Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- US-Professorin über USA-Auswanderung: „Man spürt die Gewalt in …
> Marci Shore ist renommierte Professorin der Yale University. Jetzt
> wandert sie nach Kanada aus. Ein Gespräch über Feindeslisten,
> Waffengewalt und Schuldgefühle.
Bild: Fühlt sich schuldig: US-Professorin Marci Shore
taz: Frau Shore, Donald Trump sagte letzte Woche, dass die
US-amerikanischen Unis seiner Macht nachgeben würden. Hat er recht?
Marci Shore: Die Kapitulation der Columbia University war für alle anderen
Hochschulen sicherlich demoralisierend. Columbia ist eine große, starke
Universität, kapitulierte aber angesichts des ersten großen Angriffs
vonseiten der Regierung, der [1][Festnahme des propalästinensischen
Studenten Mahmoud Khalil], trotzdem sehr schnell. Das ist ein sehr düsteres
Zeichen. Gleichzeitig weiß ich, dass viele meiner Kollegen an anderen
Universitäten, zum Beispiel in Indiana, wo ich früher lehrte, [2][wirklich
Widerstand] leisten.
taz: Wie zum Beispiel?
Shore: Jeff Isaac, Professor für Politikwissenschaft, unterzeichnete
zusammen mit mehr als 30 weiteren jüdischen Fakultätsmitgliedern einen
Brief, worin die Universität aufgefordert wird, [3][die freie
Meinungsäußerung zu schützen]. Michael Thaddeus, Mathematikprofessor an der
Columbia, war einer unter mehreren Dutzend Fakultätsmitgliedern, die eine
Kundgebung abhielten, um gegen die Zustimmung der Universität zu den
Forderungen der Trump-Regierung [4][zu protestieren]. Deshalb würde ich
unterscheiden zwischen den Lehrenden und den Verwaltungen der
Universitäten. Ich neige dazu, den Univerwaltungen gegenüber sehr kritisch
zu sein. Vielleicht ist das nicht ganz fair, weil ich selbst administrative
Aufgaben immer vermieden habe.
taz: Sie sind Professorin für europäische Ideengeschichte an der Yale
University. Gemeinsam mit Ihrem Mann, dem renommierten Yale-Historiker
Timothy Snyder, und dem Yale-Philosophen Jason Stanley haben Sie aber
beschlossen, sich freistellen zu lassen und ins kanadische Toronto zu
ziehen. Warum?
Shore: Es war keine einfache Entscheidung. Yale ist eine ausgezeichnete
Universität, und ich bin sehr dankbar für meine Zeit dort. Gleichzeitig
gibt es viele Gründe, die nicht nur Toronto im Allgemeinen, sondern
insbesondere die Munk School of Global Affairs an der University of Toronto
besonders attraktiv machen. Es wird interdisziplinäre Forschung gefördert,
die sowohl wissenschaftlich als auch öffentlichkeitswirksam ist.
taz: Trump hat also keine große Rolle gespielt?
Shore: Wir haben auch vor der Wahl schon Pläne gehabt, Yale zu verlassen.
Ich wollte unsere Kinder aus den USA rausbringen, bevor sie in die
Highschool kommen, die beiden sind jetzt zwölf und 14. Das Problem ist die
Waffengewalt. Sandy Hook, wo 2012 bei einem Amoklauf in einer Schule 28
Menschen starben, ist nicht weit von Yale entfernt. Und Waffengewalt wird
seit Beginn dieser Trump-Amtszeit noch mehr geduldet. Ich glaube, für
Europäer:innen ist schwer zu verstehen, wie normalisiert die
Waffengewalt in den USA ist. Die Zahl der Waffen pro Kopf ist in den USA
höher als irgendwo sonst auf der Welt. Sie liegt bei mehr als einer Waffe
pro Person. Man spürt die Gewalt in der Luft. Deshalb habe ich nicht nur
Angst um meine Kinder, sondern auch vor einem Bürgerkrieg.
taz: Glauben Sie, Ihre Kinder wären in der kommenden Zeit besonders
betroffen?
Shore: Timothy ist viel weniger nervös als ich, aber Trump hat eine
Feindesliste. Ich kann natürlich nicht wissen, was genau passieren wird.
Als Historikerin habe ich aber den Totalitarismus erforscht, und ich weiß,
was eine Feindesliste bedeutet. Ich möchte nicht, dass meine Kinder
mitansehen müssen, wie ihre Eltern angegriffen werden.
taz: US-amerikanische Universitäten gehören zu den besten der Welt und sind
Symbole der Wissenschaftsfreiheit. Wie können die sich so leicht
einschüchtern lassen?
Shore: Institutionen handeln immer im Interesse des Selbsterhalts. Und die
Unis sind große Institutionen. Ich bin eine entfremdete, wurzellose,
kosmopolitische Jüdin. Ich habe nie eine Bindung zu einer Institution an
sich gespürt. Hannah Arendt hat einmal geschrieben, dass sie kein Volk,
sondern nur ihre Freunde liebe. Und so ähnlich fühle ich Loyalität nur
meinen Studierenden, meinen Kolleg:innen und einzelnen Menschen
gegenüber. Ich habe einen Brief jüdischer Lehrender verschiedener
Institutionen unterzeichnet, die gegen die Inhaftierung von Mahmoud Khalil
protestieren. Eigentlich hasse ich es, offene Briefe zu unterschreiben,
weil ich ein Kontrollfreak bin und jedes Wort selbst wählen will. Und ich
engagiere mich sehr selten ausdrücklich als Jüdin – aber in diesem Fall war
es mir wirklich wichtig. Das Regime nutzt den unaufrichtigen, zynischen
Vorwand, uns vor Antisemitismus zu schützen, als Rechtfertigung für das
Verletzen der Rechte anderer Menschen. Wenn wir als Juden das zulassen,
dann haben wir uns moralisch ruiniert.
taz: Haben Sie Angst um Ihre eigenen Studierenden?
Shore: Ende Februar habe ich nachgefragt, wie es allen geht. Ich traf die
jungen Leute auf dem Campus, in der Mensa, beim Spazierengehen, in Cafés –
an all den üblichen Orten. Jetzt habe ich dabei immer wieder die Bilder von
Rümeysa Öztürk vor Augen, der türkischen Doktorandin an der Tufts
University, die vor aller Augen auf offener Straße abgeführt wurde –
w[5][egen propalästinensischer Äußerungen]. Seitdem frage ich mich immer:
Was würde ich tun, wenn Regierungsleute kämen und eine der Studentinnen
mitnähmen, mit denen ich gerade spreche? Würde ich versuchen, diese Männer
wegzuziehen?
taz: Würden Sie?
Shore: Ich hoffe es, aber es wäre natürlich lächerlich, weil ich eine nicht
besonders starke Frau mittleren Alters bin. Welche Chance hätte ich?
Intellektuell traue ich mir zu, mutig zu sein, das ist meine
romantisch-osteuropäische Art. Wenn es einem nicht wirklich wichtig ist,
die Wahrheit zu sagen, dann sollte man gar nicht erst schreiben und
unterrichten. Aber ich traue mir nicht zu, angesichts körperlicher Gewalt
mutig zu sein.
taz: Fürchten Sie grundsätzlich eine Zunahme der Gewalt?
Shore: Während Trumps erster Amtszeit sagten die Leute immer wieder: Das
ist schlimm, aber wir haben checks and balances, also Gewaltenteilung. Es
war wie ein Mantra: einatmen, checks and balances, ausatmen, checks and
balances. Dann hat Trump die Gewaltenteilung nach und nach abgebaut. Jetzt
sagen die Leute: Die Gerichte werden ihn stoppen. Tatsächlich gibt es
Richter, die der Regierung sagen, dass es so nicht geht. Aber Trump und
seine Leute antworten: Fuck you, wir machen es trotzdem. Wer soll sie
physisch davon abhalten? Sobald es keinen Rechtsstaat mehr gibt, wird
Gewalt wahrscheinlicher. Und ich spüre das kommen. Wir haben es mit einem
Regime zu tun, das sich von Gewalt angezogen fühlt.
taz: Der Philosoph Jason Stanley sieht in den USA derzeit den Faschismus am
Werk. Teilen Sie diese Einschätzung?
Shore: Mein Standpunkt unterscheidet sich nur geringfügig von Jasons. Diese
Kategorien, die wir verwenden – Faschismus, Autoritarismus,
Totalitarismus, Konzentrationslager, Völkermord und so weiter – sind
hermeneutische und heuristische Mittel, die es uns ermöglichen,
unterschiedliche Situationen zu vergleichen. Es gab den italienischen
Faschismus, es gab den rumänischen Faschismus, es gab den
Nationalsozialismus. Alle waren singulär. Trotzdem ist der Begriff
Faschismus gut geeignet, um die Situation in den USA zu verstehen. Auch
wenn von zwölf Hauptmerkmalen des Faschismus nur zehn, neun oder acht
zutreffen.
taz: Was passiert, wenn Leute wie Sie, die die Menschen über autoritäre
Entwicklungen aufklären können, das Land verlassen?
Shore: Ich fühle mich unglaublich schuldig deswegen. Ich fühle mich, als
würde ich abhauen. Ich fühle mich in gewisser Weise als neurotische Jüdin,
die an 1933 denkt: besser früher das Land verlassen als später. Und ich
sehe die Wut, die so viele meiner ukrainischen Freund:innen und
Kolleg:innen auf die russische Opposition hatten, die geflohen ist. Sie
haben alles gegeben und sind gescheitert. Und dieses Versagen ist
vielleicht unverzeihlich und unheilbar, aber sie mussten raus aus dem Land.
Ich habe definitiv das Gefühl, dass ich nicht besser bin als sie. Ich habe
nicht das Gefühl, dass ich unter allen Umständen heldenhaft bleiben würde.
Ich werde aber meine Doktorand:innen nicht im Stich lassen, ich werde
sie bis zum Abschluss ihres Studiums beraten. Ich werde nicht damit
aufhören, die Nachrichten der Studierenden zu beantworten, die sich an
mich wenden. Ich habe also nicht vor zu verschwinden. Ich möchte weiterhin
präsent sein, aber ich fühle mich sehr schuldig. Es ist ein moralisches
Dilemma.
taz: Sie sind Expertin für die Geschichte Osteuropas. Um einmal Lenin zu
zitieren: Was tun?
Shore: Ich denke immer wieder, dass wir etwas übersehen haben müssen. Es
kann nicht sein, dass die Bösen gewinnen – nach allem, was wir aus der
Geschichte gelernt und verstanden haben. Wir unterwerfen uns einfach dieser
Tyrannei, Trump und Putin übernehmen die Welt. Mir fehlen die Worte, um
diese Art von Groteske zu beschreiben. Der Medienaktivist Tucker Carlson,
der republikanische Abgeordnete Lindsey Graham, Außenminister Marco
Rubio: Ich glaube, die wissen alle genau, was sie tun. Das sind faustische
Figuren. Meine neue Idee ist, ein Seminar über fiktive und nichtfiktive
Versionen von „Faust“ zu organisieren. Ich denke immer wieder an Lindsey
Grahams Aussage nach dem Treffen Trumps mit Wolodymyr Selenskyj im Oval
Office: „Donald Trump hat uns gerade eine Lehrstunde darin gegeben, wie man
für Amerika einsteht.“ Dabei war es eine Lehrstunde in moralischem
Nihilismus. Und Grahams Verhalten war eine Lehrstunde darüber, wie man
seine Seele dem Teufel verkauft. Vizepräsident J. D. Vance weiß
möglicherweise gar nicht, was das Böse ist. Aber Lindsey Graham und Marco
Rubio wissen es genau. Sie wissen, dass diese Politik falsch ist. Sie
wissen, dass sie am Bösen beteiligt sind, und sie haben ihren Pakt mit dem
Teufel geschlossen.
Transparenzhinweis: Der Autor ist der Familie Shore-Snyder seit 2013
persönlich verbunden.
4 Apr 2025
## LINKS
[1] /Abschiebungsplan-nach-Gaza-Protest/!6074415
[2] https://www.facebook.com/IUNewsNet/videos/676041568575852/
[3] https://democracyseminar.newschool.org/essays/letter-to-a-ukrainian-friend/
[4] https://www.nytimes.com/2025/03/24/nyregion/columbia-trump-response.html
[5] https://www.tuftsdaily.com/article/2024/03/4ftk27sm6jkj
## AUTOREN
Stefan Hunglinger
## TAGS
Schwerpunkt USA unter Trump
Universität
Wissenschaft
wochentaz
GNS
Schwerpunkt USA unter Trump
Schwerpunkt USA unter Trump
Schwerpunkt USA unter Trump
Schwerpunkt USA unter Trump
Schwerpunkt USA unter Trump
Schwerpunkt Rassismus
Maidan
## ARTIKEL ZUM THEMA
US-Regierung gegen Universitäten: „Ich hätte es für zu gefährlich gehalte…
Agnes Mueller lehrt an der University of South Carolina. Sie beobachtet,
wie die US-Regierung nicht nur an Elite-Universitäten ein Klima der Angst
erzeugt.
Streichung von Staatsgeld für Harvard: Echter Widerstand sieht anders aus
Gut so: Der Harvard-Präsident wehrt sich gegen einen fatalen Angriff der
Trump-Regierung. Doch sonst agiert die Elite-Universität in Massachusetts
eher kleinlaut.
Pro-palästinensischer Aktivist: US-Gericht erlaubt Abschiebung von Mahmoud Kha…
Die Maßnahme sei mit dem US-Einwanderungsrecht vereinbar, so die Richterin.
Ein Gericht in Washington lässt die Festnahme von Menschen ohne Papiere in
Kirchen, Schulen und Kliniken durchgehen.
+++ Die USA unter Trump +++: Mike Huckabee als Botschafter in Israel bestätigt
US-Senat bestätigt evangelikalen Annexionsfreund als Botschafter in Israel.
Trump lässt die Justiz wegen „Hochverrats“ gegen Kritiker ermitteln.
US-Migrationspolitik: USA widerrufen alle Visa für südsudanesische Staatsbür…
Die USA fühlt sich laut US-Außenminister Rubio von der Übergangsregierung
in Südsudan „ausgenutzt“. Nun wird die Visa-Vergabe ausgesetzt.
Faschismus in den USA: Sie wussten, was sie tun
Wer glaubt, die WählerInnen Trumps hätten sich täuschen lassen, irrt. Zu
offensichtlich ist, wer Trump ist und was er will, um es nicht zu erkennen.
10 Jahre Maidan-Proteste: Ganz in der Gegenwart
Vor 10 Jahren begannen in der Ukraine die Maidan-Proteste. Ihr Vermächtnis
sind Menschen, die sich selbst als Subjekte der Geschichte verstehen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.