# taz.de -- Flucht aus der Ukraine: Vier Personen auf zwei Sitzen | |
> Der Zug von Warschau nach Berlin ist voll. Es zeigt sich, dass der Exodus | |
> aus der Ukraine eine Bewegung von Müttern, Kindern und Haustieren ist. | |
Bild: Zug voller Flüchtlinge aus der Ukraine bei einem Stopp in Frankfurt/Oder | |
WARSCHAU/BERLIN taz | „Give Peace a Chance“ ist das letzte, das wir von | |
[1][Warszawa Centralna] sehen. Der Satz flimmert in Rosa in der | |
Leuchtwerbung eines italienischen Kleiderdesigners in der Mitte von | |
Bahnsteig drei. Wir drängeln uns in Wagen Nummer 269 des EC nach Berlin. | |
Der Zug ist voll. Auf zwei Sitzplätze kommen vier Personen. | |
Fast alle Mitreisenden haben eine mehrtägige Odyssee in abgedunkelten Zügen | |
durch die Ukraine hinter sich. Gefolgt von stundenlangem Schlangestehen vor | |
polnischen Schaltern, an denen es Gratis-Fahrkarten gab. Gefolgt von einer | |
Nacht auf dem schwarzen Fliesenboden von Centralna, wo allenfalls | |
Yogamatten und Decken vor der Kälte schützten. | |
Die Erwachsenen haben geschwollene Augen. Die Kinder klammern sich an | |
Eltern und Großeltern. Aus tragbaren Käfigen, die auf der Gepäckablage | |
stehen, kommt Miauen und Jaulen. | |
Der Exodus aus der Ukraine ist eine Bewegung von Müttern. Das unterscheidet | |
ihn von anderen Fluchten, die von jungen Männern dominiert werden. Anders | |
ist auch, dass diese Reise zu großen Teilen im Zug stattfindet. [2][Und | |
dass außer den Frauen und Kindern auch jede Menge Haustiere dabei sind.] | |
## Flüchtlingslaptop für die Kundenabrechnung in Dnipro | |
Kurz vor Abreise des Zugs habe ich im Obergeschoss von Centralna die | |
zwölfjährige Nastia getroffen. „Meine Mutter hat mich und Kleopatra“, sag… | |
das Mädchen. Dabei hätschelt sie ihre Siamkatze und ihre 44-jährige Mutter | |
Ilona hält den Rollkoffer fest umklammert. | |
Außer zwei Paar Hosen und T-Shirts für beide enthält der Koffer einen | |
Laptop für die Tochter, damit sie weiter am Schulunterricht teilnehmen, und | |
einen Laptop für die Mutter, damit sie aus der Ferne die Lohnabrechnung für | |
ihre Kunden in Dnipro machen kann. Die Mutter findet vor Erschöpfung kaum | |
Worte. Sie ist sicher, dass die Russen in „zwei bis drei Wochen weg und der | |
Krieg vorbei“ sein werden. | |
Während ich am Rand der Schlafstelle von Mutter und Tochter knie und | |
Notizen mache, fällt mir auf, dass kaum jemand um mich herum einen | |
Mund-Nasenschutz trägt. „Wir sind auch nicht geimpft“, sagt Ilona: „Wir | |
wollen das nicht“. | |
In dem Großraumwagen bin ich eine von maximal vier Personen, die eine Maske | |
trägt. Zugleich eine der wenigen mit einer Platzreservierung. Der Mann, | |
dessen Platz ich reserviert habe, sieht jünger aus als ich. Die Frau, die | |
ihre Ellbogen einsetzt, um sich auf meinen Sitz zu schieben, während ich | |
mich bei ihm entschuldige, ist ebenfalls jünger. Zum Glück haben beide | |
keine Kinder auf dem Schoß. | |
## Erstaunliche Ruhe in dem dicht gedrängten Waggon | |
Die Reise soll sechs Stunden dauern. Noch wissen wir nicht, dass wir sehr | |
viel länger unterwegs sein und erst kurz vor Mitternacht [3][im Berliner | |
Hauptbahnhof] einfahren werden. In dem dicht gedrängten Waggon ist es | |
erstaunlich ruhig. Die Reisenden mit Sitzplätzen dösen. Viele haben Kinder | |
auf dem Schoß. | |
Flüsternd tauschen sich zwei Frauen im Gang darüber aus, wie sie am 24. | |
Februar zum ersten Mal das Wort „Krieg“ aus dem Mund ihrer Kinder hörten. | |
Seither hat eine der beiden deutsch zählen gelernt. Sie schafft es bis 39. | |
Die andere kann schon „Dankeschön“ sagen. Zu ihren Füßen schläft | |
zusammengekauert ein kleiner Junge im Gang. | |
Schaffner kommen auf der langen Fahrt nur einmal in den Wagen. Fahrkarten | |
wollen sie nicht sehen. Stattdessen bieten sie zusätzliche Sitzplätze am | |
Ende des Zuges an. Zahlreiche Frauen mit Kindern, Haustieren und | |
Rollkoffern folgen ihnen. | |
Doch schon in Konin, beim nächsten Halt des Zuges, füllt sich der Gang | |
erneut mit Flüchtlingen. Bei jedem Halt kommen auch Körbe mit | |
Wasserflaschen und belegten Broten in unsere Wagen. Sie werden über unseren | |
Köpfen weitergereicht. | |
## Deutsche Grenzbeamte interessiert nur der US-Pass | |
An der deutsch-polnischen Grenze kommen zwei deutsche Polizisten in den | |
Wagen. Sie wollen die Pässe sehen. Auf die ukrainischen, die ihnen | |
entgegengehalten werden, werfen sie nur kurze Blicke. Der einzige Pass, den | |
sie sorgfältig studieren, gehört dem US-Amerikaner, der neben mir sitzt. Er | |
war kurz zuvor von Berlin nach Warschau gereist und hatte dabei keinen | |
Ausreisestempel bekommen. Dass fast niemand in dem Wagen eine Maske trägt, | |
ignorieren die Polizisten. | |
Kurz vor der Einfahrt in den Berliner Hauptbahnhof ertönt im Zug eine | |
Lautsprecherdurchsage, von der die meisten Vertriebenen nur träumen können: | |
„Liebe Flüchtlinge aus der Ukraine, seien Sie herzlich willkommen“. | |
15 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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