| # taz.de -- Faschismus in den USA: Sie wussten, was sie tun | |
| > Wer glaubt, die WählerInnen Trumps hätten sich täuschen lassen, irrt. Zu | |
| > offensichtlich ist, wer Trump ist und was er will, um es nicht zu | |
| > erkennen. | |
| Bild: Freiheit und Waffen! | |
| Am Morgen nach unserer Wahl-Katastrophe 2016 schrieb ich einen offenen | |
| Brief an einen polnischen Freund: „Wir müssen eingestehen, dass ein großer | |
| Teil des amerikanischen Wahlvolkes diesen Faschisten im Amt wollte. Ich war | |
| nie besonders patriotisch, sondern fühlte mich immer als entwurzelte | |
| Kosmopolitin. Aber diese Wahlen haben mir das Herz gebrochen.“ | |
| Damals, vor acht Jahren, hatte man das Gefühl, das Wort „Faschist“ sei zu | |
| hysterisch. Historische Vergleiche, vor allem mit den 1930er Jahren und mit | |
| dem Nationalsozialismus, beunruhigen viele Menschen – US-Amerikaner*innen, | |
| Deutsche, Jüd*innen, aus unterschiedlichen Gründen. Die überwiegende | |
| Reaktion in meinem Bekanntenkreis war: „Das ist schlimm. Aber wir schaffen | |
| das schon. Die US-amerikanischen demokratischen Institutionen sind die | |
| stärksten in der Welt; wir haben doch die checks and balances.“ | |
| Unter Liberalen wurden die checks and balances zum Yoga-Mantra: Einatmen. | |
| Checks and balances. Ausatmen. Checks and balances … Mir schien, als würden | |
| wir AmerikanerInnen wie die Passagiere der Titanic bis zum Schluss | |
| behaupten, unser Schiff sei unsinkbar. Als Historikerin weiß ich nicht, was | |
| passieren wird. Aber ich weiß – weil die Vergangenheit uns ein Gefühl dafür | |
| gibt –, was passieren kann. Klar ist, dass es so etwas wie ein unsinkbares | |
| Schiff nicht gibt. | |
| Nach den Wahlen im November 2016 wurde unsere Küche in New Haven zu einer | |
| Art sowjetischen Küche: Freunde, verwirrt, mit glasigen Augen, kamen | |
| vorbei, öffneten Weinflaschen, weinten und stellten uns, was man im | |
| Russischen die „ewigen Fragen“ nennt: Was muss jetzt getan werden? Wer ist | |
| schuld? | |
| ## Keine Illusion in Sachen Faschismus | |
| In den folgenden Wochen und Monaten schrieb da in unserer Küche bei Wein | |
| und Pizza unser Freund Jason Stanley ein Buch unter dem Namen „[1][Wie | |
| Faschismus funktioniert]“, während unsere vier Kinder (zwei von ihm, zwei | |
| von uns) umherrannten, Kissenschlachten miteinander austrugen, Legotürme | |
| bauten, Kekse stibitzten und dabei mehr über die Dreißigerjahre lernten, | |
| als Kindern zugemutet werden sollte. | |
| Jasons Buch beschreibt klassische faschistische Motive: Mythologisierung | |
| der Vergangenheit, die Naturalisierung von Hierarchien, Opferkulte, | |
| Verunsicherung hinsichtlich der Maskulinität; Scheinwelten, | |
| Sozialdarwinismus und eine Wir-gegen-die-Rhetorik. US-Liberale debattierten | |
| darüber, ob es angebracht war, das Konzept „Faschismus“ ins Feld zu führe… | |
| Wie viele Kriterien mussten erfüllt sein, um den Begriff zu rechtfertigen? | |
| Natürlich, nichts ist jemals genau dasselbe wie etwas anderes. Aber diese | |
| Art von Konzepten und historischen Vergleichen ist essenziell, um uns zu | |
| ermöglichen, Schlüsse vom Singulären ins Universelle zu ziehen. Jedenfalls | |
| arbeiteten wir hart daran, im amerikanischen Bewusstsein ein Verständnis zu | |
| erwecken, davon, was der Faschismus war, wie er funktioniert, wie er in | |
| verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Formen vorkommt und warum wir | |
| Amerikaner*innen, genau wie alle anderen, für ihn anfällig waren. | |
| In den vergangenen Wochen habe ich zwar gesehen, dass diese Bemühungen | |
| erfolgreich waren: Die Amerikaner haben den Faschismus weitgehend | |
| akzeptiert als hermeneutisches Instrument, das uns hilft, den Trumpismus zu | |
| verstehen. Andererseits sieht etwa die Hälfte der US-Amerikaner den | |
| Faschismus überhaupt nicht als etwas Schlechtes an. Vor acht Jahren glaubte | |
| ich, dass so viele Trump-Anhänger einfach nicht verstanden haben, was | |
| passiert ist. Heute habe ich ein viel schlechteres Gefühl: Ich denke, sie | |
| verstehen sehr wohl, wer Trump ist und wofür er steht. Und das ist genau | |
| das, was sie wollen. | |
| ## Unverhüllte Tatsachen | |
| Trumps ehemaliger Stabschef [2][John Kelly] sagte öffentlich, Trump hege | |
| „nichts als Verachtung“ für die Rechtsstaatlichkeit; sein | |
| Verteidigungsminister Mark Esper nannte ihn „ungeeignet für das Amt“; sein | |
| oberster General [3][Mark Milley] sagte: „Niemand war jemals so gefährlich | |
| für dieses Land wie Donald Trump. Er ist ein totaler Faschist.“ Im November | |
| 2020 rief Trump [4][Brad Raffensperger], den Secretary of State von | |
| Georgia, an und bat ihn, 11.780 weitere Stimmen für ihn zu „finden“ – ein | |
| Telefonat, das aufgezeichnet und veröffentlicht wurde. | |
| Zwei Monate später sah das Land zu, wie Trump einen [5][gewalttätigen | |
| Aufstand in der Hauptstadt] anzettelte und einen Mob billigte, der die | |
| Erhängung seines Vizepräsidenten Mike Pence forderte. Es gibt einen Grund | |
| dafür, dass bei dieser Wahl ein Platz auf Trumps Ticket frei war. In vielen | |
| slawischen Sprachen kommt der Begriff obnazhenie vor, was soviel heißt wie | |
| „Entblößung“. Vor einem Jahrhundert war dies ein Motiv der | |
| Avantgarde-Poetik („die Entblößung des Geräts“). | |
| Heute ist es ein wesentliches Element des postmodernen Neo-Totalitarismus. | |
| Nichts ist verborgen. Wladimir Putins Spin-Doktor [6][Wladislaw Surkow] | |
| beschrieb den Putinismus folgendermaßen: „Die brutalsten Strukturen seines | |
| Machtgerüsts verlaufen unmittelbar entlang der Fassade, unverschleiert | |
| durch irgendwelche architektonischen Auswüchse.“ Trump macht keinen | |
| Versuch, zu verbergen, dass für ihn alle Beziehungen transaktionaler Natur | |
| sind. | |
| Er tut nicht einmal so, als würde er Prinzipien verfolgen oder dem Leben | |
| anderer einen Wert beimessen, und er unternimmt keinerlei Versuche, | |
| Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Gewalt zu verbergen. Seine | |
| [7][Kundgebung im Madison Square Garden] vor zehn Tagen war ganz bewusst | |
| einer US-amerikanischen Nazikundgebung aus dem Jahr 1939 nachempfunden. Die | |
| Redner auf der Kundgebung bezeichneten Kamala Harris’ Berater als | |
| „Zuhälter“, Hillary Clinton als „kranken Hurensohn“ (sic!), Puerto Ric… | |
| „schwimmende Müllinsel“ und Kamala Harris als „Antichrist“. | |
| ## Weiße Vorherrschaft | |
| „Amerika ist für Amerikaner und nur für Amerikaner“, sagte Trumps | |
| politischer Berater Stephen Miller und griff damit nicht zufällig einen | |
| Redner auf der Kundgebung von 1939 auf, der versprach, „Amerika den wahren | |
| Amerikanern zurückzugeben“. Die Trumpisten sprechen die stummen Töne laut | |
| aus und versprechen weiße Vorherrschaft und Gewalt und Listen derer, die | |
| gesäubert werden sollten. Jetzt spricht Trump offen über den Einsatz des | |
| amerikanischen Militärs gegen den „Feind im Inneren“ – und seine Anhäng… | |
| scheinen es zu lieben. Es wird zu Gewalt kommen. | |
| Die Zivilisation, so sagt uns Sigmund Freud in seinem Buch „[8][Das | |
| Unbehagen in der Kultur]“ – ist auf Repression aufgebaut. Sie „muss ihre | |
| größten Anstrengungen unternehmen, um den aggressiven Instinkten des | |
| Menschen Grenzen zu setzen“. Was der Faschismus, was Trump verspricht, ist | |
| die Befreiung von der Unterdrückung. Das sei die wahre Befreiung, sagt | |
| Freud, eine Befreiung, für die wir den kleinen Preis der Zerstörung der | |
| Zivilisation zahlen. Und wir zahlen diesen Preis – und werden ihn weiter | |
| zahlen. | |
| ## Harris trifft keine Schuld | |
| Natürlich gibt es keinen perfekten Menschen, keinen perfekten Kandidaten, | |
| keinen Messias. Aber diese Wahl unterscheidet sich von 2016 – auch in der | |
| Qualität des Wahlkampfs der Demokratischen Partei. Vor acht Jahren | |
| herrschte in der Demokratischen Partei zu viel Selbstzufriedenheit; es | |
| schien unvorstellbar, dass Trump jemals gewinnen könnte. Diesmal hat | |
| [9][Joe Biden einen historischen Schritt getan] und ungeachtet seiner | |
| Fehler entsprang sein Rücktritt eindeutig einem echten Verantwortungsgefühl | |
| für sein Land. | |
| Nachdem er angekündigt hatte, dass er sich aus dem Rennen zurückziehen | |
| werde, kam es zu einer noch nie dagewesenen Einigkeit in der Demokratischen | |
| Partei. Von Doug Emhoff über Tim Walz und Pete Buttigieg bis hin zu Jamie | |
| Raskin – sie allesamt leisteten fantastische Arbeit bei der Darstellung | |
| einer fürsorglichen, weder bedrohlichen noch bedrohten Männlichkeit, die | |
| den Gegensatz zur toxischen Männlichkeit von Trump und Putin darstellt. | |
| Michelle Obama hielt noch kurz vor der Wahl eine der größten feministischen | |
| Reden aller Zeiten. Ihr tiefes Eintauchen in den Preis, den Frauen für | |
| Einschränkungen der reproduktiven Gesundheit zahlen, war brillant und mutig | |
| und einzigartig auf einer solchen politischen Bühne. Kamala Harris und Tim | |
| Walz führten ihren Wahlkampf mit außerordentlicher Energie und ließen sich | |
| von Trumps Infantilismus nicht provozieren. | |
| Dass wir Amerikaner uns selbst und alle anderen freiwillig einem Faschisten | |
| ausgeliefert haben, ist keinesfalls einem schwachen Wahlkampf von Harris | |
| zuzuschreiben, denn [10][es war kein schwacher Wahlkampf]. Und sie war auch | |
| keine schwache Kandidatin. Nur wir sind eine schwache Spezies. | |
| Nach dem Krieg schrieb Hannah Arendt, dass „wir seit vielen Jahren Deutsche | |
| treffen, die erklären, dass sie sich dafür schämen, Deutsche zu sein. Ich | |
| fühlte mich dann oft versucht, zu antworten, dass ich mich schäme, ein | |
| Mensch zu sein“. Die schreckliche Wahrheit ist, dass etwa 72 Millionen | |
| Amerikaner für Trump gestimmt haben, nicht trotz der Tatsache, dass er ein | |
| durchgeknallter Narzisst ist, sondern gerade deswegen. Seine Kampagne hatte | |
| nichts Subtiles. | |
| Wir können uns nicht herausreden, dass wir Amerikaner nicht verstanden | |
| haben, wer er ist: Er hat uns jeden Tag genau gesagt, wer er ist. Heute | |
| schäme ich mich dafür, Amerikanerin und Mensch zugleich zu sein. | |
| Aus dem Englischen von Jannik Grimmbacher | |
| 9 Nov 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://westendverlag.de/Wie-Faschismus-funktioniert/2081 | |
| [2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/usa-ex-stabschef-kelly-trump… | |
| [3] https://rp-online.de/politik/ausland/us-wahlen/mark-milley-ex-us-generalsta… | |
| [4] https://sos.ga.gov/page/about-secretary-raffensperger | |
| [5] /Abschlussbericht-zum-Sturm-aufs-Kapitol/!5901168 | |
| [6] https://www.nzz.ch/feuilleton/putins-chefdenker-wladislaw-surkow-gehoert-zu… | |
| [7] https://apnews.com/article/trump-madison-square-garden-new-york-election-fc… | |
| [8] https://www.reclam.de/detail/978-3-15-018697-8/Freud__Sigmund/Das_Unbehagen… | |
| [9] /Joe-Biden-ueber-seine-Entscheidung/!6025961 | |
| [10] /Wahlkampfendspurt-in-den-USA/!6046132 | |
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| Marci Shore | |
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