| # taz.de -- Streik in polnischen Internierungslagern: „Sie behandeln uns wie … | |
| > Menschen, die vor dem Ukrainekrieg nach Polen fliehen, können sich dort | |
| > frei bewegen. Andere Geflüchtete sitzen dort in Internierungslagern fest. | |
| Bild: Die Situation an der Grenze zu Belarus ist durch den Ukrainekrieg in Verg… | |
| Am Freitag vor Pfingsten kamen 22.300 [1][Menschen aus der Ukraine nach | |
| Polen, flüchtend] vor dem russischen Angriff. Seit der begann, registrierte | |
| Polen 3,82 Millionen Einreisen von Ukrainer:innen. Sie dürfen sich frei | |
| bewegen und arbeiten, Freiwillige und der Staat bieten Unterkunft. Per | |
| Smartphone können die Ankommenden eine Starthilfe des UN-Flüchtlingswerks | |
| von monatlich umgerechnet 544 Euro für eine vierköpfige Familie beantragen. | |
| Das ist nicht für alle so. Ebenfalls am Samstag meldete der polnische | |
| Grenzschutz 14 „Versuche von Grenzübertritten“ aus dem Nachbarstaat | |
| Belarus, Menschen aus Afrika und Asien. Sie werden in der Regel für viele | |
| Monate in eines von landesweit rund zehn polnischen Internierungslagern | |
| gebracht. Die Ungleichbehandlung könnte schärfer kaum sein. | |
| „Sie behandeln uns wie Tiere“, sagt der Iraner Milad am Telefon im Gespräch | |
| mit der taz. Seit Monaten sitzt er im Internierungslager von Lesznowola, | |
| rund 50 Kilometer südlich von Warschau. Anfang Mai sind hier 23 Männer in | |
| Hungerstreik getreten. Am Montag, 35 Tage später, verweigern noch 10 von | |
| ihnen – drei Kurd:innen aus der Türkei, sieben aus dem Irak – die | |
| Nahrungsaufnahme. Sie protestieren gegen die Unterbringungsbedingungen und | |
| fordern ihre Freilassung. Seit sieben Monaten sind sie im Lager, sie kamen | |
| im vergangenen Herbst über Belarus. Milad ist ihr Sprecher. | |
| Seit dem vergangenen Herbst sind die Lager mit rund 2.000 Menschen völlig | |
| überbelegt. Immer wieder traten Insassen deshalb in Hungerstreik, zuletzt | |
| gehäuft. Von einer „Welle“ sprach Ende Mai das polnische Magazin OKO.press, | |
| das Kontakt zu Streikenden in vier der Lager hält: Przemyśl, Wędrzyn, | |
| Krosno Odrzańskie und Lesznowola. Hilfsorganisationen wie das NGO-Netzwerk | |
| Grupa Granica warnen, dass die Streikenden mittlerweile in Lebensgefahr | |
| seien. | |
| ## Zwei Quadratmeter Mindestplatzbedarf pro Person | |
| Das mit europäischen Mitteln mitfinanzierte Lager in Lesznowola war | |
| ursprünglich für 73 Männer ausgelegt. Doch weil ab September 2021 plötzlich | |
| mehr Menschen kamen, senkten die polnischen Behörden den formalen | |
| Mindestplatzbedarf von drei auf zwei Quadratmeter pro Person ab. Der | |
| Europarat verlangt vier Quadratmeter „persönlichen Lebensraum“ in | |
| Gefängnissen. In Lesznowola gibt es seither offiziell 192 Plätze. | |
| In Zweierzellen wohnen nun bis zu sechs Männer. Es gebe „keine Freiheit“, | |
| die Wachen würden „zu allem, was wir wollen, Nein sagen“, sagt Milad. Als | |
| er herkam, wog er 85 Kilogramm, jetzt seien es noch 65. „Dabei esse ich.“ | |
| Doch die Zeit im Lager setze allen zu. „Die Leute kamen für ein besseres | |
| Leben hierher. Und jetzt ist ihr Leben im Gefängnis.“ Niemand wisse, wie es | |
| weitergehe, keinem werde gesagt, wann über die Asylanträge entschieden sei | |
| oder wann und ob man freikomme. | |
| Die Streikenden hätten erwogen, auch das Trinken einzustellen, sich auf | |
| Anraten von Hilfsorganisationen aber doch dagegen entschieden. | |
| Zwangsernährung gebe es nicht, berichtet Milad. „Die Wachen tun gar nichts, | |
| denen ist das egal. Sie sagen: Wenn ihr nichts esst, dann sterbt ihr eben.“ | |
| Die Männer seien mittlerweile sehr geschwächt. | |
| Ein Streikender wurde in der Nacht von vergangenem Dienstag auf Mittwoch in | |
| die Notaufnahme des Krankenhauses in Grójec gebracht. Über seinen Zustand | |
| hätten die anderen Streikenden nichts erfahren, sagt Milad. Auch NGOs und | |
| der grüne Abgeordnete Tomasz Aniśko berichten, auf Anfrage keine | |
| Informationen über den Zustand des Mannes bekommen zu haben. | |
| ## Keine Smartphones und keine Besuche für Geflüchtete | |
| Den Insassen der Lager werden Smartphones abgenommen. Handys ohne Kamera | |
| dürfen sie behalten oder sich schicken lassen. Milad bekam eines von einer | |
| polnischen Hilfsorganisation. Besuchen dürfen die Helfer:innen die | |
| Menschen in den Lagern in aller Regel nicht, Pakete zu schicken ist | |
| hingegen gestattet. So kann Milad Kontakt mit seiner Familie im Iran halten | |
| – und Informationen über den Streik weitergeben. | |
| Asylantragsteller:innen können in Polen für zunächst bis zu sechs | |
| Monate interniert werden. Von dieser Regelung machen die Behörden fast | |
| durchweg Gebrauch. Wenn das Asylverfahren bis dahin nicht entschieden ist, | |
| kann eine Verlängerung per richterlichem Beschluss angeordnet werden. Auch | |
| im Fall einer Ablehnung kann die Internierung bis zu einer möglichen | |
| Abschiebung verlängert werden. | |
| Als Russland die Ukraine überfiel, saßen alle Streikenden von Lesznowola | |
| bereits im Lager. Über die Ereignisse sind sie dennoch informiert: Im | |
| Gemeinschaftsraum gibt es einen Fernseher, wenn auch „nur mit zwei | |
| polnischen Programmen“, sagt Milad. Hinzu kommt eine Handvoll Computer, die | |
| sich rund 200 Menschen teilen müssen. Zudem, so Milad, seien viele Seiten | |
| blockiert. | |
| Doch der spärliche Zugang zu Informationen reicht, um eine Vorstellung | |
| davon zu bekommen, wie Polen in den vergangenen drei Monaten mit den | |
| ankommenden Ukrainer:innen umgegangen ist. „Was ist der Unterschied | |
| zwischen ihnen und uns?“, fragt Milad. „Warum verdienen wir nicht dieselbe | |
| Behandlung? Was ist die Rechtfertigung dafür? Das fragen sich hier alle.“ | |
| ## Durch die Behandlung der Wärter „entmenschlicht“ | |
| Bis zur Mitte des vergangenen Jahres war Polen asylmäßig praktisch ein | |
| weißer Fleck auf der Landkarte. 2020 stellten gerade mal 1.490 Menschen | |
| dort einen Asylantrag. 92 Prozent wurden abgelehnt. Die Quote dürfte | |
| derzeit ähnlich liegen. Wer gegen eine Ablehnung Berufung einlegt, muss | |
| sich auf weitere sechs Monate in Haft einstellen. | |
| [2][Amnesty International] veröffentlichte Mitte April einen auf | |
| Telefoninterviews basierenden Bericht über die Situation in den polnischen | |
| Lagern. Befragte aus Lesznowola gaben dabei an, sich durch die Behandlung | |
| der Wärter „entmenschlicht“ zu fühlen. | |
| Das Personal spreche die Gefangenen nur mit Fallnummern anstatt mit Namen | |
| an und verhänge „übermäßige Strafen, einschließlich Isolationshaft, für | |
| einfache Bitten, wie etwa um ein Handtuch oder mehr Essen“, so der | |
| Amnesty-Report. „Fast alle Befragten berichteten von durchweg respektlosem | |
| und verbal beleidigendem Verhalten, rassistischen Äußerungen und anderen | |
| Praktiken, die auf psychische Misshandlung hindeuteten.“ | |
| Milad hält sich am Telefon mit Äußerungen über die Wachen zurück. „Manche | |
| sind gut, manche nicht. Ich mache den Männern persönlich keinen Vorwurf“, | |
| sagt er. „Sie tun, was ihnen befohlen wurde.“ | |
| ## Suizidversuche und unzureichende Versorgung | |
| Der grüne Sejm-Abgeordnete Tomasz Aniśko hat beantragt, unabhängigen | |
| Psychologen Zugang zum Lager von Lesznowola zu gewähren, um mit den | |
| Streikenden zu sprechen. Ende Mai lehnte der Grenzschutz dies ab. Die | |
| Insassen würden im Lager „optimale“ medizinische und psychologische | |
| Betreuung erhalten. Das NGO-Netzwerk Grupa Granica aber berichtet von | |
| Suizidversuchen unter den Gefangenen und einer völlig unzureichenden | |
| Versorgung. | |
| Ende Mai sei ein Syrer aus dem Lager Lesznowola entlassen worden. Der Mann | |
| habe „trotz ständiger Hüftschmerzen, sichtbarer Probleme beim Gehen und | |
| wiederholter Bitten um Hilfe abgesehen von starken Schmerzmitteln keine | |
| angemessene medizinische Hilfe erhalten“; so die Grupa Granica. Nach der | |
| Entlassung habe eine MRT-Untersuchung ergeben, dass er an Hüftfrakturen und | |
| Knochennekrose litt – eine Folge der Gewalt der Grenzschützer, so die | |
| Grupa Granica. | |
| Die Lage an der Grenze zu Belarus geriet wegen des Ukrainekonflikts aus dem | |
| Blick, weniger dramatisch wurde sie nicht. Der „Ausnahmezustand“ in dem | |
| Grenzstreifen soll wohl bis Ende des Jahres verlängert werden. Die Folge: | |
| Beobachter und Hilfsorganisationen dürfen das Gebiet nicht betreten. Erst | |
| am Samstag wurde die Leiche einer 50-jährigen Syrerin auf dem Grenzstreifen | |
| gefunden, die zuvor von den polnischen Behörden zurückgeschoben worden war. | |
| Seit dem vergangene Herbst starben Dutzende Flüchtlinge völlig entkräftet | |
| in den Wäldern. | |
| Der polnische Grenzschutz berichtet völlig ungerührt, dass er praktisch | |
| permanent Menschen nach Belarus zurückschiebt. Dabei hat erst am 27. Mai | |
| das Woiwodschafts-Verwaltungsgericht in Warschau erneut entschieden, dass | |
| Pushbacks – in diesem Fall eines Jemeniten und eines Irakis im vergangenen | |
| November – illegal sind. Polen setzt indes darauf, dass die Grenze künftig | |
| gar nicht mehr überschreitbar ist: Die ersten Abschnitte des 400 Kilometer | |
| langen Zauns an der Grenze zu Belarus sind fertiggestellt. | |
| 7 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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