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# taz.de -- Jugend in der Ukraine: Erwachsen werden im Krieg
> Als Teenager verliebt man sich, feiert die Lieblingsbands und sucht
> seinen Platz in der Welt. Unsere Autorin hat all das erlebt, während in
> der Ukraine zum ersten Mal Krieg herrschte – nun blickt sie zurück.
Kyjiw Als die Maidan-Revolution endete, war ich 13. Russland annektierte
die Krim und startete einen Krieg im östlichen Teil der Ukraine. Wenn ich
an diese Zeit vor zehn Jahren zurückdenke, erinnere ich mich noch vage an
den 20. Februar 2014. Die Schule fiel für uns aus, weil auf dem
Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw massenhaft Regimegegner*innen erschossen
wurden. Es war selbst für den ukrainischen Winter ein außergewöhnlich
kalter Tag. Ich weiß noch, dass mein Vater während dieses Protestwinters
plötzlich ein zweites Handy besaß und wie er sich nach Anbruch der
Dunkelheit eine Sturmmaske über das Gesicht zog und mit meiner Mutter im
Flur flüsterte, bevor er in die Nacht verschwand.
Ich erinnere mich noch an meine Angst, die vor allem daher rührte, dass
meine Mutter sich Sorgen um ihn machte, denn meine Mutter war keine Person,
die leicht aus der Fassung zu bringen war. Aber niemand erzählte mir, was
los war.
Es war nicht ungewöhnlich für diese Zeit, dass Menschen aus der Westukraine
nach Kyjiw gereist kamen und auf dem Platz der Unabhängigkeit ihren Unmut
mit dem damaligen Machthaber Wiktor Janukowitsch zum Ausdruck brachten, bis
die nächste Gruppe kam und sie ablöste. Die Einwohner*innen Kyjiws
unterstützten die Proteste in der Nacht, nach ihren Arbeitsschichten im
Büro oder in der Fabrik. Auch mein Vater war einer von denen, die in der
Nacht dazustießen. Das habe ich aber erst viel später verstanden. Das
zweite Telefon hatte er sich angeschafft, damit er nicht digital aufgespürt
werden konnte, weil jede*r, der sich im Umkreis der Proteste bewegte,
Droh-SMS erhielt und verhaftet werden konnte.
Vier Jahre später fand ich zufällig heraus, dass auch meine Freundin Ira in
den Ferien zusammen mit ihrem Vater auf dem Unabhängigkeitsplatz gestanden
hatte, in der Menge jener Leute, die unbezahlten Urlaub von ihren
eigentlichen Jobs genommen hatten, um nach Kyjiw zu reisen und zu
protestieren. Ira ist genauso alt wie ich, und sie schmierte in jenen Tagen
Sandwiches und schenkte warmen Tee für die frierenden Protestierenden aus.
## Ich wäre eine andere geworden
Iras Vater starb schon im Januar 2014 bei einem Gefecht mit der Polizei.
Seitdem ich das weiß, sehe ich sein Gesicht auf allen Gedenktafeln der
„Heavenly Hundred“, also der mehr als 100 Demonstrant*innen, die während
der [1][Maidan-Revolution] getötet wurden. Und immer, wenn ich ihn auf
einem der Fotos sehe, sende ich ihm ein stillen Gruß.
Ich denke, ich wäre wahrscheinlich eine andere geworden, wenn ich nicht in
der Ukraine aufgewachsen wäre, wo sich seit meiner Geburt zwei Revolutionen
– die Orange Revolution im Jahr 2004 und die Maidan-Revolution im Jahr 2014
– zugetragen haben, und zwei unterschiedliche Stadien des Kriegs, den
Russland unserem Land aufgezwungen hat.
Ich heiße übrigens Polina, bin 22 Jahre alt und lebe mit meiner Familie in
Kyjiw, fast mein ganzes Leben schon, außer in einer kurzen Episode von
anderthalb Jahren, die ich in einer WG in Lviv verbracht habe. Ich studiere
Soziologie an der Kyjiw-Mohyla-Academy, und manchmal schreibe ich über
[2][meine Erlebnisse im russisch-ukrainischen Krieg für diese Zeitung]. Ich
lebe in einer Wohnung am Stadtrand in der Nähe der Straße nach Irpin und
Bucha mit meinen zwei jüngeren Geschwistern, meinem Vater und zwei Katzen.
Meine Mutter hat als Beamtin im öffentlichen Dienst gearbeitet, bevor sie
an Krebs gestorben ist, und mein Vater arbeitet als Techniker für
IT-Netzwerkunterstützung. Meine Eltern sind keine Akademiker*innen,
aber sie haben mich dazu ermutigt, einen Großteil meiner Zeit mit dem Lesen
von Büchern zu verbringen. Darüber hinaus haben mich aber auch viele andere
Menschen darin beeinflusst, wie ich heute die Welt sehe.
## „Erzählt mir, was ihr tun werdet, wenn es losgeht“
Aus Erzählungen weiß ich, dass die [3][Maidan-Revolution] eine Erfahrung
war, die vor allem die Generation vor mir geprägt hat. Die jungen Frauen
und Männer, die zu jener Zeit an der Universität studierten, waren
diejenigen, die sich aktiv an den Protesten in den großen regionalen
Zentren der Ukraine beteiligten. Sie sind damals so alt gewesen wie meine
Mitstudierenden und ich heute, also zwischen 19 und 24 Jahre alt. Und sie
sind es auch gewesen, die sich im Frühjahr 2014 massenhaft den
Freiwilligeneinheiten anschlossen, um den östlichen Teil der Ukraine gegen
die russische Invasion zu verteidigen.
Eine meiner Freund*innen aus Charkiw, Zhenya, war Teil dieser aktiven
Gruppe. 2014 nahm sie am Charkiwer Maidan teil und organisierte
anschließend humanitäre Hilfe an der Front. Für sie kam der russische
Großangriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 nicht unerwartet. Eine
Woche vor der Invasion kam sie geschäftlich nach Kyjiw und rief uns, eine
Gruppe junger Frauen, die sie zufällig aus einem Projekt kannte, zu einem
Treffen zusammen.
„Erzählt mir, was ihr tun werdet, wenn es losgeht“, forderte sie uns auf.
Die beiden anderen jungen Frauen reagierten irritiert. Sie verdrängten
vermutlich immer noch, dass dieser Angriff stattfinden würde, obwohl es
längst offensichtlich war. Es war offensichtlich, weil die russischen
Kampftruppen bereits überall an der ukrainischen Grenze stationiert waren
und Putin die Unabhängigkeit der selbst ernannten „Volksrepubliken“ Luhansk
und Donezk ausgerufen und damit das Minsker Friedensabkommen gebrochen
hatte. Doch damals bei diesem Treffen schien es so, als sei ich neben
Zhenya die Einzige, die über die russische Invasion ansatzweise nachgedacht
und einen, wenn auch vagen, Plan entwickelt hatte.
## Zustand der Derealisation
„Ich bleibe in Kyjiw“, sagte ich. „Meine Mutter macht gerade eine
Chemotherapie, und es ist nicht klar, ob sie anderswo Zugang zu denselben
Medikamenten bekommen würde wie hier.“ Ich weiß nicht mehr, ob ich in
diesem Moment Angst hatte. Ich glaube, ich befand mich in einem Zustand der
Derealisation, in dem ich das Gefühl hatte, die Realität sei ein
Computerspiel und ich nur eine Nebenfigur.
Die anderen beiden hörten uns zu und sagten dann, dass sie die Stadt
verlassen und ein Dorf im Norden von Kyjiw aufsuchen würden, wenn es
wirklich zu einem Angriff käme. Viele meiner Bekannten machten damals den
Fehler, zu glauben, dass es im Krieg am wenigsten sicher in Kyjiw sei und
zogen ins Umland. Doch die Einzigen, die nicht von den Russen okkupiert
wurden, waren diejenigen, die in den Süden von Kyjiw, westlich des
Dnipro-Flusses, gingen. Alle anderen mussten später aus den besetzten
Dörfern fliehen, mit der Angst im Bauch, bei der Flucht von den Russen
erschossen zu werden. Oder sie blieben zurück, ohne Kontakt zur Außenwelt
und mit ständigen Kontrollen und Verhören.
Für mein 13-jähriges Ich hätte es vermutlich absurd geklungen, wenn ihm
jemand erzählt hätte, dass es rund zehn Jahre später über Fluchtrouten
fachsimpelt, fehlerfrei das Kriegsvokabular aufsagen kann und die Namen
sämtlicher Raketen, Panzer und Kampfjets kennt.
Heute frage ich mich, wie Zhenya sich damals bloß verkneifen konnte, uns
anzuschreien und uns zu sagen, wie bescheuert wir sind, wenn wir glauben,
dass der Krieg an uns vorbeigehen wird. Zwischen 2022 und heute, während
ich hier sitze und diese Zeilen in den Computer tippe, habe ich den
Überblick verloren, wie viele von Zhenyas engen Freund*innen in diesem
Krieg getötet worden sind. Es gab Zeiten, da hatte ich Angst, Zhenyas
Instagram-Seite zu öffnen, weil ich dort jedes Mal wieder eine neue
Todesmeldung von ihren Freund*innen sah und dann unkontrolliert zu weinen
anfing.
## Der Krieg, ein verschwommenes Bild
Derweil wirkte Zhenya gefasst, fast abgeklärt. Sie hatte all das bereits
2014 durchlebt, als sie humanitäre Hilfe in die umkämpfte Ostukraine
gebracht hatte. Sie hatte bereits auf die Nachrichten ihrer Freund*innen
an der Front gewartet. Sie hatte bereits Freund*innen beerdigt. 2022 war
keine neue Erfahrung für sie, vielleicht allumfassender, aber nicht
unbekannt.
Nach dem Kriegsbeginn im fühlte sich das politische Bild für mich
verschwommen an. Ich war in der 8. Klasse und zuallererst mit meiner
Abschlussprüfung beschäftigt, um danach eine weiterführende Schule zu
besuchen. Ich dachte an einen Jungen, mit dem ich nie geredet hatte, aber
in den ich verliebt war. Ich las Geschichten über dystopische
Gesellschaften und romantische Beziehungen. Ich guckte „Hunger Games“ und
vergötterte die Boygroup One Direction. Kurzum: Ich war ein ganz normales
Teenagermädchen mit all den Träumen von der romantischen Liebe.
Der Krieg trat damals nur etwas deutlicher während der Schulfeste zum
Vorschein. Dann brachten wir selbst gebackene Kuchen und Spielsachen mit in
die Schule und verkauften sie, um den Erlös an die Freiwilligen zu spenden,
und von Zeit zu Zeit sammelten wir Socken und warme Kleidung für die
Soldat*innen an der Front. Es war einfach etwas, das wir taten, ohne uns
groß Gedanken darüber zu machen.
Nach der 8. Klasse nahm ich an einem Kindercamp in den Karpaten teil. Wir
waren eine Gruppe von Mädchen, alles Töchter von Kolleg*innen meiner
Mutter, die dieses Camp jeden Sommer besuchten. Unter uns war auch ein
Mädchen aus Donezk, das erst vor Kurzem wegen des Kriegs in ihrer Region
nach Kyjiw gezogen war. Ich schenkte dieser Tatsache wenig Beachtung, bis
zu einem der letzten Tage des Camps, als wir das Ende unserer gemeinsamen
Zeit feierten. Es gab eine Disko, und danach versammelten wir uns alle auf
einem großen Platz, um das Abschlussfeuerwerk zu sehen.
## Traumata des Krieges
Das Feuerwerk war sehr schön: All die Farben am Himmel, die unerwarteten
Formen. Aber meine Freundin aus Donezk schüttelte es, und sie wurde ganz
panisch. Ich verstand erst nicht, was so schrecklich für sie war, warum sie
Tränen in den Augen hatte, warum sie weglaufen wollte. Mit der Erlaubnis
unserer Betreuer*innen machten wir uns auf, um einen ruhigeren Platz zu
suchen, wo die Salven nicht so dröhnend klangen und die Lichtblitze, die
sie begleiteten, nicht mehr zu sehen waren.
„Das Feuerwerk erinnert mich an die Explosionen, die ich in Donezk gehört
habe“, sagte das Mädchen, und mit einem Mal war uns alles klar.
Doch Feuerwerk ist nur eine Sache von vielen, über die ich seit dem Krieg
anders denke. Eine andere ist der russische Content, den ich und die
anderen während unserer Jugend konsumiert haben, die russische Musik, die
wir hörten, die russischen Bücher, die wir lasen.
An der weiterführenden Schule war ich fast die Einzige, die ausschließlich
Ukrainisch sprach. Laut einer Studie des Internationalen Instituts für
Soziologie in Kyjiw von 2017 sprechen lediglich 43 Prozent aller
Ukrainer*innen überwiegend oder ständig Ukrainisch bei der Arbeit oder
in der Universität. Ich glaube, es war in der 10. Klasse, als ein
Mitschüler auf mich zukam und mich auf Russisch fragte, wie ich mich dabei
fühlen würde, als Einzige in der Klasse Ukrainisch zu reden. Die Frage
schockierte mich, weil ich gelernt hatte, nicht auf diesen Unterschied zu
achten. Denn wir verstanden uns ja perfekt, egal ob wir nun Russisch oder
Ukrainisch sprachen.
## Die Frage der Sprachen
Ich erklärte ihm, dass es okay für mich sei, und damit war das Thema für
uns beendet. Aber später, als ich mit anderen darüber sprach, die ebenfalls
probiert hatten, sich in einer russischsprachigen Umgebung auf Ukrainisch
zu verständigen, lernte ich, dass zu diesem Thema normalerweise ein paar
Fragen mehr auftauchen.
Frage 1: Hast du Verwandte im westlichen Teil der Ukraine? Weil dort die
Mehrheit der Ukrainisch sprechenden Menschen lebt.
Frage 2: Bist du eine Nationalistin?
Frage 3: Wenn nichts davon auf dich zutrifft, warum sprichst du die Sprache
einer Minderheit?
Ich war erst in der Lage, eine mehr oder weniger adäquate Antwort zu
formulieren, als ich mit der Schule fertig war. Davor fand ich es einfach
nur logisch. Immerhin lebten wir in einem Land, das Ukraine heißt. Warum
sollten wir dann nicht auch Ukrainisch sprechen? In der Tat haben wir auch
bei uns zu Hause bis zu meinem fünften Lebensjahr Russisch gesprochen, aber
danach entschied meine Mutter, dass es leichter für mich in der Schule sei,
wenn wir zu Ukrainisch wechseln, da alle Schulfächer auf Ukrainisch
abgehalten wurden. Danach habe ich nie wieder Russisch gesprochen.
## Widerstand gegen die Russifizierung
Heute denke ich, dass meine Mutter die ukrainische Sprache vermisst hat,
weil es die Sprache ihrer Kindheit war. Ich erinnere mich aber noch daran,
dass die Patentante meiner Mutter den Sprachwechsel in unserer Familie für
einen Fehler hielt. Dass ich dem allgemeinen Druck trotzdem standhielt, war
vermutlich mein unbewusster Widerstand gegenüber dem Versuch, mich zu
russifizieren.
Und nein, ich habe keine Verwandtschaft in der Westukraine, und nein, ich
bin keine Nationalistin in dem Sinne, dass ich glauben würde, dass die
ukrainische Kultur über anderen Kulturen steht. Ich will nur, dass sie
sich auf derselben Stufe befindet wie die anderen auch.
An der Uni habe ich dann mehr über die Russifizierung gelernt, und wie
geschickt das sowjetische Regime die verschiedenen Sprachen der
sozialistischen Republiken als unzeitgemäß darstellte, um ihre
Unterlegenheit zu manifestieren. Wie es die ukrainische Sprache in Filmen
lächerlich machte, indem es vor allem dumme und böse Charaktere Ukrainisch
sprechen ließ, während sich die russischsprachigen über diese lustig
machten.
An der Uni lernte ich, wie die Sowjets künstlich die Grammatik der
ukrainischen Sprache verändert hatten, um sie der russischen anzugleichen,
sodass später behauptet werden konnte: Schaut her, Russisch und Ukrainisch
sind gar nicht so unterschiedlich, warum sollte man Ukrainisch dann
überhaupt verwenden?
## Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben
Als ich in der 10. Klasse war, kam meine in den USA lebende Tante für zwei
Jahre in die Ukraine zurück, um eine Visumsangelegenheit zu regeln. Ich war
so aufgeregt! Meine geliebte Tante, die all die Jahre auf der anderen Seite
des Ozeans gelebt hatte und die ich normalerweise nur einmal im Jahr zu
Gesicht bekam, würde nun in derselben Stadt leben wie ich.
In Kyjiw angekommen bot mir meine Tante an, dass wir uns einmal die Woche
in ihrem Apartment treffen und für den internationalen Englischtest IELTS
büffeln. Sie stellte sich für mich vor, dass ich eine Universität im
Ausland besuche. Aber dafür musste ich mein akademisches Englisch
verbessern.
Ich weiß noch, wie viel es mir damals bedeutet hat, dass sie mich ernst
nahm. Sie war interessiert daran, was ich dachte und was ich wollte, und
sie wollte sicherstellen, dass ich wirklich alle Optionen in Betracht zog
und mich nicht mit dem Nächstbesten zufrieden gab.
Ein Auslandsstudium war in ihren Augen und in den Augen meiner Verwandten
der Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben. Erst ein Studium in der Ferne,
dann Heiraten und Kinderkriegen, und all das nicht in der Ukraine, weil es
als prestigeträchtig galt, woanders zu leben. Nicht hier, in einem Land,
das sich im Kriegszustand befindet und eine hohe Inflation aufweist.
## Eine Akademie für die Ukraine
Dank meiner Tante erfuhr ich auch von der Ukrainian Leadership Academy.
Nach der 11. Klasse bewarb ich mich dort für ein nichtformelles
Bildungsprogramm, das finanziell unterstützt wurde vom Western NIS
Enterprise Fund und der United States Agency for International Development.
Ich wurde angenommen.
Es war die Zeit zwischen den beiden Präsidenten, Petro Poroschenko und
Wolodimir Selenski, und es fühlte sich gleichzeitig aufregend und seltsam
an, diese Akademie zu besuchen, weil sie von vielen Außenstehenden wie eine
Art Sekte wahrgenommen wurde und niemand so richtig verstand, was wir dort
eigentlich machten.
Wir waren 40 Teenager zwischen 17 und 18 Jahren, die für zehn Monate in
einem kleinen Hotel in der Gegend von Lviv untergebracht waren und sich
tagsüber Vorträge über Ökonomie, Staatsbildung, Zivilgesellschaft,
Fundraising, Projektmanagement und vieles mehr anhörten. Ziel des Programms
war es, eine neue Generation auszubilden, die die Ukraine zum Besseren
verändern soll.
Während unserer Zeit an der Akademie leisteten wir jede Woche bei einer
anderen Organisation ehrenamtliche Arbeit. Mein Lieblingsort war eine
Schule für Kinder mit Behinderungen, wo ich als Lehrassistentin für eine 1.
und 2. Klasse zuständig war. Nach Feierabend machten wir Sport und
bereiteten uns auf einen Halbmarathon vor oder arbeiteten an unseren
eigenen kleinen Projekten. In diesen zehn Monaten lernte ich so viel über
die ukrainische Geschichte und Kultur wie in meinem gesamten Leben zuvor.
Und mit einem Mal wurde mir klar ich, dass ich nirgendwo anders leben
wollte als hier.
## Sich schuldig fühlen
Doch nachdem die Akademie vorbei war, fiel ich in ein tiefes Loch. Ich
fühlte mich schuldig, weil ich ein Jahr im Leben meiner jüngeren
Geschwister verpasst hatte.
Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht so am Leben meiner engen
Freund*innen hatte teilnehmen können, wie ich es gern gewollte hätte.
Ich fühlte mich schuldig, weil ich es nicht schaffte, meine Eltern milde zu
stimmen und so zu sein, wie sie mich gern gehabt hätten: freundlich,
unterwürfig, ruhig, ein Mensch, der nicht für seine Meinung einsteht, weich
wie Knetmasse, aus der man sich das ideale Kind formen kann.
Und ich fühlte mich auch mir selbst gegenüber schuldig, weil ich aus
Vernunftsgründen ein Informatikstudium begonnen hatte, das mich aber nicht
interessierte. Ich hatte das Gefühl, dass es nirgendwo einen Platz für mich
gab und ich keiner sozialen Rolle, die für mich vorgesehen war, genügte.
Nach einem sechsmonatigen Fernstudium während der Coronapandemie
verwandelten sich all diese Schuldgefühle in eine der schwersten
depressiven Episoden meines Lebens. Ich dachte ständig an den Tod, wog alle
Vor- und Nachteile ab, hatte zwanghafte Selbstmordgedanken und Angst,
Brücken zu betreten, weil ich den starken Wunsch verspürte,
hinunterzuspringen.
## Emanzipation von den Eltern
Ende 2020 verstand ich, dass ich nie in der Lage sein würde, das ideale
Kind für meine Eltern zu sein. Ich würde nie in der Lage sein, einen Mann
zu heiraten, als Programmiererin zu arbeiten und ihnen einen Haufen
Enkelkinder zu schenken. Das war nicht die Art von Leben, das ich führen
wollte, und deshalb musste ich etwas ändern.
Im selben Winter erfuhr meine Mutter, dass sie Krebs hatte. Eine Zeit lang
erzählte ich keine*r meiner Freund*innen etwas davon, weil ich Angst
hatte, dass wir dann nicht mehr befreundet sein würden, weil ich deshalb
für einige Monate aus ihrem Leben fiel, aber irgendwann beschloss ich, es
meiner Freundin Olya zu erzählen. Olya wurde mein Anker.
Trotzdem machte ich zunächst damit weiter, die Rolle der idealen Tochter
auszufüllen: Ich holte meine Mutter nach der Chemotherapie vom Krankenhaus
ab, putzte die Wohnung, lernte Programmieren, arbeitete, passte auf meinen
Bruder auf und half meiner Schwester bei den Hausaufgaben.
Im darauffolgenden November trat die depressive Episode erneut auf, bei
meiner Mutter waren keine Tumorzellen mehr nachweisbar, und ich beschloss,
mein Studium abzubrechen. Zu dieser Zeit gab es schon Gerüchte über eine
Invasion, die aber nur halb ernst genommen wurden. Ich begann,
Antidepressiva zu nehmen, machte Therapie, zeichnete viel und wollte
allmählich wieder leben.
Dann stellte sich heraus, dass meine Mutter doch noch Krebszellen hatte.
Dann kam die Invasion.
Dann flog eine Rakete in das Gebäude nebenan, und alle 16 Stockwerke
brannten.
Wir verließen Kyjiw, und ich traf eine Entscheidung: Wenn dies tatsächlich
die letzten Tage meines Lebens sein sollten, dann wollte ich neben meinen
Freund*innen in Lviv sterben.
## Lernen von den Freundinnen
Ich zog mit Olya und einer anderen Freundin in eine WG in Lviv, wo ich die
meiste Zeit des Tages für die unabhängige Nachrichtenseite WithUkraine
Meldungen aus aller Welt übersetzte. Innerhalb weniger Monate war ich
ausgebrannt, aber ich liebte mein Team, also blieb ich mit einem geringeren
Arbeitspensum dabei. Gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass
ich nicht bei meiner Mutter war, aber das schlechte Gewissen war etwas, mit
dem ich besser umgehen konnte, weil ich wusste, dass ich keine Kontrolle
über die Situation in Kyjiw hatte und meine Anwesenheit meiner Mutter nicht
helfen würde, sich vom Krebs zu erholen.
Von meinen Freundinnen lernte ich, mich selbst weniger zu hassen und
liebevoller mit mir zu sein. In der ersten Zeit verlor die Stimme des guten
Ichs noch gegen die Stimme des Ichs, das mich kritisierte und in Stücke
riss. Aber mit jedem neuen Gespräch mit Olya wurde diese erste Stimme
stärker.
Während meiner Zeit in Lviv begann ich langsam zu verstehen, was für eine
Art von Leben ich gern leben würde, und ich kehrte zu dem Gedanken zurück,
dass ich irgendwann zu den ukrainischen Streitkräften gehen wollte. Das war
ein ständiger Gedanke von mir, seit ich die Ukrainian Leadership Academy
besucht hatte. Nicht weil ich gern eine militärische Karriere angestrebt
hätte, sondern weil ich es richtig und wichtig fand, sein Land zu
verteidigen, wenn es von einem anderen Land angegriffen wird. Aber mir
wurde auch klar, dass ich noch genauer herausfinden musste, für welche Art
von Leben ich eigentlich kämpfen wollte, um den Krieg an der Front
psychologisch zu überstehen.
Krieg ist ja eine Erfahrung am Rande von Leben und Tod. Eine, bei der du
deine Kamerad*innen ständig sterben siehst. Und um diese Verzweiflung
über den Tod zu ertragen, muss man einfach ein sehr konkretes Ziel vor
Augen haben, denke ich.
Ja, man tritt in die Armee ein, um für eine demokratische Ukraine zu
kämpfen, in der Rechtsstaatlichkeit herrscht, in der die Rechte der
Menschen geachtet werden, in der es Redefreiheit und unabhängige Medien
gibt. Aber an der Front werden diese abstrakten Dinge meiner Meinung nach
sehr konkret. Ein Mensch kämpft dafür, dass seine Familie sicher ist, dass
er reisen, studieren und arbeiten kann. Ein Mensch kämpft für seine
Lebensweise. Irgendwann in dieser Zeit wurde mir klar, warum man depressive
Menschen nicht an die Front schickt: Weil wir an schlechten Tagen wirklich
sterben wollen, und das ist nicht die Motivation, die ein*e Soldat*in
haben sollte.
## Ein sehr konkreter Traum vom Frieden
Meine Vorstellung von einem guten Leben sieht heute übrigens so aus: In der
Ukraine herrscht Frieden und ich würde mit eine*r meiner Freund*innen
zusammenleben. Vielleicht würde eine*r von uns eine romantische Beziehung
haben, oder auch nicht, das ist mir eigentlich egal. Wir würden zusammen
Fahrrad fahren, im Park spazieren, zu Protesten und Paraden gehen, uns
gegenseitig aus Büchern vorlesen und alle unsere Freund*innen zum
Abendessen einladen. Und wenn eine*r unserer Freund*innen Kinder hätte,
wäre ich diejenige, die auf sie aufpasst, wenn sie müde sind oder Zeit mit
ihren Partner*innen verbringen wollen.
Wir würden alle zusammen in den Bergen wandern gehen und über
philosophische Texte diskutieren oder darüber, wie soziale Netzwerke die
Gesellschaft verändern. Wir würden Dokumentarfilme über wiederaufgebaute
Städte und neue Gemeinschaften drehen. Wir würden unseren eigenen Buchladen
eröffnen und alle zu unseren Buchclubs einladen.
Wir würden auf die Krim fahren, Krimtatarisch lernen und an der Küste von
Mariupol entlanglaufen wie einst in den Tagen der Ukrainian Leadership
Academy.
Wer kämpft, muss einen Traum haben, um das Leiden zu ertragen, um den
Holocaustüberlebenden und Psychiater Viktor Frankl zu paraphrasieren.
## „Kerzenlicht, das mich wärmt“
Nach dem Tod meiner Mutter im November 2022 zog ich nach Kyjiw zurück, um
meinen Vater mit meinen Geschwistern zu unterstützen. Aber ich beschloss,
so viel wie möglich in meine anderen Identitäten zu investieren, um nicht
nur die Tochter und die große Schwester zu sein. Diese Rollen sind mir
wichtig, aber ich wollte nicht, dass sie wieder das Einzige werden würden,
was ich habe, wie es ja schon einmal während der Coronapandemie gewesen
ist.
Deshalb fasst ich allen Mut zusammen und lernte meine neuen
Kommiliton*innen aus der Soziologie kennen. Ich hatte mittlerweile
mein Hauptfach gewechselt und war endlich glücklich. Und da ich jetzt
wieder in der Stadt meiner Universität lebte und der Distanzunterricht
aufgehoben war, konnte ich sie jede Woche in der Unibibliothek treffen.
Anfangs war es noch etwas unangenehm, aber nach und nach lernten wir mehr
übereinander, bastelten eigene Memes, gingen gemeinsam zum Dnipro-Fluss und
organisierten Partys.
Im August nahm ich an einem Camp teil, das beim Wiederaufbau von Gebäuden
hilft, die im russisch-ukrainischen Krieg beschädigt wurden, oder beim Bau
neuer Infrastrukturen, um die lokalen Communitys in der Ukraine zu stärken.
Wir bauten einen Erholungsraum für die Jugendlichen eines kleinen Dorfs in
der Region Poltava. Es gefiel mir so gut, dass ich mich an einer Schule
bewarb, die lehrte, wie man solche Camps leitet, und dort lernte ich eine
junge Frau kennen, die mich in eine andere, dieses Mal in eine
wissenschaftliche Gemeinschaft mitnahm: Die Invisible University for
Ukraine, ein Programm für ukrainische Studierende, ins Leben gerufen von
der Central European University.
Jetzt gerade fühlt sich das Leben in der Ukraine wie im Winter 2022/23 an,
mit ständigem Beschuss und gelegentlich ohne Kommunikation, aber mit
Kerzenlicht, das mich wärmt, und Umarmungen von meinem Bruder und meiner
Schwester. Die Bedrohung durch größere Konflikte auf der ganzen Welt wird
immer wahrscheinlicher. Der Krieg mit Russland kostet weiterhin viele
ukrainische Menschenleben.
Und gleichzeitig habe ich auf einer kleineren Ebene, auf meiner
persönlichen, Freund*innen, die ich liebe, und meine Geschwister, die
lustige Witze erzählen. In genau diesem Moment ist das für mich genug, um
all die Dunkelheit zu überstehen.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna Fastabend
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22 Feb 2024
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## AUTOREN
Polina Fedorenko
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Lesestück Recherche und Reportage
wochentaz
Schwerpunkt Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Coming-of-Age
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Zerstörung
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Krieg gegen die Ukraine: Was es heißt, Ukrainerin zu sein
Es ist Krieg. Was das bedeutet? Polina Fedorenko weiß es. Sie ist 22, kommt
aus Kyjiw und schreibt über ihren Alltag, ihre Angst, ihre Hoffnung.
Notizen aus dem Krieg: Wir fingen an zu weinen
Sie will ein normales Leben. Nur, was ist normal im Krieg? Dass man
Zusammenhänge schneller begreift Verantwortung übernimmt?
Notizen aus dem Krieg: Ohne Hoffnung geht's nicht
Was hilft gegen die Allgegenwärtigkeit des Krieges? Unsere Autorin
zeichnet, schreibt und spaziert durch ihre neue Heimatstadt Lwiw.
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