# taz.de -- 10 Jahre Maidan-Proteste: Ganz in der Gegenwart | |
> Vor 10 Jahren begannen in der Ukraine die Maidan-Proteste. Ihr | |
> Vermächtnis sind Menschen, die sich selbst als Subjekte der Geschichte | |
> verstehen. | |
Bild: Da waren die Proteste schon drei Wochen alt. Menschen auf dem Maidan im D… | |
Die Gegenwart ist nicht fassbar weil sie nicht von Dauer ist. Jean-Paul | |
Sartre verstand die Gegenwart als eine Grenze zwischen dem Bereich der | |
Faktizität – dem, was bereits geschehen ist und deshalb einfach ist – und | |
dem Bereich der Transzendenz, einer Öffnung, die über das hinausgeht, was | |
bisher gewesen ist. Die Revolution beleuchtet diese Grenze. Sie ist ein | |
Moment der Entscheidung. | |
Im Jahr 2004 beging das Team des ukrainischen Präsidentschaftskandidaten | |
[1][Wiktor Janukowitsch, ein mit dem Kreml verbündeter Oligarch], | |
Wahlbetrug – und [2][Janukowitschs Gegner, Wiktor Juschtschenko, wurde | |
während des Wahlkampfs mit Dioxin vergiftet]. Massenproteste auf dem | |
zentralen Platz in Kyjiw, dem Maidan, erzwangen eine Wiederholung der Wahl. | |
Diesmal gewann Juschtschenko deutlich. In Kyjiw herrschte eine ekstatische | |
Stimmung. Es schien, als könne Janukowitsch nie wieder zurückkommen. | |
Doch Juschtschenko erwies sich als Präsident als eine große Enttäuschung. | |
Und Janukowitsch wählte aus den Angeboten der amerikanischen PR-Industrie | |
eines für Gangstertypen mit Präsidentschaftsambitionen aus. Unter Anleitung | |
seines Washingtoner PR-Beraters trat er 2010 erneut an und gewann die | |
Präsidentschaftswahlen, diesmal rechtmäßig. | |
Anschließend überreichte Janukowitsch seinem Washingtoner Berater Paul | |
Manafort als Dankeschön ein Glas Kaviar im Wert von über 30.000 Dollar. | |
## In letzter Minute abgesagt | |
Der Trostpreis, den Janukowitsch der ihm verhassten liberalen Intelligenz | |
in Aussicht stellte, war die Aussicht, wenn auch weit entfernt, auf die | |
europäische Integration. Vor allem für die junge Generation war „Europa“ | |
das Objekt ihrer Sehnsucht. Im November 2013 sollte die Ukraine dann ein | |
lang erwartetes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union | |
unterzeichnen. [3][In letzter Minute, am 21. November 2013, weigerte sich | |
Janukowitsch.] | |
Besonders geschockt von dieser Entscheidung waren Studierende, die das | |
Gefühl hatten, ihre Zukunft sei vorbei. Europa würde ihnen verschlossen | |
bleiben. Am selben Abend noch schrieb ein 32-jähriger ukrainischer | |
Journalist namens Mustafa Nayyem, der aus Kabul stammte, auf Russisch auf | |
seiner Facebook-Seite: „Kommt schon, lasst uns ernst machen. Wer ist | |
bereit, heute um Mitternacht auf den Maidan zu gehen? ‚Likes‘ zählen | |
nicht.“ | |
In dieser Nacht kamen überwiegend Studierende auf dem Maidan zusammen und | |
blieben dort. Sie hielten sich an den Händen und riefen: „Die Ukraine ist | |
Europa!“ | |
Am 30. November 2013 schickte Janukowitsch um 4 Uhr morgens seine | |
Bereitschaftspolizei auf den Maidan, um die Studierende zusammenzuschlagen. | |
Die Gewalt gegen friedliche Demonstranten war ein Schock. Janukowitsch | |
rechnete offenbar damit, dass der Schock die Eltern dazu bringen würde, | |
ihre Kinder von der Straße zu holen. In diesem Moment geschah aber etwas | |
Frappierendes: Anstatt ihre Kinder von der Straße zu holen, schlossen sich | |
die Eltern ihnen an. Jetzt waren fast eine Million Menschen auf den Straßen | |
von Kyjiw, und sie riefen: „Wir werden nicht zulassen, dass ihr unsere | |
Kinder schlagt!“ | |
Eines dieser geschlagenen Kinder war der 16-jährige Roman Ratushnyy. | |
„Deine Mutter muss sehr besorgt gewesen sein“, sagte ich zu ihm später in | |
einem Gespräch. „Aber sie hat dich zurückgehen lassen?“ | |
„Meine Mutter hat in der Hrushevskogo-Straße Molotow-Cocktails gemacht“, | |
antwortete er. | |
## Eine Polis | |
Der Maidan wurde nicht nur zu einem Ort des Protests, sondern auch zu einer | |
Polis. Musiker traten auf, Künstler malten, Ärzte behandelten die | |
Verletzten. Es gab eine Bibliothek, eine offene Universität, ein | |
gemeinsames Klavier. Die Menschen errichteten Zelte, machten Lagerfeuer und | |
kochten Suppe in eisernen Kesseln. Freiwillige räumten Schnee und Eis. Eine | |
LGBT-Organisation verwandelte ihre vertrauliche Hotline für LGBT-Personen | |
in eine Notfall-Hotline für den Maidan. | |
Grenzen, die normalerweise zwischen Menschen bestehen, lösten sich auf. Es | |
wurde sehr einfach, mit Fremden zu sprechen. „Es gab sehr unterschiedliche | |
Menschen“, erzählte mir ein Student namens Misha, „Ukrainer, Russen, Juden, | |
Polen, Tataren, Armenier, Georgier“. Man hatte das Gefühl, dass nicht nur | |
ethnische, sondern auch sozioökonomische Trennungen überwunden worden | |
waren. | |
Der Maidan war ein „Laboratorium des Gesellschaftsvertrags“, wie es ein | |
Schriftsteller beschrieb, „eine Vereinigung von IT-Spezialisten aus | |
Dnipropetrowsk und einem huzulischen Hirten, einem Mathematiker aus Odessa | |
und einem Kyjiwer Geschäftsmann, einem Übersetzer aus Lemberg und einem | |
tatarischen Bauern von der Krim“. | |
Der Historiker Yaroslav Hrytsak beschrieb den Maidan als eine Art Arche | |
Noah: Er nahm „zwei von jeder Art“ auf. Es gab Menschen mit allen | |
politischen Sympathien, von der radikalen Linken bis zur radikalen Rechten. | |
Der junge linke Filmemacher Oleksiy Radyński sagte, Europa blicke voller | |
Erschrecken in einen Spiegel, wenn man auf dem Maidan auch Neonazi-Symbole | |
neben EU-Fahnen sehe, schließlich säßen Vertreter der fremdenfeindlichen | |
extremen Rechten auch in fast jedem europäischen Parlament. | |
Am 16. Januar verabschiedete Janukowitschs Regierung „Diktaturgesetze“, mit | |
denen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit | |
aufgehoben wurde. Jeder, der sich auf dem Maidan aufhielt, wurde zu einem | |
Kriminellen erklärt. Janukowitschs Bereitschaftspolizei setzte Tränengas, | |
Gummigeschosse, Blendgranaten und bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt | |
auch Wasserwerfer ein. | |
Demonstranten verschwanden. Die Leiche eines Aktivisten wurde verstümmelt | |
und erfroren in den Wäldern gefunden. Diejenigen, die zurückkehrten, waren | |
oft entstellt, ihnen fehlte zum Beispiel ein Teil eines Ohrs. | |
## In Kyjiw schlief niemand mehr | |
Hannah Arendt beschrieb den „Charakter des verblüffend Unerwarteten, der | |
allen Anfängen innewohnt“. Als die Ukrainer am 21. November auf den Maidan | |
gingen, erwartete niemand, dort zu sterben. Aber Ende Januar, nachdem die | |
ersten Demonstranten von der Polizei erschossen worden waren, war eine | |
existenzielle Veränderung spürbar. Die Qualität der Zeitlichkeit selbst | |
veränderte sich. Die Menschen verloren das Gefühl für die Zeit, für Tag und | |
Nacht. | |
In Kyjiw schlief niemand mehr. Der Maidan lebte in einer Zeit, die Walter | |
Benjamin die „Jetztzeit“ nannte. Eine kritische Masse von Menschen hatte | |
eine Entscheidung getroffen: Sie waren bereit, dort zu sterben, wenn es | |
sein musste. | |
Dies war der Moment – so glaubt der Kunstkurator und Maidan-Aktivist Vasyl | |
Cherepanyn –, in dem die ukrainische Gesellschaft, wie sie heute existiert, | |
geboren wurde. | |
Im Februar 2014 gipfelte die Spannung des Maidans in einem Massaker, das | |
Scharfschützen anrichteten. Etwa hundert Demonstranten starben. | |
Janukowitsch floh nach Russland. [4][Der Kreml annektierte illegal die | |
Krim] und schickte „russische Touristen“ über die Grenze, um einen Krieg in | |
der Ostukraine anzuzetteln, wo eine bunt zusammengewürfelte Truppe vom | |
Kreml unterstützter Separatisten behauptete, russischsprachige Menschen vor | |
den ukrainischen Nazis zu schützen, die durch den von den USA inszenierten | |
faschistischen Putsch in der Hauptstadt an die Macht gekommen waren. | |
Dieser Krieg ist noch nicht zu Ende. | |
## Subjekte, nicht Objekte der Geschichte | |
Während des Winters 2013-2014 fragten russische Journalisten die Menschen | |
auf dem Maidan immer wieder, wer sie organisieren würde, welche Hilfe sie | |
von den Amerikanern erhielten. „Sie konnten einfach nicht begreifen“, | |
erzählte eine junge Frau, „dass wir uns selbst organisiert haben.“ Die | |
Propaganda des Kremls, die Überzeugung, dass der US-Geheimdienst oder eine | |
andere weltbeherrschende Macht die Fäden zieht, verriet nicht nur | |
böswillige Absichten, sondern auch die Unfähigkeit zu glauben, dass es so | |
etwas wie selbständig denkende und handelnde Individuen geben könnte. | |
Acht Jahre später, im Frühjahr 2022, konnten die russischen Soldaten, die | |
damals Cherson besetzt hielten, nicht glauben, dass die Menschen, die zum | |
Protestieren auf die Straße gingen, nicht von einem „Mastermind da draußen�… | |
gesteuert wurden. „Sie waren nicht in der Lage, die Möglichkeit in Betracht | |
zu ziehen, dass Menschen, denen Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung | |
am Herzen liegen, sich selbst organisieren“, erzählte eine Frau aus Cherson | |
später Journalisten. | |
Roman Ratushnyy gehörte zu der Generation, die auf dem Maidan erwachsen | |
geworden ist. Das Vermächtnis des Maidan sind Menschen, die sich als | |
Subjekte und nicht als Objekte der Geschichte sehen. Roman wurde Umwelt- | |
und Anti-Korruptions-Aktivist. Als Russland im Februar 2022 eine groß | |
angelegte Invasion startete, ging er zum Militär. | |
Im Juni 2022 wurde Roman an der Front getötet. | |
## „Nach dem Sieg“ | |
Heute sprechen die Ukrainer nicht von der Zeit „nach dem Krieg“, sie sagen | |
„nach dem Sieg“ –пiсля перемоги (pislya peremohy). „Peremoh… | |
der polnische Theaterregisseur Krzysztof Czyżewski vor – sollte Teil eines | |
neuen universellen Wortschatzes werden. Die Vorsilbe pere bezeichnet eine | |
Kreuzung und moha bedeutet „ich kann“. Peremoha – „Sieg“ – drückt | |
buchstäblich aus, dass man über das hinausgeht, wozu man in der Lage ist. | |
Wenn die Kollegen der ukrainischen Schriftstellerin Kateryna Mischtschenko | |
über den Krieg sprachen, sprachen sie über den russischen Imperialismus, | |
den Stalinismus und die Kolonialisierung. „Für mich“, schrieb Kateryna | |
Mischtschenko, „hat dieser Krieg einen ziemlich klaren Bezugspunkt – den | |
Maidan. Vielleicht lohnt es sich, an diesen Ort zurückzukehren, um die | |
Zukunft zu finden.“ | |
Unaufrichtig zu leben, bedeutete für Sartre, das Faktische in die Zukunft | |
zu projizieren und damit die Möglichkeit – und die Verantwortung – zu | |
leugnen, über das, was ist, hinauszugehen. Die Lehre des Maidan ist, dass | |
wir über das hinausgehen können, was wir bis jetzt gewesen sind. Wir können | |
es – auch wenn das Licht, das die Grenze, die die Gegenwart ist, erhellt, | |
nur in seltenen Momenten aufleuchtet, flackert und dann wieder zu | |
verschwinden scheint. | |
18 Nov 2023 | |
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