| # taz.de -- Flucht aus Kiew per Bahn: Froh, einander zu haben | |
| > Die Hauptstadt der Ukraine wird bombardiert. Wer kann, steigt in den Zug | |
| > und geht. Aber das ist nicht so einfach. | |
| Bild: Evakuierungszug von Kiew nach Lwiw am Kiewer Hauptbahnhof am 11. März | |
| Ich wache auf, weil Alja mich weckt und sagt, dass der Zug in einer Stunde | |
| ankommt. Wir hatten mit einer anderen Zeit gerechnet, weil sich die | |
| Fahrpläne gerade jeden Tag ändern. | |
| Wir frühstücken schnell ein paar Käsebrote, dann laufen wir los zum Bahnhof | |
| Darnizja (Vorortbahnhof im gleichnamigen Kiewer Stadtteil; Anm. d. | |
| Redaktion). Es schneit, wir haben kalte Hände, [1][irgendwo aus weiter | |
| Entfernung heulen Sirenen], und wir schlendern, als wären wir auf einem | |
| leichten Lauf, mit Rucksäcken auf dem Rücken. | |
| Am Bahnhof sagen sie uns, dass sie nur Frauen und Kinder in den Zug lassen | |
| würden. Alja steigt ein und sieht mich an, als warte sie darauf, dass ich | |
| auch einsteigen würde. Ich gehe zur Schaffnerin, die neben der Waggontür | |
| steht und die Menschen einsteigen lässt, und sage: „Ich bin mit diesem | |
| Mädchen hier“, und zeige auf Alja. Sie sieht mich an, dann Alja, dann | |
| wieder mich, und dann sagt sie halblaut: „Steig ein“. Ich renne los. Die | |
| Männer, die neben mir auf dem Bahnsteig stehen, schreien „Halt! Wo willst | |
| du hin?“ Und so in der Art. [2][Aber ich bin schon im Zug, und es gibt für | |
| mich schon keinen Weg zurück.] | |
| Im Zug gibt es keine Sitzplätze mehr. Darum stehen wir oder sitzen im Gang. | |
| Als wir nicht mehr stehen können, bitten wir die Frau, die neben uns sitzt, | |
| um ihre Tasche und setzten uns darauf. Aber auch so kann man sich nicht | |
| ausruhen, die Beine schlafen ein, die Knie schmerzen, ich fühle mich wie | |
| ein Großvater, der mit zusammengebissenen Zähnen schweigt, während | |
| Müdigkeit und Ausweglosigkeit in seinem Blick liegen. | |
| [3][Der Zug ist voller Menschen], viele mit ihren Kindern und Haustieren. | |
| Höchstens zehn Männer sind darunter, Teenager und Alte nicht mitgerechnet. | |
| Viele Menschen haben Tränen in den Augen, einige wegen des Krieges, andere | |
| wegen der Sorge um ihre Angehörigen. Mit der Zeit trocknen die Tränen und | |
| lassen verschmierte Gesichter zurück. Blicke der Angst, Blicke der | |
| Erschöpfung, Blicke der Hoffnungslosigkeit. Blicke von Frauen mit Kindern, | |
| ohne Männer. Von Frauen mit Haustieren. | |
| Neben mir sitzt eine Familie: Opa, Oma, Mann und Frau, Kinder. Sie wirken | |
| glücklich, niemand von ihnen weint. Nur die alten Leute haben von Zeit zu | |
| Zeit Angst in ihren Blicken. Ich sehe, wie die Frau und der Mann | |
| abwechselnd das Kleinkind auf dem Arm halten, ihre Augen strahlen. Sie sind | |
| froh, dass sie einander haben, dass sie zusammen sind, dass in diesem einen | |
| Moment alles gut ist. | |
| Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
| Finanziert wird das Projekt durch die [5][taz Panter Stiftung]. | |
| 17 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alexandr Babakov | |
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