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# taz.de -- Streit um Gedenken zum 9. November: „Leute im Publikum haben mich…
> Der US-Philosoph Jason Stanley sollte in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt
> eine Rede halten. Sie wurde abgebrochen. Stanley ist schockiert.
Bild: Synagoge in Frankfurt am Main
taz: Jason Stanley, Sie haben am Sonntagabend in der Frankfurter Synagoge
eine Rede zum 9. November und der Reichspogromnacht gehalten. Warum?
Jason Stanley: Ich habe über meine deutsch-jüdische Familie gesprochen. Wir
haben tiefe Wurzeln in Deutschland, und unsere deutsch-jüdische Tradition
liegt mir am Herzen. Meine Großmutter Ilse Stanley hat den 9. November 1938
erlebt und in ihren Memoiren beschrieben. Das habe ich in der Rede zitiert.
Ich habe auch Meinungsfreiheit und Differenzen in der jüdischen
Gemeinschaft angesprochen. Die jüdische Publizistin Masha Gessen wurde
kürzlich mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet. [1][Die Preisverleihung
wurde abgesagt, weil sie eine Analogie zwischen Gaza und dem Warschauer
Ghetto gezogen hatte.] Hannah Arendt dürfte heute in Deutschland wegen
ihrer kritischen Haltung zu Israel nicht mehr sprechen. Für Albert
Einstein, der sich für einen binationalen Staat einsetzte, gilt das
Gleiche. Beides habe ich erwähnt.
taz: Und dann?
Stanley: Leute im Publikum haben mich angeschrien. Es gab auch Beifall für
meine Rede. Aber manche haben nur gebrüllt.
taz: Warum?
Stanley: Ich habe es nicht genau verstanden. Es war eine äußerst
verstörende, bedrohliche Situation.
taz: Haben Sie Ihre Rede zu Ende gehalten?
Stanley: Nein, jemand von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt kam zu mir auf
die Bühne und forderte mich auf, die Bühne zu verlassen.
taz: Das haben Sie getan?
Stanley: Ja, am Haupteingang waren mehrere aufgebrachte, wütende Menschen.
Ich bin durch einen Seiteneingang verschwunden und in mein Hotel gegangen.
Es war sehr beunruhigend. Ich habe so etwas noch nie erlebt.
taz: Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt hatte Sie eingeladen …
Stanley: … und sie hätte dafür sorgen sollen, dass ich meine Rede zu Ende
halten kann. Es ging darin um die Reichspogromnacht und das Erbe des
Liberalismus. Dazu gehört auch die Meinungsfreiheit. Zur Meinungsfreiheit
gehört, dass es möglich sein muss, Reden zu Ende halten. Der Streit und
Meinungsfreiheit sind zentral für das Jüdische. Sehen Sie, meine Eltern
waren bei der Frage, was Israel ist, uneins. Meine Mutter, eine polnische
Jüdin, war angetan von dem jüdischen Nationalstaat. In Israel sagt sie zu
meinem Bruder: „Als ich klein war, waren alle bewaffneten Menschen gegen
mich, sie waren meine Feinde, und ich hatte Angst. Hier sind alle
bewaffneten Menschen auf meiner Seite.“ Mein Vater, ein deutsch-jüdischer
Intellektueller, war kritisch gegenüber einem Staat, der eine Religion
bevorzugte. Er lehnte die Gründung des Staates Israel nicht ab, hielt aber
die Behandlung der Palästinenser als Bürger zweiter Klasse für völlig
falsch. Solche Debatten muss man führen können.
taz: Haben Sie den Eindruck, dass es in Deutschland ein Problem mit
Meinungsfreiheit in Bezug auf Israel und Gaza gibt?
Stanley: Das drängt sich angesichts der Reaktionen auf meine Rede auf. Dort
ging es ja nur am Rande um Israel und Gaza. Ich habe auch betont, [2][dass
es in Deutschland von verschiedenen Seiten Antisemitismus gibt.]
taz: Verstehen Sie die heftige Reaktion auf Ihre Rede?
Stanley: Nein. Ich unterstütze [3][BDS, also die Sanktionsbewegung] gegen
Israel, nicht. Offensichtlich gibt es in Deutschland, auch für jüdische
Menschen, Regeln, welche Worte benutzt werden dürfen und welche nicht. Ich
bin schockiert, weil meine Ansichten eher konservativ sind – ich
unterstütze uneingeschränkt die Existenz des Staates Israel, ich halte es
für antisemitisch, Juden zum Verlassen Israels aufzurufen, ich halte die
Unterstützung der Hamas für antisemitisch und ich halte es für
antisemitisch, in Synagogen oder Schulen aufzutauchen und uns anzuschreien.
taz: Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt hat sich Montagnachmittag offiziell
von Ihnen distanziert. Sie wirft Ihnen „relativierende Vergleiche“ vor und
„bedauert aufrichtig“, Sie eingeladen zu haben. Wie finden Sie das?
Stanley: Erstaunlicherweise fehlt in der Erklärung jeder Hinweis darauf,
was an meiner Rede relativierend oder falsch gewesen sein soll. Die
Jüdische Gemeinde in Frankfurt hatte mich eingeladen, um über meine Familie
und die Reichspogromnacht zu reden. Meine Familie wurde aus Deutschland
vertrieben. Ich hatte das Gefühl, dass die Jüdische Gemeinde mich am
Sonntagabend herausgeworfen hat. Das ist unglaublich unhöflich. Und bei dem
Anlass auch irgendwie ironisch. Ich war übrigens der einzige von vier
Rednern, der sich ausführlich mit der Shoah und dem befasst hat, was am 9.
November 1938 passiert ist. Die Reaktion der Jüdischen Gemeinde in
Frankfurt ist ein Verrat an der liberalen, deutsch-jüdischen Tradition.
taz: Sie haben als Philosoph die USA verlassen und sind wegen des
politischen Drucks in Trumps Amerika nach Kanada gezogen. Sehen Sie eine
Ähnlichkeit zwischen dem, was Ihnen Sonntagabend passiert ist, und dem, was
in den USA geschieht?
Stanley: Ich weiß nicht genug über deutsche Politik, um das beurteilen zu
können. Aber dass jüdische Menschen keine Debatten führen können, ist
besorgniserregend.
10 Nov 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Israel
Jüdische Gemeinde
Meinungsfreiheit
Judentum
Antisemitismus
Reden wir darüber
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt USA unter Trump
Lesestück Recherche und Reportage
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