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# taz.de -- Amnesty International in der Krise: Was tun, wenn’s brennt?
> Kaum eine Organisation schützt Menschenrechte wie Amnesty International.
> Doch zuletzt gab es Ärger. Über eine NGO auf der Suche nach sich selbst.
Die Stirnseite des Peter-Benenson-Hauses im Norden der Londoner Innenstadt
ist kurz und flach. Mit dem kleinen gelben Amnesty-Schild im Fenster sieht
der Backsteinbau aus, als hätte die Menschenrechtsgruppe einer
Kirchengemeinde hier ihre Räume. Tatsächlich erstreckt sich das Gebäude
über einen ganzen Block. Es ist der Sitz einer der größten NGOs der Welt.
Wie in einer Nachrichtenagentur laufen hier Berichte ein, über Unrecht und
Unterdrückung, aus allen Teilen des Globus. Sie werden sortiert,
aufbereitet, verdichtet.
Rajat Khosla, ein indischer Jurist, leitet Amnestys Rechercheabteilung. An
einem Freitag im April tritt er in einen fensterlosen Besprechungsraum, er
trägt Pullunder und Sakko, legt das Handy zur Seite. Der Ukrainekrieg
bestimmt seine Tage. Schneller, grundsätzlicher als je zuvor verurteilte
die NGO die russische Aggression, bezeichnete sie als „offenkundigen
Verstoß gegen die UN-Charta“. Schon am Tag nach Kriegsbeginn dokumentierte
Amnesty Kriegsverbrechen Russlands, beklagte „wahllose Angriffe auf
Wohngebiete und Objekte wie Krankenhäuser“. Bald darauf startete Amnesty
eine Kampagne mit dem Titel „Stoppt die russische Invasion!“.
Überparteilichkeit, Neutralität, ist eins der „Kernprinzipien“, auf die
Amnesty sich selbst verpflichtet hat. Was bedeutet es in einem solchen
Fall, in dem so eindeutig geklärt ist, wer Täter und wer Opfer ist?
Es sei kompliziert, sagt Khosla. „Wir halten dieses Prinzip sehr hoch, es
verleiht unserer Kritik Legitimität. Gleichzeitig fühlen wir, dass wir die
Illegalität der russischen Angriffe benennen müssen und nicht schweigen
können.“
Nach seiner Gründung kümmerte Amnesty sich fast ausschließlich um
Folteropfer und politische Gefangene. Heute sind die Pressemitteilungen in
72 Themen unterteilt, darunter „Handel“, „Slums“ oder „Ehrenmorde“.…
Organisation ist politischer geworden und muss gleichzeitig mit negativen
Schlagzeilen kämpfen: Nach Suiziden zweier Beschäftigter 2018 ist von einem
„toxischen Arbeitsklima“ die Rede. Als im Februar 2022 [1][ein Bericht zu
„Apartheid“ in Israel erscheint], werfen viele Amnesty Antisemitismus vor.
Der Gründer Peter Benenson – ein britischer Anwalt, Jude und Sozialdemokrat
– hatte 1961 die erste Brief-Solidaritätsaktion für zwei inhaftierte
portugiesische Studenten gestartet. Er stieß auf enorme Resonanz, Amnesty
wuchs rasch. Seither lebt die NGO von ihrer Basis: Ortsgruppen, mit
regelmäßigen Treffen von Freiwilligen, die sich in Fußgängerzonen stellen,
Unterschriften sammeln und Diktatoren Postkarten schreiben. Mit ihren
Spenden finanzieren sie einen professionellen Apparat von
Rechercheur:innen, Referent:innen, Öffentlichkeitsarbeiter:innen, auf
nationaler und internationaler Ebene.
Mit der Überparteilichkeit war es anfangs leichter: Niemand sollte wegen
Meinungsäußerungen eingesperrt, niemand gefoltert werden dürfen, der Rest
spielte keine Rolle. Als „Gefangenenhilfsorganisation“ sei Amnesty oft
vorgestellt worden, sagt Barbara Lochbihler, ab 1999 [2][zehn Jahre lang
Generalsekretärin] der deutschen Amnesty-Sektion.
Das ist vorbei. Als Lochbihlers Nachfolger Markus N. Beeko Ende März in
Berlin [3][den jüngsten Amnesty-Jahresbericht] vorstellt, wirft er den
Industriestaaten vor, die Entwicklungsländer beim Wiederaufbau nach Corona
betrogen zu haben – [4][eine „bittere Enttäuschung“, so Beeko]. Er
kritisiert das „weltweit verbreitete Wegducken“, weil die
Staatengemeinschaft Russland nicht schon viel früher mit harten Sanktionen
an weiteren Aggressionen gehindert habe. Er prangert an, dass
Pharmakonzerne Covid-Impfstoffe lieber an Industriestaaten liefern würden
als an Entwicklungsländer.
All das berührt Verstöße gegen die Menschenrechtscharta, keine Frage. Doch
dass Amnesty heute so politisch auftritt – und austeilt –, ist Folge eines
jahrzehntelangen Prozesses.
Eine Rolle dabei spielt der australische Völkerrechtler Philip Alston. In
den 1990er Jahren war er Vorsitzender des UN-Sozialausschusses. Heute ist
er 72 und lehrt an der New York University. „Wer nicht glaubt, dass es ein
Recht auf Nahrung, Wohnung und Bildung gibt, der hat eine ziemlich bizarre
Vorstellung von Menschenrechten“, sagt Alston der taz.
Das warf er Amnesty schon früh vor. Als die NGO 1991 ihren 30. Geburtstag
feierte, bat die australische Sektion Alston um einen Gastbeitrag für eine
Serie in Australiens größter Tageszeitung. Alston schrieb, Amnestys
Menschenrechtskonzept sei „unangemessen selektiv“ und „meilenweit davon
entfernt, alle Menschenrechte anzuerkennen“. Für Hunger, die
Gesundheitsversorgung oder Bildungsmöglichkeiten interessiere Amnesty sich
nicht – müsste es aber: Amnesty sei „größer, reicher, besser organisiert,
repräsentativer und einflussreicher als die meisten anderen Gruppen
zusammengenommen“. Und mit diesem Einfluss gehe Verantwortung einher, so
Alston. Doch Amnesty war damals noch nicht so weit. „Die australische
Sektion schrieb mir, dass für meinen Text leider kein Platz mehr sei“, sagt
Alston.
In der Erklärung der Menschenrechte von 1948 sind bürgerliche Rechte wie
Redefreiheit und soziale Rechte wie das Recht auf Nahrung gleichberechtigt.
Doch die Erklärung ist unverbindlich. Erst 1966 einigten sich die Vereinten
Nationen auf verbindliche Regeln. Die aber wurden dabei aufgeteilt: auf den
Zivilpakt zu liberalen Freiheitsrechten. Und auf den Sozialpakt, für die
sozio-ökonomischen Rechte.
„Dahinter stand eine ideologische Auseinandersetzung zwischen dem Westen
und dem Ostblock“, sagt die Völkerrechtlerin Elif Askin von der Universität
Zürich. Sie hat die Geschichte der sozialen Menschenrechte erforscht. „Der
Westen wollte die sozialen Rechte nicht als echte Menschenrechte, sondern
bloß als ‚Programmsätze‘ anerkennen.“ Die kommunistischen Staaten sahen
dies anders. Eine Einigung gab es nicht. Amnesty trug die Unterscheidung
noch über zwei Jahrzehnte faktisch mit.
Erst in den 1990er Jahren setzt ein Umdenken ein. Der damalige
Generalsekretär Pierre Sané, ein Senegalese, erzählt aus dieser Zeit, er
habe sich bei einem seiner Besuche in einem afrikanischen Land über die
Bedingungen in den Gefängnissen beklagt. Daraufhin habe ihm der Präsident
geantwortet: „Dann schauen Sie mal, wie es erst in unseren Dörfern
aussieht.“
Damals deutete einiges darauf hin, dass die Globalisierung zu einer
weltweiten Zunahme von Armut führen würde, sagt Barbara Lochbihler, die
ehemalige deutsche Generalsekretärin. „Die Frage war: Muss Amnesty sich
dann nicht modernisieren und an der Seite jener stehen, deren
wirtschaftlichen Rechte am stärksten verletzt werden?“ Viele nationale
Sektionen sahen es so, die Deutschen hatten Bedenken. „Wenn ich mir
vornehme, Kampagnen zu so vielen neuen Themen zu machen – gelingt mir
das?“, das war die Frage, erinnert sich Lochbihler. Die Erweiterung der
Recherche auf so viele neue Felder würde mindestens die doppelten Mittel
erfordern. Woher sollte das Geld kommen?
Andere glaubten, die Erweiterung des Statuts würde der Sache der
politischen Gefangenen Aufmerksamkeit entziehen. Und wieder andere
fürchteten, auch darüber sprechen zu müssen, welches Wirtschaftssystem
eigentlich das Richtige sei – ein für bis dahin geltende
Neutralitätsvorstellungen unerhörter Gedanke.
Die Diskussion nahm ihr Ende in Dakars Hauptstadt Senegal, im Hotel Ngor,
einem staatssozialistisch anmutenden Klotz an der Spitze der Halbinsel
Yoff. Im August 2001 trafen sich dort die Amnesty-Delegierten zur
Hauptversammlung. Senegals damaliger Präsident Abdoulaye Wade durfte die
Eröffnungsrede halten, obwohl Amnesty ihm selbst in jenem Jahr einen
erklecklichen Katalog von Menschenrechtsverstößen vorhält. Zu allem
Überfluss fiel die Kühlung der Hotelküche aus, Delegierte handelten sich
teils schwere Lebensmittelvergiftungen ein. Aber die Abstimmung über das
neue Statut fand statt. Die deutsche Delegation um Lochbihler stimmte nicht
dafür, die meisten anderen schon. Amnesty erweiterte sein Mandat auf die
sozialen Menschenrechte.
Nur zwei Wochen später verübten Terroristen die Anschläge vom 11.
September. Der „Krieg gegen den Terror“ begann, die USA errichteten das
Gefangenenlager Guantánamo. Die in Dakar gewählte Amnesty-Generalsekretärin
Irene Khan nannte es damals „den Gulag unserer Tage“. Das habe wütende
Reaktionen gegeben, erinnert sie sich heute. „Im Westen hieß es, wir sind
zu weit gegangen. Aber es gab immer wen, der fand, dass Amnesty dieses oder
jenes nicht hätte sagen sollen“, sagt Khan, die aus Bangladesch stammt und
die erste Frau und erste Muslima an der Spitze von Amnesty war. Heute ist
sie UN-Beauftragte für Meinungsfreiheit. „Amnesty wurde schon vor dem neuen
Statut nie wirklich als neutral gesehen, das war eine Illusion“, sagt Khan.
„Die kommunistischen Staaten hielten uns für eine Tarnorganisation der CIA,
im Westen beschuldigte man uns, Kommunisten zu sein.“
Der Krieg gegen den Terror änderte vieles. „Die Menschenrechte wurden auf
null gestellt“, sagt Barbara Lochbihler. „Wir mussten uns darauf anpassen
und gleichzeitig das neue Mandat erfüllen.“ Das dauerte. Erst 2004 gab es
die erste daraus folgende Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen.
Wer die Menschenrechtscharta ernst nimmt, wird heute in fast jedem Land so
uferlos viele Verstöße finden, dass sie praktisch nicht zu erfassen sind.
Amnesty versucht es trotzdem. Die NGO ergreift heute Partei für Frauen, die
nicht abtreiben dürfen, für zwangsgeräumte Mieter:innen, für in Lager
gesperrte Flüchtende und Opfer des Klimawandels. Sie äußert sich zu
Rassismus bei der deutschen Polizei oder sozialer Ungleichheit in den USA.
Und zum Nahostkonflikt. Am 2. Februar diesen Jahres erscheint „Israel’s
Apartheid against Palestinians“, ein 280 Seiten starker Bericht, für den
Amnesty von 2017 bis 2021 recherchiert hat. Israel setze „Militärherrschaft
als zentrales Instrument ein, um sein System der Unterdrückung und
Herrschaft über die Palästinenser auf beiden Seiten der Grünen Linie zu
etablieren“, heißt es darin. Unter dem Deckmantel der Aufrechterhaltung der
Sicherheit Israels würden Palästinenser enteignet.
Der Recherchedirektor Rajat Khosla und die Generalsekretärin Agnès
Callamard reisen für die Präsentation des Berichts, den die israelische
Regierung verhindern wollte, nach Ost-Jerusalem. „Wir haben festgestellt,
dass Israels grausame Politik der Segregation, Enteignung und Ausgrenzung
in all seinen kontrollierten Gebieten eindeutig Apartheid gleichkommt“,
sagt Callamard dort.
[5][Empörte Reaktionen folgen], zumindest in einigen Teilen der Welt.
Israels Außenminister Jair Lapid nennt Amnesty eine „radikale
Organisation“, die „dieselben Lügen zitiert, die von Terrororganisationen
verbreitet werden“. Das Auswärtige Amt verteidigt Israel. „Wer Amnesty
spendet, fördert Antisemitismus“, schreibt der FDP-Außenpolitiker Alexander
Lambsdorff [6][auf Twitter].
Auch ein Teil der Mitarbeiter:innen ist entsetzt. Lea De Gregorio war
Volontärin, später Redakteurin beim Amnesty Journal in Berlin. Sie habe
sehr gern dort gearbeitet, sagt sie, viele sehr engagierte Menschen
kennengelernt. „Es hat mich immer wieder total berührt, wenn ich gesehen
habe, wie Amnesty einzelne Leute unterstützt“ – etwa einst den wegen
„Staatsverleumdung“ in der DDR inhaftierten Bürgerrechtler Ronald
Brauckmann. Der nennt Amnesty eine „Legende“. De Gregorio porträtierte ihn,
weil Brauckmann sich heute für nordkoreanische Gefangene einsetzt. De
Gregorio interviewte auch die 2021 attackierte ukrainische
LGBTIQ-Aktivistin Vitalina Koval. „Weltweit unterstützt zu werden, ist ein
unbeschreibliches Gefühl“, sagt diese. Solche Dinge gaben De Gregorio das
Gefühl, dass sie ihre Arbeitskraft am richtigen Ort einsetzt.
Der Apartheid-Bericht ändert das. De Gregorio nennt ihn „Israel-Bashing“.
Gerade angesichts der jüngsten antisemitischen Demonstrationen dürfe eine
so renommierte Organisation sich in der Nahostfrage „nicht so eng auf eine
Seite schlagen“, sagt De Gregorio. Der Bericht erfülle alle drei Kriterien
des israelbezogenen Antisemitismus: Dämonisierung, Delegitimierung des
Staates und die Anwendung von Doppelstandards auf Israel. Sie sei
schockiert, dass sich eine Organisation, die ansonsten so wichtige Arbeit
leistet, sich mit dem Bericht selbst „disqualifiziert“ habe. Seither
arbeitet sie als freie Journalistin, auch wieder für die taz, wo sie schon
2017 Praktikantin war.
Sie habe die Erfahrung gemacht, dass Israel vor allem für die deutsche
Sektion ein schwieriges Thema sei, sagt die Ex-Generalsekretärin Barbara
Lochbihler. „Als deutsche Sektion war es egal, was man anspricht – Amnesty
wurde als antisemitisch hingestellt.“ Sie habe jeder Aussage zu Israel die
Worte „Wie mein Kollege in Tel Aviv auch sagt“ vorangeschickt. Genützt habe
es nichts. Außerhalb der deutschen Sektion sei dies aber weniger
ausgeprägt.
In der Londoner Zentrale weist man die Kritik an dem Bericht denn auch
zurück. Dort twittert man weiter über „Apartheid“. Amnesty habe „Jahre …
dem Bericht gearbeitet, das zeigt unsere Ernsthaftigkeit“, sagt Rajat
Khosla. Die Kritiker hingegen hätten sich meist nicht einmal die Zeit
genommen, die 280 Seiten zu lesen, sondern seien nur auf den Begriff
„Apartheid“ angesprungen – den Amnesty allerdings selbst in der Überschr…
verwendet. „Wir wollen zeigen, wie Israels Regierung ein System der
Unterdrückung und Dominanz aufgebaut hat, um das Leben der Palästinenser zu
beeinflussen. Wir müssen das benennen, für uns ist das sehr klar“, sagt
Khosla. Es sei „unglücklich, dass die harschen Kommentare die Evidenz
unserer Recherchen zu untergraben versuchen“.
Es ist nicht die einzige Krise, mit der Amnesty zuletzt einen Umgang finden
musste. Am 25. Mai 2018 wurde der Mauretanier Gaëtan Mootoo, seit 32 Jahren
als Westafrika-Rechercheur in Amnestys Diensten, im Pariser Amnesty-Büro
aufgefunden. Er tötete sich im Alter von 66 Jahren. Elf Tage später
erschienen die ersten Presseberichte über den Grund: Unerträgliche
Arbeitsbelastung, steht darin.
Nur fünf Wochen später, am 1. Juli 2018, starb die 28-jährige Rosalind
McGregor in einem Londoner Krankenhaus. Sie hatte in der Wohnung ihrer
Eltern einen Suizidversuch unternommen. Zuvor war sie neun Monate lang
Amnesty-Praktikantin in Mexiko-Stadt und Genf. In den Tagen vor ihrem Tod
zeigte sie Anzeichen einer Psychose sowie einer Angst- und Schlafstörung.
Seit zwei Jahrzehnten prangert Amnesty schlechte Arbeitsbedingungen an: in
Pflegeheimen in den USA, für Hausangestellte und Bauarbeiter in Katar oder
für Palmöl-Ernter in Indonesien. Und dann das: Bei Amnesty schuftet man
sich zu Tode – das ist der Tenor in den Medien.
Dass McGregors Tod wohl nicht in Zusammenhang mit ihren Praktika stand,
nützt Amnesty da nichts. „Ich bin überzeugt, dass es keinen Beweis dafür
gibt, dass die Arbeit für Amnesty zu ihrem Tod beigetragen hat“, sagt die
Ärztin, die McGregor zuletzt behandelte. „Ich konnte keinen groben Verstoß
gegen die Sorgfaltspflicht von Amnesty feststellen“, schreibt eine
Psychologin von der US-Beraterfirma Konterra. Amnesty hatte diese mit einer
Untersuchung der beiden Suizide beauftragt. Die Arbeitsbelastung McGregors
sei normal gewesen, heißt es in dem Gutachten. Nur einige Formalitäten wie
Arbeitszeiterfassung habe das Genfer Büro „nicht perfekt“ gehandhabt.
Bei Mootoo sieht die Sache anders aus. Im September 2020 [7][berichtete die
Times], dass Mootoos Angehörige 800.000 britische Pfund von Amnesty
bekommen haben – dafür aber zusichern müssen, nicht mit der Presse über die
Sache zu sprechen. Ein Dementi gab es von Amnesty nicht.
In einem weiteren Konterra-Gutachten zu den Beschäftigungsbedingungen kommt
Amnesty nicht gut weg. Von „außergewöhnlichem Stress“ und „toxischen
Arbeitsbedingungen“ ist zu lesen. Generalsekretär Kumi Naidoo entlässt fast
die gesamte Generaldirektion. Doch die Suizide und die Vokabel „toxisch“
lasten schwer auf der Organisation. Naidoo, der erst kurz zuvor mit viel
Vorschusslorbeeren von Greenpeace zu Amnesty gewechselt war, schmeißt nach
einem Jahr wieder hin. Auch andere Führungsleute verlassen Amnesty – zur
Konkurrenz Human Rights Watch.
Konterra schlägt einen 14-Punkte-Plan vor, um „Vertrauen und Sicherheit
wiederherzustellen“. Rajat Khosla gehört zu denen, die ihn ausführen
müssen, als er im September 2020 zu Amnesty kommt. „Wir haben vieles
umgesetzt, aber es bleibt noch eine Menge zu tun und zu reflektieren“, sagt
er. Ein Problem dabei sei der Stress, der die Beschäftigung mit schweren
Menschenrechtsverletzungen mit sich bringt: „Traumata zweiter Hand –
darunter leiden viele.“ Viele NGOs hätten das Problem vernachlässigt und zu
wenig in psychologische Unterstützungsstrukturen investiert. Mittlerweile
sei das anders. Amnesty biete entsprechende Programme an. „Supergut“ seien
die Arbeitsbedingungen in ihrem Team gar gewesen, sagt Lea De Gregorio, die
Ex-Redakteurin.
Wer heute einen Blick auf die Amnesty-Website wirft, bekommt beeindruckende
Meldungen zu sehen: Minderjährige Flüchtlinge, die ein Aufenthaltsrecht in
Europa bekommen, die Legalisierung von Abtreibungen in Kolumbien,
freigelassene Menschenrechtler in Honduras – Hunderte solcher
Erfolgsgeschichten, die in Zusammenhang mit Amnesty-Kampagnen stehen, sind
gelistet. Hatten also jene, die fürchteten, Amnesty könnte sich übernehmen,
unrecht?
Die Frage, welches Wirtschaftssystem das Richtige sei, beantwortet Amnesty
auch jetzt nicht. Auf die Einhaltung der sozialen Menschenrechte drängt die
NGO aber durchaus. Im April etwa startete die österreichische Sektion die
Kampagne „Wohnen ist (D)ein Menschenrecht“. Österreich hat den
UN-Sozialpakt ratifiziert. Das Land komme seiner daraus folgenden
Verpflichtung aber nicht nach, kritisiert Amnesty. Mehr indes kann es kaum
tun, denn klagen lässt sich dagegen nur schlecht. Das liegt auch daran,
dass offen ist, wo die Verantwortung des Individuums genau endet und wo
jene beginnt, die die sozialen Menschenrechte den Staaten auferlegen. „Eine
konkrete Antwort darauf gibt es noch nicht“, sagt Elif Askin, die Züricher
Juristin.
Amnesty schloss die sozialen Menschenrechte erst spät in sein Mandat ein.
Danach aber lahmte die Rechtsetzung selbst. Die UNO einigte sich zwar schon
1966 auf den Sozialpakt. Doch das „Fakultativprotokoll“, das klären soll,
wie soziale Rechte durchgesetzt werden sollen, trat erst 2013 in Kraft.
Deutschland und viele andere Länder haben es bis heute nicht ratifiziert.
Bürger:innen von Staaten, die das getan haben, können sich vor dem
UN-Sozialausschuss beschweren, wenn ihre sozialen Rechte verletzt werden.
Andere nicht.
Philip Alston, der Völkerrechtler, gibt dafür auch den Menschenrechts-NGOs
eine Mitverantwortung. Zu mutlos seien die an die Sache herangegangen. „Die
schauen bis heute vor allem auf Diskriminierung: Wenn in den USA Latinos
auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden, dann tun sie etwas“, sagt
Alston. „Wenn aber die Regierung sagt: ‚Wir scheren uns überhaupt nicht
darum, von uns aus können alle auf der Straße leben‘, dann melden die NGOs
sich nicht, weil ja keine bestimmte Gruppe diskriminiert wird.“ Interessant
werde es erst, wenn man die Verpflichtungen des Staates ernst nimmt, sagt
Alston. „Dann kollidiert das mit der neoliberalen Ideologie.“
Doch auch Teilen der jüngeren Generation ist Amnesty mit seiner auf
Diplomatie und Dialog setzenden Kultur, zum Beispiel angesichts der
Klimakrise, zu zahnlos. Einer von ihnen ist Jakob Nehls, 27,
Politikwissenschaftler und Doktorand in Nürnberg, ehemals Teil des
Amnesty-Jugendvorstands. „Alle haben das Klimathema verpennt, Amnesty
auch“, sagt er. Dabei sei die Klimakrise ein „Angriff auf alle
Menschenrechte“. So wie das Amnesty-Mandat einst um die sozialen
Menschenrechte erweitert wurde, müsse Amnesty heute mit Blick auf das Klima
verfahren. Eine Gruppe um Nehls hat dazu eine „Koordinationsgruppe
Klimakrise“ bei Amnesty aufgebaut, die das Thema mittlerweile systematisch
bearbeitet. „Aber das war ein langer Kampf“, sagt Nehls. „Wir haben viel
Kontra gekriegt, viel internen Widerstand, viele Tiefpunkte erlebt. Viele
sind frustriert.“
Das habe mit Amnestys Struktur zu tun. „Es ist eine Riesenorganisation,
jede noch so kleine Kursänderung kostet unfassbar viel Mühe.“ Doch dafür
lasse die Dringlichkeit der Klimakrise keine Zeit, so sieht Nehls das. Er
und andere Aktivist:innen, die sozialen Bewegungen sehr nahe stehen, wollen
eine andere politische Praxis. Amnesty müsse sich als „systemhinterfragende
Organisation“ sehen, sagt Nehls: „Nicht immer nur konstruktiv sein, eine
deutlich schärfere Sprache sprechen, mehr Akzeptanz für radikale Kritik und
Aktionsformen wie zivilen Ungehorsam entwickeln.“ Stattdessen achte Amnesty
bis heute zu sehr auf formale Vorgaben. „Es wird immer gefragt: Dürfen wir
dazu was sagen? Gibt es einen entsprechenden Beschluss?“
Rajat Khosla treibt indes um, dass es immer weniger Regierungen gibt, die
überhaupt noch an Dialog interessiert sind. „Unsere Arbeit war nie
einfach“, sagt er. „Aber was wir in den letzten vier Jahren erlebt haben,
hat eine völlig neue Qualität.“ Das Schlagwort lautet „Shrinking Space“…
ein in den vergangenen Jahren etablierter Begriff, der schrumpfende
Handlungsräume für die Zivilgesellschaft beschreibt, für Journalist:innen,
Gewerkschafter:innen oder eben Menschenrechtsverteidiger:innen. „Wir
beobachten in den vergangenen Jahren einen noch nie dagewesenen Anstieg der
Zahl von Demagogen in Regierungen.“
Einen Grund dafür sieht Khosla in der wachsenden sozialen Ungleichheit.
„Kaum eine Regierung hat dagegen etwas unternommen“, sagt er. Davon
profitierten nun Populisten. Und die sähen die Zivilgesellschaft als
„direkte Gefahr für ihre nationalistische Agenda“. Nach Khoslas Zählung
haben allein 2021 insgesamt 67 Staaten – also jeder Dritte auf der Welt –
neue Gesetze erlassen, um die Redefreiheit einzuschränken.
Aus Indien musste Amnesty sich 2020 zurückziehen, weil die Regierung alle
Konten eingefroren hat. Hongkong habe 2020 ein neues Sicherheitsgesetz
erlassen, das Amnestys Arbeit dort „völlig unmöglich“ gemacht habe. Und
nicht nur die Regierungen machen Khosla zu schaffen: „Es gibt einen klaren
Trend, dass private Unternehmen mit gezielten Klagen versuchen, Kritiker
und Proteste gegen ihre Geschäfte zu stoppen.“
Am 6. Mai sitzt Khosla auf einer Pressekonferenz in Kiew. Die globale
Amnesty-Führungsriege ist dorthin gereist, um zu präsentieren, was ihre
Rechercheur:innen in den vergangenen Wochen zusammengetragen haben. Wer
sich fragt, was „tatsächlich“ geschehen ist in der Ukraine, der bekommt
hier Antworten. Khosla überlässt seiner Direktorin das Wort. 45
Zeug:innen rechtswidriger Tötung ihrer Verwandten durch russische
Soldaten, 39 Zeug:innen von Luftangriffen auf Wohngebäude hat Amnesty
befragt. Der Befund: „Kriegsverbrechen“, kein Zweifel.
Kaum jemand inventarisiert das Unrecht in der Welt bis heute so wie
Amnesty. Das ist kein Selbstzweck, es soll dazu beitragen, dass die
Menschenrechte geachtet werden, so umfassend wie möglich. Aber wie? Was ist
heute die Lehre, der Fluchtpunkt, hinter den Jahrzehnten von Kampagnen,
Recherchen, Berichten, „Urgent Actions“? Was ist Amnestys Strategie?
Hoffnung geben ihm Länder wie Belarus oder Sudan, sagt Rajat Khosla.
Länder, in denen die Menschen gegen Unterdrückung auf die Straße gehen,
Veränderung einfordern. „Das ist spektakulär“, sagt er. „Führung über…
heute oft eher die Menschen auf der Straße als jene an der Macht.“
Die Zivilgesellschaft, deren Handlungsmöglichkeiten an vielen Stellen
schrumpfen, muss sich selbst ermächtigen, das ist die eine Antwort.
Die andere Antwort gibt Deutschlands Amnesty-Direktor Markus N. Beeko. Ende
April ist er Gast auf dem taz Lab. Es geht um „Krieg und Frieden“, um die
Ukraine vor allem, aber nicht nur. Beeko holt weiter aus, kommt auch auf
andere Dinge zu sprechen, die die Menschenrechte ihrer Geltung berauben.
Was letztlich nur helfe, sei eine „Stärkung der internationalen Ordnung“,
sagt Beeko. Über den Staaten sollten gestärkte multilaterale Institutionen
stehen, dem Recht verpflichtet, willens und in der Lage, Verstöße zu
sanktionieren.
Klar sei dabei: Es seien keineswegs nur die „westlichen liberalen
Demokratien“, von denen dies ausgehen könne. Auch sie hätten in der
Vergangenheit internationale Institutionen – wie zum Beispiel den
Internationalen Strafgerichtshof – zu oft geschwächt anstatt gestärkt.
Echter Multilateralismus müsse und könne ebenso vom globalen Süden
ausgehen. Dafür müsste die internationale Ordnung aber
Menschenrechtsverstöße weltweit in gleichem Maße ahnden. Nur so seien
Regierungen wirksam dazu zu bringen, Wohnungslosigkeit zu bekämpfen,
Flüchtlingsrechte zu achten oder Klimaschutzversprechen einzuhalten. Nur so
könnten Kriege wie jene Russlands bestraft, eine globale Strafjustiz
unterhalten werden, die Kriegsverbrecher und Folterer aburteilt.
Es ist eine plausible, aber unbefriedigende Antwort. Staaten, die ernsthaft
gewillt sind, eine solche Ordnung aufrechtzuerhalten, gibt es wenige. Und
auch die Vorstellungen, welche Rechte schützenswert sind, gehen in der Welt
heute weit auseinander. Wohl kaum jemand weiß das besser als Amnesty
selbst. Eine einfachere Antwort aber gibt es wohl nicht mehr.
15 May 2022
## LINKS
[1] https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/israel-amnesty-bericht-systemati…
[2] /Interview-mit-Amnesty-Chefin/!5169134
[3] https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/amnesty-report-2021
[4] /Jahresbericht-von-Amnesty-International/!5841616
[5] /Amnesty-unterstellt-Israel-Apartheid/!5830467
[6] https://twitter.com/Lambsdorff/status/1488546017352065028
[7] https://www.thetimes.co.uk/article/amnestys-secret-800-000-payout-after-sui…
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Christian Jakob
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mangelt es an Sensibilität und Genauigkeit.
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