunden ein großkalibriges Projektil in ein
neunstöckiges Wohnhaus eingeschlagen ist, sind Feuerwehr und Rettungskräfte
noch immer im Einsatz. Das Feuer, das mehrere Stockwerke verschlungen hat,
kann vier Stunden nach dem Raketenabgriff endlich gelöscht werden.
Laut offiziellen Angaben wurden ein Mensch getötet und drei weitere
Personen ins Krankenhaus gebracht. Fünfzehn Menschen tragen leichtere
Verletzungen davon. In der Nähe dieses Hauses gibt es keine militärischen
oder potenziell strategischen Objekte, sondern nur Plattenbauten.
Vor einem Aufgang des Hauses steht ein älterer Mann, er führt einen Dackel
an der Leine. Mit glasigem Blick mustert er die zerbrochenen
Fensterscheiben und weist auf ausgebrannte Wohnungen. Der 75-jährige
Wladimir Petrowitsch ist Bewohner dieses Hauses. Zum Zeitpunkt der
Explosion war er bereits wach und machte sich gerade für einen Rundgang mit
seinem Hund bereit.
„In meiner Wohnung gibt es kein Fenster und keine Tür mehr. Ich werde jetzt
wohl zu meiner Tochter in den Westen der Ukraine fahren. Es ist jetzt
unmöglich, hier zu leben“, sagt er. Er hat eine kleine Tasche und, aus
welchem Grund auch immer, einen Regenschirm bei sich.
## Der Sirenenalarm hört fast nicht mehr auf
Obwohl die Kämpfe um Kiew bereits in die zweite Woche gehen und der
Sirenenalarm fast gar nicht mehr aufhört, ist es schwer, sich auf eine
solche Tragödie mental vorzubereiten. Doch niemand der
Hausbewohner*innen bricht in Tränen aus oder verfällt in Panik. Alle
packen ruhig kleine Taschen mit dem Nötigsten oder dem, was übrig geblieben
ist.
Swetlana und ihre Familie haben Glück im Unglück. Ein Geschoss schlägt im
Treppenhaus ein, direkt neben Swetlanas Wohnung. In drei Stockwerken wird
das Treppenhaus zerstört, ihre Wohnung brennt vollständig aus.
Aber sie schafft es irgendwie, den Feuerwehrmann zu überreden, die Treppe
zu dem Fenster des Raumes hinauf zu steigen, der morgens noch ihre Küche
gewesen ist. Dann steigt sie selbst auf die Feuerleiter und zeigt dem
Feuerwehrmann Sascha, wohin er gehen solle, um ihre Unterlagen zu suchen.
Er bahnt sich einen Weg durch die Trümmer zu einem Schrank. Dann geht er zu
der Fensteröffnung zurück und zeigt ihr zwei gerahmte Fotos. „Sind die
Dokumente da irgendwo?“, fragt Swetlana und fängt an zu weinen. Sie redet
auf den Feuerwehrmann ein, weiter zu suchen. So geht das zehn Minuten lang.
Dann kommt ein Mann auf Swetlana zu und sagt: „Swet, es ist doch alles
verbrannt. Es hat keinen Sinn, weiter zu suchen. Komm zu uns runter.“
## „Alles ist verbrannt. Aber Hauptsache wir leben“
Da wird plötzlich klar: Das ist ihr Ehemann, der da mit den Kindern steht –
die von den Fotos –, auch die Großmutter ist dabei. „Wir sind alle am Leben
und sind entkommen, mit dem, was wir auf dem Leib tragen. Alles ist
verbrannt, aber Hauptsache wir leben. Aber die da, sie werden alle zusammen
mit Putin verdammt sein“, sagt die 70-jährige Irina Tadejewna.
An diesem Montag ist die Lage in Kiew angespannt. An einem einzigen Tag
werden in drei zentral gelegenen Stadtteilen Wohnhäuser beschossen. Vom
Balkon der Wohnung ist ein Marschflugkörper am Himmel zu beobachten. Er
fliegt zu schnell, um ihn zu fotografieren, jedoch langsam genug, um seine
enorme Größe zu erkennen.
20 Minuten später kommt die Nachricht, dass eine Rakete über Kiew
abgeschossen worden und Teile davon in der Nähe eines ausgebrannten
Wohnhauses niedergegangen seien. Eine Person sei getötet worden.
## Zwei Millionen Menschen sind in Kiew geblieben
Nach Angaben der Stadtverwaltung sind rund zwei Millionen Menschen in Kiew
geblieben. Immer häufiger ist der Satz zu hören, dass es die Strategie der
russischen Armee sei, die Bevölkerung mit solchen chaotischen Angriffen
mürbe zu machen.
Viele haben das begriffen. Sie bereiten sich auf eine mögliche Blockade
vor, versorgen sich mit wichtigen Gütern und verstärken die
Verteidigungsanlagen der Stadt, aber sie bleiben ruhig.
Vielen fällt es schwer, sich vorzustellen, dass jemand es wagen wird, Kiew
genauso zu bombardieren wie Charkiw oder Mariupol. Doch der Druck auf die
Hauptstadt wächst. Russische Truppen rücken vom Nordwesten, Norden und
Osten auf Kiew vor. Gleichzeitig werden aus drei Richtungen Kiewer*innen
aus der Hauptstadt evakuiert.
Aber das versetzt die Menschen nicht in Angst, wie der Aggressor glaubt –
im Gegenteil. Das alles erzeugt Wut und den Wunsch, sich zu wehren.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
Anastasia Magasowa war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz
Panter Stiftung.
15 Mar 2022
## LINKS
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[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Kolumne Poetical Correctness
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Kolumne Krieg und Frieden
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