| # taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Adieu, geliebte Stadt | |
| > Unsere Autorin floh mit ihrer Familie aus Kyjiw. Während Eltern und | |
| > Geschwister nun zurückgekehrt sind, hat sie beschlossen, sich abzunabeln. | |
| Bild: Letzter Blick auf Kyjiw: Autorin Polina Fedorenko nimmt Abschied von ihre… | |
| ## Polina Fedorenko, 21, kommt aus Kyjiw. Diese Schreibweise der Stadt ist | |
| ihr wichtig, sie entspricht dem ukrainischen Namen, nicht dem russischen. | |
| Fedorenko studierte früher Informatik. Als der Krieg begann, pausierte sie | |
| gerade mit dem Studium, sie wollte zur Soziologie wechseln. Sie arbeitete | |
| auch als Mathe-Nachhilfelehrerin für Kinder. Fedorenko zeichnet gerne, | |
| liebt Sprachen und lernt gerade Norwegisch. Nun überlegt sie, außerdem | |
| Deutsch zu lernen, weil einige Verwandte nach Deutschland geflohen sind. | |
| Doch sie selbst möchte vorerst in der Ukraine bleiben. | |
| Als ich für einen kurzen Besuch nach Kyjiw zurückkehrte, verstand ich zum | |
| ersten Mal seit dem Krieg, dass ich mich richtig entschieden hatte. | |
| Es ist Frühling hier. Und endlich begann ich auch, das zu begreifen. In | |
| meinem Kopf war noch Winter, und dann waren plötzlich die Kastanien grün, | |
| meine Weintrauben, die Linden auch. Und man kann im T-Shirt die Straße | |
| entlangspazieren. Frühling! | |
| Doch meine Wohnung hat sich verändert in den anderthalb Monaten, in denen | |
| ich weg war. Plötzlich schreit es mir von allen Wänden entgegen, wer ich | |
| bin, und warum ich so bin, wie ich bin. Hier Fotos, auf denen meine jüngere | |
| Schwester in Swaljawa auf einem Pferd reitet, da Fotos von meinen Eltern | |
| auf der Krim, dann welche von gemeinsamen Ausflügen nach Butscha, von | |
| meiner Mutter und meinem Bruder Jaroslaw bei einem Kindergartenfest. | |
| Früher war für mich jeder Tag durchgetaktet, selbst in meiner Freizeit: | |
| Kinderkostüme basteln, jeden Sommer in die Karpaten, dann die Reisen zu | |
| meiner Großmutter in die Region Tschernihiw. Manchmal war mir das alles zu | |
| eintönig, aber jetzt vermisse ich es sehr. | |
| Trotzdem habe ich beschlossen, bei meinen Eltern auszuziehen und von nun an | |
| permanent [1][in Lwiw zu leben]. Es scheint mir, dass es für eine solche | |
| Entscheidung nie den richtigen Zeitpunkt gibt, also kann ich es genauso gut | |
| jetzt tun. Meine Mutter setzt seit ihrer Rückkehr nach Kyjiw ihre | |
| Krebsbehandlung fort, auch alle Freunde der Familie kehren gerade hierher | |
| zurück, und ich habe das Gefühl, endlich frei zu sein und mit meinen | |
| Freunden leben zu können, also packe ich zusammen. | |
| Doch ich vermisse schon jetzt das Sideboard, das wir in ein Bücherregal | |
| umgewandelt haben, weil der Bücherdurst meines Vaters und mein eigener | |
| nicht in den Bücherschrank und die drei Regale passte. | |
| Ich vermisse schon jetzt meinen Schreibtisch auf dem Balkon, abends mit | |
| meiner Schwester „Sex Education“ zu gucken und dabei das Popcorn vor meinem | |
| Bruder zu verstecken. | |
| Ich vermisse schon jetzt die Momente des Aufwachens und das Gefühl, wenn | |
| meine Katze Sarah auf mir liegt und schnurrt. Aber ich spüre, dass meine | |
| Entscheidung richtig ist und es beruhigt mich, noch einmal nach Hause | |
| zurückkehren zu können, um mich von Kyjiw zu verabschieden. | |
| ## Die U-Bahn | |
| Ich bin schon mein ganzes Leben lang von dieser einmaligen Erfindung der | |
| Menschheit fasziniert. Ich interessiere mich dafür, wie alles funktioniert, | |
| wohin die Züge fahren, wenn sie an der Endstation im Tunnel verschwinden, | |
| und wie die Arbeiter die Fahrzeiten berechnen, damit alle überall pünktlich | |
| sind. Ich liebe die Geschichten über Geisterstationen, von denen es in | |
| Kyjiw drei gibt, und die Romane über die Apokalypse und das Leben in der | |
| U-Bahn. | |
| Jetzt bin ich wieder hier, in meiner U-Bahn-Station Akademmistetschko – und | |
| alles ist anders. Zwar ist sie immer noch mein Lieblingsplatz und ich bin | |
| immer noch ich – und doch haben wir uns sehr verändert. | |
| Mit einem Mal befinden sich in ihr überall Spuren menschlichen Lebens: | |
| Schlafsäcke vor geschlossenen Geschäften, viel Militär und neue Gesichter | |
| oder zumindest anders aussehende Gesichter. Denn nicht nur ich und meine | |
| U-Bahn-Station haben sich in den Tagen des Krieges verändert, er hat uns | |
| alle zu anderen gemacht. | |
| Doch hier unten fühle ich mich sicher. Die Akademmistetschko-Station ist | |
| momentan der sicherste Ort für mich – und das Leben ein schlechter Witz, | |
| dessen Pointe erst in ein paar Monaten kommt. | |
| ## Sarah | |
| Meine Katze wurde 2012 geboren, am 28. Juni, also an dem Tag, an dem die | |
| Verabschiedung der ukrainischen Verfassung gefeiert wird. Laut den Maya | |
| sollte das Jahr 2012 das Jahr des Weltuntergangs sein, doch es stellte sich | |
| heraus, dass sie falsch lagen und in diesem Jahr die Ära von Sarah begann. | |
| Wenn Sie mich fragen, was Sarah mir bedeutet, dann antworte ich: „Sie ist | |
| meine beste Freundin.“ | |
| In den vergangenen Jahren habe ich eine gewisse Synchronisierung unserer | |
| Gemütszustände bemerkt. Als ich schon einmal vorübergehend rund 500 | |
| Kilometer von Sarah entfernt lebte, ging es ihr nicht besonders gut: Sie | |
| war isoliert, ihre Haut an vielen Stellen aufgerissen, und sie fraß nur | |
| noch wenig. Als ich sie am Silvesterabend jenes Jahres ansah, wurde mir | |
| klar, dass ich mich genauso fühlte und [2][genauso auf die Welt reagierte | |
| wie sie]. Ich weigerte mich, zu kommunizieren und zu essen. Ich war | |
| überfordert. | |
| Während der Quarantänezeit richtete ich mir einen Arbeitsplatz auf dem | |
| Balkon ein. Und wenn ich mal wieder dort saß und etwas zeichnete, lief | |
| Sarah auf dem Tisch herum und wies mich mit ihrem Schwanz auf wichtige | |
| Details hin. Ich habe sie so vermisst. Es tut mir unglaublich leid, dass | |
| ich sie nicht mit [3][nach Lwiw] nehmen kann! | |
| ## Sichere Orte | |
| Mit 17 entdeckte ich das Anti-Café Bergamot. Manchmal gingen ein Freund und | |
| ich nach der Schule oder zwischen den Examensvorbereitungen dorthin, um | |
| Brettspiele zu spielen und Tee zu trinken. | |
| Das Bergamot machte bereits vor der Pandemie dicht und ich habe seitdem | |
| keinen Ort mehr in Kyjiw gefunden, an dem ich mich so sehr wie ich selbst | |
| gefühlt habe wie dort. | |
| Außer vielleicht am See in der Nähe meines Hauses. Schon vor der Pandemie | |
| saß ich oft auf dem Steg und beobachtete die Wellen, die der Wind erzeugte, | |
| den Wald, wie er sich im Wasser spiegelte. Während der Pandemie wurde | |
| dieser See zu meinem zweiten Zuhause. Als alle sich in ihren Wohnungen | |
| aufhielten, weil die Unis, die Schulen und Kindergärten geschlossen waren, | |
| lief ich hierher, um in Ruhe zu sein. | |
| ## Die Leere | |
| Als Corona ausbrach, waren die öffentlichen Verkehrsmittel zwei Monate lang | |
| nur für bestimmte Personengruppen zugänglich. | |
| Einmal wurde ich zu einer Blutspende gerufen, und mein Vater und ich nahmen | |
| ein Taxi zum Krankenhaus. Als wir durch die verlassenen Straßen von Kyjiw | |
| fuhren, erfüllte mich eine seltsame Aufregung. Es war vermutlich dieselbe | |
| Aufregung, die ich empfunden hätte, wenn ich eines Tages nach Tschernobyl | |
| gereist wäre. Kyjiw, das bis vor Kurzem noch so lebendig gewesen ist, war | |
| nun leer und tot. | |
| Jetzt, da ich einen Monat Krieg in Kyjiw überlebt habe, möchte ich meine | |
| Stadt nie wieder tot sehen. Die Zeit der Pandemie kommt mir dagegen fast | |
| schon romantisch vor: Der Chreschtschatyk-Boulevard ohne Menschen, das | |
| Altstadtviertel Podil ohne Motorroller, die Cafés alle leer. Das Leben | |
| versteckte sich damals hinter Häuserwänden, ging in den Untergrund, es | |
| existierte. Aber als der Krieg in vollem Umfang begann, hatte ich Angst, | |
| dass Kyjiw nie wieder zum Leben erwacht. | |
| Jetzt gehe ich durch die Straßen, in denen die Bäume bereits grün werden, | |
| die Blumen blühen und die Vögel singen. Während der Pandemie trugen alle | |
| Menschen Masken und/oder hielten Abstand. Jetzt lächeln wir uns an. | |
| Es ist, als hätten die zwei Monate des Krieges alle Bürger Kyjiws zu | |
| Freunden gemacht. | |
| ## Exkursion | |
| Ich vermisse mein altes Leben sehr. Aber es hilft nichts, ich muss Abschied | |
| nehmen – auch von meiner Lieblingsroute in Kyjiw. Also laufe ich zum | |
| vorerst letzten Mal zur Haltestelle Akademmistetschko und fahre mit der | |
| U-Bahn bis zum Polytechnischen Institut. Dort steige ich aus und mache | |
| einen Spaziergang, der die Beine vieler meiner Freundinnen und Freunde müde | |
| machen würde, mich selbst aber jedes Mal wieder aufs Neue erfüllt. | |
| Mein erstes Ziel ist der Humans Coffee Shop. Es ist ein Hipstercafé mit | |
| vielen Pflanzen und riesigen Panoramafenstern. Hier gibt es Filterkaffee, | |
| süßen Kakao und Quiche und man trifft immer nette Leute mit Hunden und | |
| Kindern. | |
| Mein zweites Ziel ist das Haus des Arztes. Es wurde in der frühen | |
| Sowjetunion im konstruktivistischen Stil erbaut. Es ist ganz braun mit | |
| einer faszinierenden funktionalen Architektur. Es hat einen begrünten | |
| Außenhof, und Augenzeugen zufolge soll es sogar einen Wintergarten im | |
| Inneren geben. Für Kyjiw ist das eine ungewöhnliche Kombination, denn | |
| Pflanzen gehören hier normalerweise auf die Straße. Ich gehe unter den | |
| Bäumen des Außenhofs hindurch und berühre die Büsche. Ich würde gerne eine | |
| Zeit lang in diesem Gebäude leben, um zu wissen, dass das Leben im Zentrum | |
| von Kyjiw nichts für mich ist. Aber das ist ein Plan für die Zukunft, für | |
| das „Danach“. | |
| Mein drittes Ziel ist der Park Landscape Alley und das Museum der | |
| Geschichte der Ukraine. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick auf den | |
| Stadtteil Wozdwishenka, ein Bezirk, der mich mit seinem Kopfsteinpflaster | |
| an Lwiw erinnert. Katzen streifen über die Mauern und jemand hält sein | |
| Gesicht in den Regen. | |
| Dies ist der Ort, den ich nach langen Kurstagen aufsuchte, um über das | |
| Leben nachzudenken. Und hier traf ich mich zum ersten Mal mit Mitgliedern | |
| des Universitätschors, dem ich noch immer angehöre. | |
| Mein viertes Ziel ist die Straße zur Kyjiw-Mohyla-Akademie. Doch wenn Sie | |
| mich fragen, welches Universitätsgebäude mir in Kyiw am besten gefällt, | |
| würde ich sagen, dass es das des Kyjiwer Polytechnischen Instituts (KPI) | |
| ist. Dieses alte Gebäude mit seinen von hellen Ziegeln gesäumten Türmchen, | |
| die an manchen Stellen von Efeu überwuchert sind. Ich bin selbst | |
| überrascht, dass ich mich nicht an der KPI eingeschrieben habe … aber mein | |
| Herz gehört der Kyjiw-Mohyla-Akademie. | |
| Um vom Landscape-Alley-Park zu meiner Universität zu gelangen, kann man den | |
| Andreassteig hinuntergehen. Man kann dort mehrmals anhalten, um die | |
| Wandgemälde, den Park und die Kirche zu betrachten. Aber normalerweise | |
| renne ich wie eine Rakete hinunter und erst wenn ich das Gebäude mit seinen | |
| wilden klassizistischen Säulen vor mir sehe, merke ich, dass ich am | |
| richtigen Ort bin. | |
| Der Spirit stimmt dort einfach! Als ich an der Fassade vor einigen Jahren | |
| ein Banner hängen sah, das die Freilassung [4][des in Russland inhaftierten | |
| ukrainischen Filmregisseurs Oleh Senzow] forderte, realisierte ich, dass | |
| meine Universität für Freiheit steht und für den Kampf um sie. | |
| Sie steht für Protest und laute Rufe, wenn wir mit der illegalen | |
| Inhaftierung von Krimtataren und Ukrainern auf der Krim nicht | |
| übereinstimmen. Oder wenn die Polizei die Angriffe gegen Aktivisten nicht | |
| untersucht. Meine Uni trägt den Geruch von Revolution. | |
| Mein fünftes und letztes Ziel ist die Truchaniw-Insel, die man über eine | |
| Fußgängerbrücke erreicht. Jetzt ist sie vermint, wie alle Wälder in Kyjiw | |
| und der Region. Für mich steht die Insel für Brownies mit Freunden am | |
| Strand, für Spaziergänge am Ufer entlang, für einen wunderbaren Ausblick | |
| auf Kyjiw: Wie Autos hierhin und dorthin fahren, wie sich bei | |
| Sonnenuntergang allmählich die Lichter im Wasser des Dnipro spiegeln, | |
| während sich die Luft in Windeseile abkühlt. | |
| Für mich ist dies ein Ort der bedingungslosen Liebe und Akzeptanz. Und | |
| Kyjiw, das ist die Stadt, die mein ganzes kleines Leben ausmacht. | |
| Und während ich hier stehe und auf die andere Seite des Ufers blicke, | |
| schießt mir plötzlich eine banale Phrase durch den Kopf: „Bis du etwas | |
| verlierst, weißt du nicht, was dir wichtig ist.“ | |
| Aus dem Englischen von Anna Fastabend | |
| In dieser Serie schreiben regelmäßig [5][Ukrainerinnen] und [6][Ukrainer] | |
| über ihre Erfahrungen im Krieg. | |
| 5 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Polina Fedorenko | |
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