| # taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Wir fingen an zu weinen | |
| > Sie will ein normales Leben. Nur, was ist normal im Krieg? Dass man | |
| > Zusammenhänge schneller begreift Verantwortung übernimmt? | |
| Bild: Rauchwolken über Lviv nach einem russischen Bombeneinschlag am 10. Oktob… | |
| Als der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem | |
| Informatikstudium. Sie wollte das Fach wechseln und studiert mittlerweile | |
| Soziologie. Fedorenko kommt aus Kyjiw. Inzwischen lebt sie in Lwiw, | |
| arbeitet als Mathe-Nachhilfelehrerin und bestückt im Rahmen eines | |
| Freiwilligendienstes einen ukrainischen Newsticker mit Meldungen aus dem | |
| Krieg. | |
| ## Meine Mitbewohnerinnen | |
| Ich weiß, dass wir als 15-Jährige nie Freunde geworden wären. Ich war | |
| damals eine von diesen Nerds und ich war verliebt in dystopische Romane. | |
| Olya dagegen ging zu der Zeit schon als Freiwillige und Fotografin zu | |
| Konzerten von Musikgruppen. Und Ira fing an, alle Jungs um sie herum dazu | |
| zu bringen, sich in sie zu verlieben. | |
| Aber jetzt kann ich mir ein Leben ohne die beiden nicht mehr vorstellen. | |
| Wenn ich in der Onlineklasse sitze und Olya mich zur Begrüßung umarmt, weil | |
| sie zwei, drei Stunden nach mir aufsteht. Wenn ich etwas lese und Ira kommt | |
| und sich einfach neben mich legt und anfängt, über eine Menge Dinge | |
| gleichzeitig zu reden, obwohl ich weiß, dass es nur ein Versuch ist, dem zu | |
| entkommen, was sie am meisten beschäftigt: die Angst, dass ihr Vater nicht | |
| lebend zurückkehren wird. | |
| Am Abend zuvor haben wir uns eine Sendung auf Netflix angeschaut. Es war | |
| ein langer Tag. Ira weinte auf Olyas Schoß. | |
| Ich habe Angst, dass sie an ihrer Angst um den Vater zerbricht. | |
| Dass diese Angst sie lähmt. | |
| Dass diese Angst ihr jenes Leben nehmen wird, in dem sie beim Frühstück | |
| singt, in dem sie Adele auf dem Klavier spielt, in dem sie mir mit | |
| brennenden Augen von ihrer Nichte und ihrem Diplomthema erzählt. | |
| Ich habe große Angst um sie. | |
| Ich wünschte, wir hätten schon gewonnen und ihr Vater wäre da. Und sie | |
| hätten zu Hause über etwas Interessantes gesprochen. Und Ira würde ihn | |
| durch diese Wohnung führen, in der wir zu dritt leben. | |
| Ich fühle mich so privilegiert, einen Vater zu haben. Dass er in der Nähe | |
| meiner Familie ist. Dass ich mir keine Sorgen um sein Leben machen muss. | |
| Dass er dort sein kann, neben meiner Mutter, neben Sonja und Jaroslaw. | |
| Unter all diesen Menschen, deren Väter für unsere Freiheit kämpfen oder die | |
| bereits dafür gestorben sind, fühle ich mich in sehr guter Gesellschaft. In | |
| einer Gesellschaft, die weiß, dass Freiheit einen Preis hat. Und dass wir | |
| ihn jetzt alle bezahlen, nur um am Samstagmorgen Kaffee trinken gehen zu | |
| können oder das Gewitter vor dem Fenster zu betrachten, ohne zu befürchten, | |
| dass der Donner eine Explosion ist. | |
| ## Kriegsereignisse | |
| In der Ukraine fühlt es sich gerade so an, als wäre man während eines | |
| Tsunamis am Strand. | |
| Ich schnappe nach Luft. | |
| Aber sieben Monate sind schon vergangen. Und ich kenne inzwischen ein paar | |
| Tricks, wie ich besser an die Oberfläche komme, um nicht unter der nächsten | |
| Welle zu sterben. | |
| Trotzdem: Ich kann sagen, dass ich durch Luftalarme ängstlicher geworden | |
| bin. Irgendwann dachte ich, ich wäre daran gewöhnt. Aber jetzt fange ich | |
| bei jedem Geräusch, das sich wie das Einsetzen einer Sirene anhört, an zu | |
| zittern. | |
| Der Sirenendienst der Ukraine hat diesen Monat Alarmkontrollen auf | |
| Telefonen durchgeführt, damit wir alle wissen, was zu tun ist, wenn es zu | |
| einer nuklearen Explosion kommt. Beim ersten Mal, als diese Atomwarnung auf | |
| mein Handy kam – ein mega durchdringender Ton, der mit nichts zu | |
| verwechseln ist – dachte ich, ich bekomme einen Herzinfarkt. | |
| Während der letzten anderthalb Monate ist die Welt am dritten Weltkrieg | |
| vorbeigeschrammt. Und an einer Atomkatastrophe. Mehrfach schon haben die | |
| Russen das Gelände des AKW Saporischschja beschossen. | |
| Wir haben [1][in der Oblast Charkiw eine glänzende Gegenoffensive geführt]. | |
| Es waren ein paar gute Tage, als in den Nachrichten nur Videos von unseren | |
| Soldaten zu sehen waren, die die ukrainische Flagge an Verwaltungsgebäude | |
| der befreiten Städte aufhingen. | |
| Dann gab es ein paar schreckliche Tage, an denen der gesamte Newsfeed mit | |
| dem Foto eines Handknochens mit einem gelb-blauen Armband bedeckt war – das | |
| Militär fand Massengräber von Ukrainern in den befreiten Gebieten. | |
| Ich hatte fast jeden Tag Wutanfälle. | |
| ## Was kürzlich geschah | |
| Ein Teil der Kämpfer des Asowschen Regiments wurde aus russischer | |
| Gefangenschaft entlassen. Vor Kurzem wurde ein Foto in den sozialen | |
| Netzwerken veröffentlicht, das den Fotografen Orest zeigt. Die Russen haben | |
| ihn in Gefangenschaft fast ausgehungert. (Andere wurden [2][im | |
| Gefangenenlager Olenivka] gleich getötet.) | |
| Aber seine Augen. Habt ihr die Augen von Orest gesehen? Dies sind die Augen | |
| eines Mannes, der durch die Hölle gegangen ist, und der weiß, dass eine | |
| bessere Zukunft vor ihm liegt. Er sah einen Sinn in seinem Leiden. Ich | |
| frage mich, ob Orest die Gedanken [3][des Holocaustüberlebenden Viktor | |
| Frankl] bestätigen würde, dass es an jedem Einzelnen liege, ob er seine | |
| Würde verliere, und dass Aussöhnung einen sinnvollen Ausweg aus den | |
| Katastrophen eine Krieges weise. | |
| ## Wichtige Ereignisse in meinem Leben | |
| Ich war von Ende August bis fast Mitte September drei Wochen in Kyjiw. | |
| Ich habe es geschafft, mein Hauptfach auf Soziologie zu ändern. | |
| Ich habe mich bei der NGO WithUkraine registriert. | |
| Mein jüngerer Bruder geht in die erste Klasse. | |
| Meine jüngere Schwester hat ein Medizinstudium aufgenommen | |
| Anfang Oktober hatte ich meine ersten Vorlesungen in Soziologie, und ich | |
| bin verliebt in diese Wissenschaft. | |
| ## Das BookForum | |
| In Lwiw findet jedes Jahr, ich weiß nicht seit wann, das „[4][Lviv | |
| BookForum“] statt. Normalerweise versammeln sich dort Leute aus der | |
| Verlagsbranche, sprechen über neue Bücher, Formate und Errungenschaften. | |
| Dieses Jahr ging es beim BookForum überhaupt nicht ums Geschäft. Vielmehr | |
| haben die Organisator*innen Leute eingeladen, die sich mit den Themen | |
| Völkerrecht, Propaganda, Geschichte, Aktivismus auskennen. Und | |
| Regierungsmitglieder, die sich für die Bekämpfung russischer Desinformation | |
| einsetzen. | |
| Als ich mit einem Freund, einem Kollegen von WithUkraine, dort saß, wurde | |
| mir klar: Es gibt eine Kluft zwischen der Ukraine und dem Rest der Welt. | |
| Wir von WithUkraine versuchen, sie zu schließen, indem wir das Ausland über | |
| die Geschichte der Ukraine aufklären, über die langen und schrecklichen | |
| Beziehungen zu Russland, über all die Völkermorde, die hier von Russland | |
| begangen wurden. Doch aus irgendeinem Grund werden wir, emotionale | |
| Ukrainer*innen, die diese historischen Verbrechen herausschreien, nicht | |
| gehört. Der Vorwurf: Wir seien nicht objektiv. | |
| Und dann wird [5][der Friedensnobelpreis] an die ukrainische | |
| Menschenrechtsorganisation CCL, an Russen und an einen Belarussen | |
| verliehen, und ich möchte sagen: „Guten Tag!“ Das fühlt sich doch wie eine | |
| falsche Message des Nobelpreis-Komitees an – dass nämlich ukrainische, | |
| russische und belarussische Menschen doch immer noch eine Gruppe sind. Und | |
| dies, obwohl die Ukraine jeden Tag von Leuten der anderen Länder | |
| bombardiert wird. Ukrainer*innen sterben jeden Tag durch sie und zwar | |
| deshalb, weil sie entschieden haben, dass sie in diesem Land leben wollen. | |
| Und jetzt die Frage: Kann eine Person, in deren Haus Bewaffnete | |
| eindringen, die die Bewohner*innen vergewaltigen, ausrauben, töten, | |
| unter dem Vorwand Neonazis auszurotten, das hinnehmen? Aber die, die das | |
| von außen beobachten, sagen: „Nun, das ist ihre gemeinsame Wohnung. Sie | |
| sind Brüder und Schwestern, Verwandte. Und im Allgemeinen eine Nation!“ | |
| Ich bin sehr böse. Es tut mir leid. | |
| Tja, und dann [6][drängt sich noch Elon Musk mit rein] und sagt, dass die | |
| Krim zu Russland gehört. | |
| Mein Freund und ich redeten darüber, dann setzten wir uns hin und fingen an | |
| zu weinen | |
| Aus dem Englischen von Waltraud Schwab | |
| 23 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Teilweiser-Rueckzug-russischer-Truppen/!5881518 | |
| [2] /Toedlicher-Angriff-auf-ukrainische-Kriegsgefangene/!5871239 | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Frankl | |
| [4] https://bookforum.ua/en | |
| [5] /Friedensnobelpreise-2022/!5884261 | |
| [6] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5885188 | |
| ## AUTOREN | |
| Polina Fedorenko | |
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