| # taz.de -- Demokratie unter Beschuss: Dialektik des Widerstandes | |
| > Die Errungenschaften der Gegenwart sind von rechts bedroht. Diese | |
| > Barbarei zu bekämpfen ist nötig und unumgänglich, zugleich aber auch zu | |
| > wenig. | |
| Bild: Verloren: Kamala Harris bei ihrer letzten Wahlkampfveranstaltung am 4.11.… | |
| „Fühlt Euch nicht in die Ecke gedrängt, eingeengt. Bewegt Euch, so gut ihr | |
| könnt, durch diese Welt um Euch herum“, schrieb Patti Smith am Tag nach der | |
| Trump-Wahl. Und endete: „Zurück an die Arbeit.“ Es war ein erster, | |
| schneller Versuch, mit dem Schock zurande zu kommen. Dieser depressiven | |
| Erstarrung. Erst heilen, erst Self Care, aber dann: „Zurück an die Arbeit.“ | |
| Ist das trotzig, kämpferisch? Oder vor allem „zurück an die Arbeit“, was … | |
| auch heißt: zurück zum Eigenen, sich nicht beirren lassen von Umständen, | |
| die womöglich so lähmen, dass einem die Fähigkeit abhandenkommt, diese | |
| Umstände zu ändern. | |
| Die Welt geht gerade ein bisschen den Bach herunter. Krieg, Krise, | |
| Verrücktheit, das Regressive, die Angst, negative Nachrichten schlagen in | |
| unsere Hirne ein. Von der „Nachrichtenerschöpfung“ sprechen schon die | |
| Zeitdiagnostiker. Die Abfolge an schlechten Nachrichten trägt selbst zur | |
| Atmosphäre der Dauergereiztheit bei, sie produziert auch einen Groll, der | |
| Ursache der nächsten schlechten Nachrichten wird. | |
| Diese Rasanz, mit der kippt, was man an Status quo erreicht zu haben | |
| glaubte, an eh nur halbwegs progressiven, pluralistischen Demokratien. | |
| Rechtsextreme werden zur Nummer eins, wie in Österreich, in Italien, der | |
| ethnonationalistische Autoritarismus [1][bringt selbst Trump zurück]. Und | |
| jetzt auch noch Neuwahlen in Deutschland, deren Ausgang ungewiss ist, aber | |
| dass die Dinge einen fulminant erfreulichen Lauf nehmen werden, ist dann | |
| doch eher unwahrscheinlich. „Zurück an die Arbeit“, das heißt auch: nicht | |
| „trotz alledem“, sondern gerade deswegen. | |
| ## Die dauernde Defensive ist eine Falle | |
| Bloß, was ist das für eine Arbeit, an die wir zurück sollen? Die | |
| Verteidigung der demokratischen Institutionen, um das Schlimmste zu | |
| verhindern? Eine ehrenwerte und nötige Sache, gewiss. Man soll die | |
| Verhinderung des Schlimmsten nicht verächtlich machen. Wir kennen diese | |
| falsche, höhnische Frage, was es denn zu verteidigen gebe in dieser Welt, | |
| die [2][viel mehr unperfekt als perfekt ist]. | |
| Andererseits: Die dauernde Defensive ist auch eine Falle. Man steht leicht | |
| ohne nennenswerte sonstige Ziele da, wenn man nur mehr das Schlimmste | |
| verhindern will und nur mehr auf die Gefahr starrt, die es abzuwenden gilt. | |
| Mehr noch: Man wird mit dem Institutionengefüge identifiziert, mit dem | |
| Status quo, dem, was sie „das System“ nennen. Wer in diese Falle tappt, | |
| steht schon fast auf verlorenem Posten. Man scheitert dann selbst an der | |
| Verteidigung dieser Institutionen, gerade weil man nur mehr als deren | |
| Verteidiger wahrgenommen wird – eine Art trauriger Dialektik. | |
| Wer nur verteidigt, verteidigt schlecht. Jeder spürt das. Widerstand ist | |
| notwendig – und zugleich viel zu wenig. | |
| [3][Es gab mehrere Gründe, warum Kamala Harris verlor] – die Misogynie war | |
| einer, ihre überstürzte Kür ein weiterer, dass sie „Regierungskandidatin“ | |
| war ein dritter. Aber das gehörte eben auch dazu: Hier stand eine | |
| erfolgreiche Frau, eine Westküsten-Starjuristin, in Designer-Hosenanzügen, | |
| der Uniform der zeitgenössischen Erfolgskultur, mit Perlenketten, und | |
| repräsentierte schon durch Bild- und Bodylanguage die Elitenkultur der | |
| Upper-Upper-Class. Also ein „System“, das viele Verlierer und Verwundete | |
| produziert. Und ihre zentrale Botschaft war: [4][Verteidigt den Status quo] | |
| gegen den Sturmlauf der Barbaren. | |
| ## Die Rechte tritt organisiert auf | |
| Wir stehen – soweit zur „Arbeit“, die wir vor uns haben – beinahe über… | |
| vor demselben Problem: Der rechtsextreme Autoritarismus hat die Hegemonie, | |
| bestimmt die Themen, das, worüber diskutiert wird, er setzt den Takt, und | |
| die anderen reagieren nur mehr darauf, [5][sogar dann, wenn er in der | |
| Minderheit ist]. Und er beutet jede Schwäche und jede Inkonsequenz | |
| schonungslos aus. Die rechten Strategen haben das gut erkannt, nämlich, | |
| dass man keine Wahlen gewinnt, bevor man nicht die Themensetzung bestimmt. | |
| Freilich gibt es natürlich nie einen Kampf um die Hegemonie, der nicht vom | |
| Gegenüber mitbestimmt wird: Denn es gibt keine Position, die sich nicht | |
| über die Gegnerschaft zu anderen Positionen definiert. Um das in Carl | |
| Schmitts Worten zu sagen, des großen Säulenheiligen der zeitgenössischen | |
| radikalen Rechten: Es gibt keine politischen Begriffe, die keine | |
| Dissoziation, also Gegnerschaft artikulieren. | |
| Bei den Rechten ist das etwa die Multikulturalität, nicht nur in Hinblick | |
| auf die Diversität der Einwanderergesellschaft, sondern auch in Hinblick | |
| auf die Werte- und Lebensstil-Diversity heutiger Gesellschaften, mit ihrem | |
| „leben und leben lassen“ und ihrem „anything goes“, ihren Genderfragen … | |
| ihren „Kulturkampf“-Triggerthemen. Auch ihre Thematiken kommen nicht aus | |
| dem Nichts, sondern aus einem Kontra, aus Gegnerschaft. | |
| ## Das Gegenmittel: inspirierendes Chaos | |
| Die Gegenwart lehrt uns, dass die Abwehr der Barbarei nicht gelingen wird, | |
| wenn sie rein defensiv bleibt. Gegenwart und Geschichte lehren, dass man | |
| einerseits das Verstunkene, das Verstockte, das Autoritäre und Repressive | |
| angreifen, dabei aber auch ein Bild künftiger besserer Lebensweisen | |
| entstehen lassen muss. | |
| Diese Visionen bilden sich im Brodelnden, Elektrisierenden des Neuen, in | |
| der Kunst, der Literatur, der Poesie, den Wissenschaften, der Architektur, | |
| mit Rationalismus, mit Stilrevolutionen; in der Verbesserung von | |
| Stadtteilen, in den kleinen Utopien hier und da, der Freude an der | |
| Freiheit. Tausende Impulse, jeder für sich scheinbar unwichtig, die sich in | |
| Summe aber zu gesellschaftlichen Atmosphären addieren. Das ist die Arbeit | |
| einer freien Zivilgesellschaft, die vordergründig überhaupt nichts mit | |
| Wahlkämpfen zu tun hat, bei der aber jede und jeder ihren kleinen Beitrag | |
| leistet, damit Wahlen anders ausgehen. Eben „Arbeit“ im vorpolitischen | |
| Raum. Gewissermaßen ein Antifaschismus, der nicht dauernd auf die | |
| Faschisten starrt. | |
| Vielleicht sollten wir Patti Smiths Aufmunterung so verstehen: Zurück | |
| jeweils an die Arbeit, die jeder von uns am besten kann. | |
| 13 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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