# taz.de -- Amnesty International in der Krise: Was tun, wenn’s brennt? | |
> Kaum eine Organisation schützt Menschenrechte wie Amnesty International. | |
> Doch zuletzt gab es Ärger. Über eine NGO auf der Suche nach sich selbst. | |
Die Stirnseite des Peter-Benenson-Hauses im Norden der Londoner Innenstadt | |
ist kurz und flach. Mit dem kleinen gelben Amnesty-Schild im Fenster sieht | |
der Backsteinbau aus, als hätte die Menschenrechtsgruppe einer | |
Kirchengemeinde hier ihre Räume. Tatsächlich erstreckt sich das Gebäude | |
über einen ganzen Block. Es ist der Sitz einer der größten NGOs der Welt. | |
Wie in einer Nachrichtenagentur laufen hier Berichte ein, über Unrecht und | |
Unterdrückung, aus allen Teilen des Globus. Sie werden sortiert, | |
aufbereitet, verdichtet. | |
Rajat Khosla, ein indischer Jurist, leitet Amnestys Rechercheabteilung. An | |
einem Freitag im April tritt er in einen fensterlosen Besprechungsraum, er | |
trägt Pullunder und Sakko, legt das Handy zur Seite. Der Ukrainekrieg | |
bestimmt seine Tage. Schneller, grundsätzlicher als je zuvor verurteilte | |
die NGO die russische Aggression, bezeichnete sie als „offenkundigen | |
Verstoß gegen die UN-Charta“. Schon am Tag nach Kriegsbeginn dokumentierte | |
Amnesty Kriegsverbrechen Russlands, beklagte „wahllose Angriffe auf | |
Wohngebiete und Objekte wie Krankenhäuser“. Bald darauf startete Amnesty | |
eine Kampagne mit dem Titel „Stoppt die russische Invasion!“. | |
Überparteilichkeit, Neutralität, ist eins der „Kernprinzipien“, auf die | |
Amnesty sich selbst verpflichtet hat. Was bedeutet es in einem solchen | |
Fall, in dem so eindeutig geklärt ist, wer Täter und wer Opfer ist? | |
Es sei kompliziert, sagt Khosla. „Wir halten dieses Prinzip sehr hoch, es | |
verleiht unserer Kritik Legitimität. Gleichzeitig fühlen wir, dass wir die | |
Illegalität der russischen Angriffe benennen müssen und nicht schweigen | |
können.“ | |
Nach seiner Gründung kümmerte Amnesty sich fast ausschließlich um | |
Folteropfer und politische Gefangene. Heute sind die Pressemitteilungen in | |
72 Themen unterteilt, darunter „Handel“, „Slums“ oder „Ehrenmorde“.… | |
Organisation ist politischer geworden und muss gleichzeitig mit negativen | |
Schlagzeilen kämpfen: Nach Suiziden zweier Beschäftigter 2018 ist von einem | |
„toxischen Arbeitsklima“ die Rede. Als im Februar 2022 [1][ein Bericht zu | |
„Apartheid“ in Israel erscheint], werfen viele Amnesty Antisemitismus vor. | |
Der Gründer Peter Benenson – ein britischer Anwalt, Jude und Sozialdemokrat | |
– hatte 1961 die erste Brief-Solidaritätsaktion für zwei inhaftierte | |
portugiesische Studenten gestartet. Er stieß auf enorme Resonanz, Amnesty | |
wuchs rasch. Seither lebt die NGO von ihrer Basis: Ortsgruppen, mit | |
regelmäßigen Treffen von Freiwilligen, die sich in Fußgängerzonen stellen, | |
Unterschriften sammeln und Diktatoren Postkarten schreiben. Mit ihren | |
Spenden finanzieren sie einen professionellen Apparat von | |
Rechercheur:innen, Referent:innen, Öffentlichkeitsarbeiter:innen, auf | |
nationaler und internationaler Ebene. | |
Mit der Überparteilichkeit war es anfangs leichter: Niemand sollte wegen | |
Meinungsäußerungen eingesperrt, niemand gefoltert werden dürfen, der Rest | |
spielte keine Rolle. Als „Gefangenenhilfsorganisation“ sei Amnesty oft | |
vorgestellt worden, sagt Barbara Lochbihler, ab 1999 [2][zehn Jahre lang | |
Generalsekretärin] der deutschen Amnesty-Sektion. | |
Das ist vorbei. Als Lochbihlers Nachfolger Markus N. Beeko Ende März in | |
Berlin [3][den jüngsten Amnesty-Jahresbericht] vorstellt, wirft er den | |
Industriestaaten vor, die Entwicklungsländer beim Wiederaufbau nach Corona | |
betrogen zu haben – [4][eine „bittere Enttäuschung“, so Beeko]. Er | |
kritisiert das „weltweit verbreitete Wegducken“, weil die | |
Staatengemeinschaft Russland nicht schon viel früher mit harten Sanktionen | |
an weiteren Aggressionen gehindert habe. Er prangert an, dass | |
Pharmakonzerne Covid-Impfstoffe lieber an Industriestaaten liefern würden | |
als an Entwicklungsländer. | |
All das berührt Verstöße gegen die Menschenrechtscharta, keine Frage. Doch | |
dass Amnesty heute so politisch auftritt – und austeilt –, ist Folge eines | |
jahrzehntelangen Prozesses. | |
Eine Rolle dabei spielt der australische Völkerrechtler Philip Alston. In | |
den 1990er Jahren war er Vorsitzender des UN-Sozialausschusses. Heute ist | |
er 72 und lehrt an der New York University. „Wer nicht glaubt, dass es ein | |
Recht auf Nahrung, Wohnung und Bildung gibt, der hat eine ziemlich bizarre | |
Vorstellung von Menschenrechten“, sagt Alston der taz. | |
Das warf er Amnesty schon früh vor. Als die NGO 1991 ihren 30. Geburtstag | |
feierte, bat die australische Sektion Alston um einen Gastbeitrag für eine | |
Serie in Australiens größter Tageszeitung. Alston schrieb, Amnestys | |
Menschenrechtskonzept sei „unangemessen selektiv“ und „meilenweit davon | |
entfernt, alle Menschenrechte anzuerkennen“. Für Hunger, die | |
Gesundheitsversorgung oder Bildungsmöglichkeiten interessiere Amnesty sich | |
nicht – müsste es aber: Amnesty sei „größer, reicher, besser organisiert, | |
repräsentativer und einflussreicher als die meisten anderen Gruppen | |
zusammengenommen“. Und mit diesem Einfluss gehe Verantwortung einher, so | |
Alston. Doch Amnesty war damals noch nicht so weit. „Die australische | |
Sektion schrieb mir, dass für meinen Text leider kein Platz mehr sei“, sagt | |
Alston. | |
In der Erklärung der Menschenrechte von 1948 sind bürgerliche Rechte wie | |
Redefreiheit und soziale Rechte wie das Recht auf Nahrung gleichberechtigt. | |
Doch die Erklärung ist unverbindlich. Erst 1966 einigten sich die Vereinten | |
Nationen auf verbindliche Regeln. Die aber wurden dabei aufgeteilt: auf den | |
Zivilpakt zu liberalen Freiheitsrechten. Und auf den Sozialpakt, für die | |
sozio-ökonomischen Rechte. | |
„Dahinter stand eine ideologische Auseinandersetzung zwischen dem Westen | |
und dem Ostblock“, sagt die Völkerrechtlerin Elif Askin von der Universität | |
Zürich. Sie hat die Geschichte der sozialen Menschenrechte erforscht. „Der | |
Westen wollte die sozialen Rechte nicht als echte Menschenrechte, sondern | |
bloß als ‚Programmsätze‘ anerkennen.“ Die kommunistischen Staaten sahen | |
dies anders. Eine Einigung gab es nicht. Amnesty trug die Unterscheidung | |
noch über zwei Jahrzehnte faktisch mit. | |
Erst in den 1990er Jahren setzt ein Umdenken ein. Der damalige | |
Generalsekretär Pierre Sané, ein Senegalese, erzählt aus dieser Zeit, er | |
habe sich bei einem seiner Besuche in einem afrikanischen Land über die | |
Bedingungen in den Gefängnissen beklagt. Daraufhin habe ihm der Präsident | |
geantwortet: „Dann schauen Sie mal, wie es erst in unseren Dörfern | |
aussieht.“ | |
Damals deutete einiges darauf hin, dass die Globalisierung zu einer | |
weltweiten Zunahme von Armut führen würde, sagt Barbara Lochbihler, die | |
ehemalige deutsche Generalsekretärin. „Die Frage war: Muss Amnesty sich | |
dann nicht modernisieren und an der Seite jener stehen, deren | |
wirtschaftlichen Rechte am stärksten verletzt werden?“ Viele nationale | |
Sektionen sahen es so, die Deutschen hatten Bedenken. „Wenn ich mir | |
vornehme, Kampagnen zu so vielen neuen Themen zu machen – gelingt mir | |
das?“, das war die Frage, erinnert sich Lochbihler. Die Erweiterung der | |
Recherche auf so viele neue Felder würde mindestens die doppelten Mittel | |
erfordern. Woher sollte das Geld kommen? | |
Andere glaubten, die Erweiterung des Statuts würde der Sache der | |
politischen Gefangenen Aufmerksamkeit entziehen. Und wieder andere | |
fürchteten, auch darüber sprechen zu müssen, welches Wirtschaftssystem | |
eigentlich das Richtige sei – ein für bis dahin geltende | |
Neutralitätsvorstellungen unerhörter Gedanke. | |
Die Diskussion nahm ihr Ende in Dakars Hauptstadt Senegal, im Hotel Ngor, | |
einem staatssozialistisch anmutenden Klotz an der Spitze der Halbinsel | |
Yoff. Im August 2001 trafen sich dort die Amnesty-Delegierten zur | |
Hauptversammlung. Senegals damaliger Präsident Abdoulaye Wade durfte die | |
Eröffnungsrede halten, obwohl Amnesty ihm selbst in jenem Jahr einen | |
erklecklichen Katalog von Menschenrechtsverstößen vorhält. Zu allem | |
Überfluss fiel die Kühlung der Hotelküche aus, Delegierte handelten sich | |
teils schwere Lebensmittelvergiftungen ein. Aber die Abstimmung über das | |
neue Statut fand statt. Die deutsche Delegation um Lochbihler stimmte nicht | |
dafür, die meisten anderen schon. Amnesty erweiterte sein Mandat auf die | |
sozialen Menschenrechte. | |
Nur zwei Wochen später verübten Terroristen die Anschläge vom 11. | |
September. Der „Krieg gegen den Terror“ begann, die USA errichteten das | |
Gefangenenlager Guantánamo. Die in Dakar gewählte Amnesty-Generalsekretärin | |
Irene Khan nannte es damals „den Gulag unserer Tage“. Das habe wütende | |
Reaktionen gegeben, erinnert sie sich heute. „Im Westen hieß es, wir sind | |
zu weit gegangen. Aber es gab immer wen, der fand, dass Amnesty dieses oder | |
jenes nicht hätte sagen sollen“, sagt Khan, die aus Bangladesch stammt und | |
die erste Frau und erste Muslima an der Spitze von Amnesty war. Heute ist | |
sie UN-Beauftragte für Meinungsfreiheit. „Amnesty wurde schon vor dem neuen | |
Statut nie wirklich als neutral gesehen, das war eine Illusion“, sagt Khan. | |
„Die kommunistischen Staaten hielten uns für eine Tarnorganisation der CIA, | |
im Westen beschuldigte man uns, Kommunisten zu sein.“ | |
Der Krieg gegen den Terror änderte vieles. „Die Menschenrechte wurden auf | |
null gestellt“, sagt Barbara Lochbihler. „Wir mussten uns darauf anpassen | |
und gleichzeitig das neue Mandat erfüllen.“ Das dauerte. Erst 2004 gab es | |
die erste daraus folgende Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen. | |
Wer die Menschenrechtscharta ernst nimmt, wird heute in fast jedem Land so | |
uferlos viele Verstöße finden, dass sie praktisch nicht zu erfassen sind. | |
Amnesty versucht es trotzdem. Die NGO ergreift heute Partei für Frauen, die | |
nicht abtreiben dürfen, für zwangsgeräumte Mieter:innen, für in Lager | |
gesperrte Flüchtende und Opfer des Klimawandels. Sie äußert sich zu | |
Rassismus bei der deutschen Polizei oder sozialer Ungleichheit in den USA. | |
Und zum Nahostkonflikt. Am 2. Februar diesen Jahres erscheint „Israel’s | |
Apartheid against Palestinians“, ein 280 Seiten starker Bericht, für den | |
Amnesty von 2017 bis 2021 recherchiert hat. Israel setze „Militärherrschaft | |
als zentrales Instrument ein, um sein System der Unterdrückung und | |
Herrschaft über die Palästinenser auf beiden Seiten der Grünen Linie zu | |
etablieren“, heißt es darin. Unter dem Deckmantel der Aufrechterhaltung der | |
Sicherheit Israels würden Palästinenser enteignet. | |
Der Recherchedirektor Rajat Khosla und die Generalsekretärin Agnès | |
Callamard reisen für die Präsentation des Berichts, den die israelische | |
Regierung verhindern wollte, nach Ost-Jerusalem. „Wir haben festgestellt, | |
dass Israels grausame Politik der Segregation, Enteignung und Ausgrenzung | |
in all seinen kontrollierten Gebieten eindeutig Apartheid gleichkommt“, | |
sagt Callamard dort. | |
[5][Empörte Reaktionen folgen], zumindest in einigen Teilen der Welt. | |
Israels Außenminister Jair Lapid nennt Amnesty eine „radikale | |
Organisation“, die „dieselben Lügen zitiert, die von Terrororganisationen | |
verbreitet werden“. Das Auswärtige Amt verteidigt Israel. „Wer Amnesty | |
spendet, fördert Antisemitismus“, schreibt der FDP-Außenpolitiker Alexander | |
Lambsdorff [6][auf Twitter]. | |
Auch ein Teil der Mitarbeiter:innen ist entsetzt. Lea De Gregorio war | |
Volontärin, später Redakteurin beim Amnesty Journal in Berlin. Sie habe | |
sehr gern dort gearbeitet, sagt sie, viele sehr engagierte Menschen | |
kennengelernt. „Es hat mich immer wieder total berührt, wenn ich gesehen | |
habe, wie Amnesty einzelne Leute unterstützt“ – etwa einst den wegen | |
„Staatsverleumdung“ in der DDR inhaftierten Bürgerrechtler Ronald | |
Brauckmann. Der nennt Amnesty eine „Legende“. De Gregorio porträtierte ihn, | |
weil Brauckmann sich heute für nordkoreanische Gefangene einsetzt. De | |
Gregorio interviewte auch die 2021 attackierte ukrainische | |
LGBTIQ-Aktivistin Vitalina Koval. „Weltweit unterstützt zu werden, ist ein | |
unbeschreibliches Gefühl“, sagt diese. Solche Dinge gaben De Gregorio das | |
Gefühl, dass sie ihre Arbeitskraft am richtigen Ort einsetzt. | |
Der Apartheid-Bericht ändert das. De Gregorio nennt ihn „Israel-Bashing“. | |
Gerade angesichts der jüngsten antisemitischen Demonstrationen dürfe eine | |
so renommierte Organisation sich in der Nahostfrage „nicht so eng auf eine | |
Seite schlagen“, sagt De Gregorio. Der Bericht erfülle alle drei Kriterien | |
des israelbezogenen Antisemitismus: Dämonisierung, Delegitimierung des | |
Staates und die Anwendung von Doppelstandards auf Israel. Sie sei | |
schockiert, dass sich eine Organisation, die ansonsten so wichtige Arbeit | |
leistet, sich mit dem Bericht selbst „disqualifiziert“ habe. Seither | |
arbeitet sie als freie Journalistin, auch wieder für die taz, wo sie schon | |
2017 Praktikantin war. | |
Sie habe die Erfahrung gemacht, dass Israel vor allem für die deutsche | |
Sektion ein schwieriges Thema sei, sagt die Ex-Generalsekretärin Barbara | |
Lochbihler. „Als deutsche Sektion war es egal, was man anspricht – Amnesty | |
wurde als antisemitisch hingestellt.“ Sie habe jeder Aussage zu Israel die | |
Worte „Wie mein Kollege in Tel Aviv auch sagt“ vorangeschickt. Genützt habe | |
es nichts. Außerhalb der deutschen Sektion sei dies aber weniger | |
ausgeprägt. | |
In der Londoner Zentrale weist man die Kritik an dem Bericht denn auch | |
zurück. Dort twittert man weiter über „Apartheid“. Amnesty habe „Jahre … | |
dem Bericht gearbeitet, das zeigt unsere Ernsthaftigkeit“, sagt Rajat | |
Khosla. Die Kritiker hingegen hätten sich meist nicht einmal die Zeit | |
genommen, die 280 Seiten zu lesen, sondern seien nur auf den Begriff | |
„Apartheid“ angesprungen – den Amnesty allerdings selbst in der Überschr… | |
verwendet. „Wir wollen zeigen, wie Israels Regierung ein System der | |
Unterdrückung und Dominanz aufgebaut hat, um das Leben der Palästinenser zu | |
beeinflussen. Wir müssen das benennen, für uns ist das sehr klar“, sagt | |
Khosla. Es sei „unglücklich, dass die harschen Kommentare die Evidenz | |
unserer Recherchen zu untergraben versuchen“. | |
Es ist nicht die einzige Krise, mit der Amnesty zuletzt einen Umgang finden | |
musste. Am 25. Mai 2018 wurde der Mauretanier Gaëtan Mootoo, seit 32 Jahren | |
als Westafrika-Rechercheur in Amnestys Diensten, im Pariser Amnesty-Büro | |
aufgefunden. Er tötete sich im Alter von 66 Jahren. Elf Tage später | |
erschienen die ersten Presseberichte über den Grund: Unerträgliche | |
Arbeitsbelastung, steht darin. | |
Nur fünf Wochen später, am 1. Juli 2018, starb die 28-jährige Rosalind | |
McGregor in einem Londoner Krankenhaus. Sie hatte in der Wohnung ihrer | |
Eltern einen Suizidversuch unternommen. Zuvor war sie neun Monate lang | |
Amnesty-Praktikantin in Mexiko-Stadt und Genf. In den Tagen vor ihrem Tod | |
zeigte sie Anzeichen einer Psychose sowie einer Angst- und Schlafstörung. | |
Seit zwei Jahrzehnten prangert Amnesty schlechte Arbeitsbedingungen an: in | |
Pflegeheimen in den USA, für Hausangestellte und Bauarbeiter in Katar oder | |
für Palmöl-Ernter in Indonesien. Und dann das: Bei Amnesty schuftet man | |
sich zu Tode – das ist der Tenor in den Medien. | |
Dass McGregors Tod wohl nicht in Zusammenhang mit ihren Praktika stand, | |
nützt Amnesty da nichts. „Ich bin überzeugt, dass es keinen Beweis dafür | |
gibt, dass die Arbeit für Amnesty zu ihrem Tod beigetragen hat“, sagt die | |
Ärztin, die McGregor zuletzt behandelte. „Ich konnte keinen groben Verstoß | |
gegen die Sorgfaltspflicht von Amnesty feststellen“, schreibt eine | |
Psychologin von der US-Beraterfirma Konterra. Amnesty hatte diese mit einer | |
Untersuchung der beiden Suizide beauftragt. Die Arbeitsbelastung McGregors | |
sei normal gewesen, heißt es in dem Gutachten. Nur einige Formalitäten wie | |
Arbeitszeiterfassung habe das Genfer Büro „nicht perfekt“ gehandhabt. | |
Bei Mootoo sieht die Sache anders aus. Im September 2020 [7][berichtete die | |
Times], dass Mootoos Angehörige 800.000 britische Pfund von Amnesty | |
bekommen haben – dafür aber zusichern müssen, nicht mit der Presse über die | |
Sache zu sprechen. Ein Dementi gab es von Amnesty nicht. | |
In einem weiteren Konterra-Gutachten zu den Beschäftigungsbedingungen kommt | |
Amnesty nicht gut weg. Von „außergewöhnlichem Stress“ und „toxischen | |
Arbeitsbedingungen“ ist zu lesen. Generalsekretär Kumi Naidoo entlässt fast | |
die gesamte Generaldirektion. Doch die Suizide und die Vokabel „toxisch“ | |
lasten schwer auf der Organisation. Naidoo, der erst kurz zuvor mit viel | |
Vorschusslorbeeren von Greenpeace zu Amnesty gewechselt war, schmeißt nach | |
einem Jahr wieder hin. Auch andere Führungsleute verlassen Amnesty – zur | |
Konkurrenz Human Rights Watch. | |
Konterra schlägt einen 14-Punkte-Plan vor, um „Vertrauen und Sicherheit | |
wiederherzustellen“. Rajat Khosla gehört zu denen, die ihn ausführen | |
müssen, als er im September 2020 zu Amnesty kommt. „Wir haben vieles | |
umgesetzt, aber es bleibt noch eine Menge zu tun und zu reflektieren“, sagt | |
er. Ein Problem dabei sei der Stress, der die Beschäftigung mit schweren | |
Menschenrechtsverletzungen mit sich bringt: „Traumata zweiter Hand – | |
darunter leiden viele.“ Viele NGOs hätten das Problem vernachlässigt und zu | |
wenig in psychologische Unterstützungsstrukturen investiert. Mittlerweile | |
sei das anders. Amnesty biete entsprechende Programme an. „Supergut“ seien | |
die Arbeitsbedingungen in ihrem Team gar gewesen, sagt Lea De Gregorio, die | |
Ex-Redakteurin. | |
Wer heute einen Blick auf die Amnesty-Website wirft, bekommt beeindruckende | |
Meldungen zu sehen: Minderjährige Flüchtlinge, die ein Aufenthaltsrecht in | |
Europa bekommen, die Legalisierung von Abtreibungen in Kolumbien, | |
freigelassene Menschenrechtler in Honduras – Hunderte solcher | |
Erfolgsgeschichten, die in Zusammenhang mit Amnesty-Kampagnen stehen, sind | |
gelistet. Hatten also jene, die fürchteten, Amnesty könnte sich übernehmen, | |
unrecht? | |
Die Frage, welches Wirtschaftssystem das Richtige sei, beantwortet Amnesty | |
auch jetzt nicht. Auf die Einhaltung der sozialen Menschenrechte drängt die | |
NGO aber durchaus. Im April etwa startete die österreichische Sektion die | |
Kampagne „Wohnen ist (D)ein Menschenrecht“. Österreich hat den | |
UN-Sozialpakt ratifiziert. Das Land komme seiner daraus folgenden | |
Verpflichtung aber nicht nach, kritisiert Amnesty. Mehr indes kann es kaum | |
tun, denn klagen lässt sich dagegen nur schlecht. Das liegt auch daran, | |
dass offen ist, wo die Verantwortung des Individuums genau endet und wo | |
jene beginnt, die die sozialen Menschenrechte den Staaten auferlegen. „Eine | |
konkrete Antwort darauf gibt es noch nicht“, sagt Elif Askin, die Züricher | |
Juristin. | |
Amnesty schloss die sozialen Menschenrechte erst spät in sein Mandat ein. | |
Danach aber lahmte die Rechtsetzung selbst. Die UNO einigte sich zwar schon | |
1966 auf den Sozialpakt. Doch das „Fakultativprotokoll“, das klären soll, | |
wie soziale Rechte durchgesetzt werden sollen, trat erst 2013 in Kraft. | |
Deutschland und viele andere Länder haben es bis heute nicht ratifiziert. | |
Bürger:innen von Staaten, die das getan haben, können sich vor dem | |
UN-Sozialausschuss beschweren, wenn ihre sozialen Rechte verletzt werden. | |
Andere nicht. | |
Philip Alston, der Völkerrechtler, gibt dafür auch den Menschenrechts-NGOs | |
eine Mitverantwortung. Zu mutlos seien die an die Sache herangegangen. „Die | |
schauen bis heute vor allem auf Diskriminierung: Wenn in den USA Latinos | |
auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden, dann tun sie etwas“, sagt | |
Alston. „Wenn aber die Regierung sagt: ‚Wir scheren uns überhaupt nicht | |
darum, von uns aus können alle auf der Straße leben‘, dann melden die NGOs | |
sich nicht, weil ja keine bestimmte Gruppe diskriminiert wird.“ Interessant | |
werde es erst, wenn man die Verpflichtungen des Staates ernst nimmt, sagt | |
Alston. „Dann kollidiert das mit der neoliberalen Ideologie.“ | |
Doch auch Teilen der jüngeren Generation ist Amnesty mit seiner auf | |
Diplomatie und Dialog setzenden Kultur, zum Beispiel angesichts der | |
Klimakrise, zu zahnlos. Einer von ihnen ist Jakob Nehls, 27, | |
Politikwissenschaftler und Doktorand in Nürnberg, ehemals Teil des | |
Amnesty-Jugendvorstands. „Alle haben das Klimathema verpennt, Amnesty | |
auch“, sagt er. Dabei sei die Klimakrise ein „Angriff auf alle | |
Menschenrechte“. So wie das Amnesty-Mandat einst um die sozialen | |
Menschenrechte erweitert wurde, müsse Amnesty heute mit Blick auf das Klima | |
verfahren. Eine Gruppe um Nehls hat dazu eine „Koordinationsgruppe | |
Klimakrise“ bei Amnesty aufgebaut, die das Thema mittlerweile systematisch | |
bearbeitet. „Aber das war ein langer Kampf“, sagt Nehls. „Wir haben viel | |
Kontra gekriegt, viel internen Widerstand, viele Tiefpunkte erlebt. Viele | |
sind frustriert.“ | |
Das habe mit Amnestys Struktur zu tun. „Es ist eine Riesenorganisation, | |
jede noch so kleine Kursänderung kostet unfassbar viel Mühe.“ Doch dafür | |
lasse die Dringlichkeit der Klimakrise keine Zeit, so sieht Nehls das. Er | |
und andere Aktivist:innen, die sozialen Bewegungen sehr nahe stehen, wollen | |
eine andere politische Praxis. Amnesty müsse sich als „systemhinterfragende | |
Organisation“ sehen, sagt Nehls: „Nicht immer nur konstruktiv sein, eine | |
deutlich schärfere Sprache sprechen, mehr Akzeptanz für radikale Kritik und | |
Aktionsformen wie zivilen Ungehorsam entwickeln.“ Stattdessen achte Amnesty | |
bis heute zu sehr auf formale Vorgaben. „Es wird immer gefragt: Dürfen wir | |
dazu was sagen? Gibt es einen entsprechenden Beschluss?“ | |
Rajat Khosla treibt indes um, dass es immer weniger Regierungen gibt, die | |
überhaupt noch an Dialog interessiert sind. „Unsere Arbeit war nie | |
einfach“, sagt er. „Aber was wir in den letzten vier Jahren erlebt haben, | |
hat eine völlig neue Qualität.“ Das Schlagwort lautet „Shrinking Space“… | |
ein in den vergangenen Jahren etablierter Begriff, der schrumpfende | |
Handlungsräume für die Zivilgesellschaft beschreibt, für Journalist:innen, | |
Gewerkschafter:innen oder eben Menschenrechtsverteidiger:innen. „Wir | |
beobachten in den vergangenen Jahren einen noch nie dagewesenen Anstieg der | |
Zahl von Demagogen in Regierungen.“ | |
Einen Grund dafür sieht Khosla in der wachsenden sozialen Ungleichheit. | |
„Kaum eine Regierung hat dagegen etwas unternommen“, sagt er. Davon | |
profitierten nun Populisten. Und die sähen die Zivilgesellschaft als | |
„direkte Gefahr für ihre nationalistische Agenda“. Nach Khoslas Zählung | |
haben allein 2021 insgesamt 67 Staaten – also jeder Dritte auf der Welt – | |
neue Gesetze erlassen, um die Redefreiheit einzuschränken. | |
Aus Indien musste Amnesty sich 2020 zurückziehen, weil die Regierung alle | |
Konten eingefroren hat. Hongkong habe 2020 ein neues Sicherheitsgesetz | |
erlassen, das Amnestys Arbeit dort „völlig unmöglich“ gemacht habe. Und | |
nicht nur die Regierungen machen Khosla zu schaffen: „Es gibt einen klaren | |
Trend, dass private Unternehmen mit gezielten Klagen versuchen, Kritiker | |
und Proteste gegen ihre Geschäfte zu stoppen.“ | |
Am 6. Mai sitzt Khosla auf einer Pressekonferenz in Kiew. Die globale | |
Amnesty-Führungsriege ist dorthin gereist, um zu präsentieren, was ihre | |
Rechercheur:innen in den vergangenen Wochen zusammengetragen haben. Wer | |
sich fragt, was „tatsächlich“ geschehen ist in der Ukraine, der bekommt | |
hier Antworten. Khosla überlässt seiner Direktorin das Wort. 45 | |
Zeug:innen rechtswidriger Tötung ihrer Verwandten durch russische | |
Soldaten, 39 Zeug:innen von Luftangriffen auf Wohngebäude hat Amnesty | |
befragt. Der Befund: „Kriegsverbrechen“, kein Zweifel. | |
Kaum jemand inventarisiert das Unrecht in der Welt bis heute so wie | |
Amnesty. Das ist kein Selbstzweck, es soll dazu beitragen, dass die | |
Menschenrechte geachtet werden, so umfassend wie möglich. Aber wie? Was ist | |
heute die Lehre, der Fluchtpunkt, hinter den Jahrzehnten von Kampagnen, | |
Recherchen, Berichten, „Urgent Actions“? Was ist Amnestys Strategie? | |
Hoffnung geben ihm Länder wie Belarus oder Sudan, sagt Rajat Khosla. | |
Länder, in denen die Menschen gegen Unterdrückung auf die Straße gehen, | |
Veränderung einfordern. „Das ist spektakulär“, sagt er. „Führung über… | |
heute oft eher die Menschen auf der Straße als jene an der Macht.“ | |
Die Zivilgesellschaft, deren Handlungsmöglichkeiten an vielen Stellen | |
schrumpfen, muss sich selbst ermächtigen, das ist die eine Antwort. | |
Die andere Antwort gibt Deutschlands Amnesty-Direktor Markus N. Beeko. Ende | |
April ist er Gast auf dem taz Lab. Es geht um „Krieg und Frieden“, um die | |
Ukraine vor allem, aber nicht nur. Beeko holt weiter aus, kommt auch auf | |
andere Dinge zu sprechen, die die Menschenrechte ihrer Geltung berauben. | |
Was letztlich nur helfe, sei eine „Stärkung der internationalen Ordnung“, | |
sagt Beeko. Über den Staaten sollten gestärkte multilaterale Institutionen | |
stehen, dem Recht verpflichtet, willens und in der Lage, Verstöße zu | |
sanktionieren. | |
Klar sei dabei: Es seien keineswegs nur die „westlichen liberalen | |
Demokratien“, von denen dies ausgehen könne. Auch sie hätten in der | |
Vergangenheit internationale Institutionen – wie zum Beispiel den | |
Internationalen Strafgerichtshof – zu oft geschwächt anstatt gestärkt. | |
Echter Multilateralismus müsse und könne ebenso vom globalen Süden | |
ausgehen. Dafür müsste die internationale Ordnung aber | |
Menschenrechtsverstöße weltweit in gleichem Maße ahnden. Nur so seien | |
Regierungen wirksam dazu zu bringen, Wohnungslosigkeit zu bekämpfen, | |
Flüchtlingsrechte zu achten oder Klimaschutzversprechen einzuhalten. Nur so | |
könnten Kriege wie jene Russlands bestraft, eine globale Strafjustiz | |
unterhalten werden, die Kriegsverbrecher und Folterer aburteilt. | |
Es ist eine plausible, aber unbefriedigende Antwort. Staaten, die ernsthaft | |
gewillt sind, eine solche Ordnung aufrechtzuerhalten, gibt es wenige. Und | |
auch die Vorstellungen, welche Rechte schützenswert sind, gehen in der Welt | |
heute weit auseinander. Wohl kaum jemand weiß das besser als Amnesty | |
selbst. Eine einfachere Antwort aber gibt es wohl nicht mehr. | |
15 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/israel-amnesty-bericht-systemati… | |
[2] /Interview-mit-Amnesty-Chefin/!5169134 | |
[3] https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/amnesty-report-2021 | |
[4] /Jahresbericht-von-Amnesty-International/!5841616 | |
[5] /Amnesty-unterstellt-Israel-Apartheid/!5830467 | |
[6] https://twitter.com/Lambsdorff/status/1488546017352065028 | |
[7] https://www.thetimes.co.uk/article/amnestys-secret-800-000-payout-after-sui… | |
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