# taz.de -- Zehn Jahre „Euro-Maidan“ in der Ukraine: Stilles Gedenken bei M… | |
> In Kyjiw wird an die Protestbewegung Euro-Maidan erinnert. Dabei starben | |
> über 100 Menschen. Die juristische Aufarbeitung ist noch nicht | |
> abgeschlossen. | |
Bild: Stilles Gedenken an die über 100 Opfer, die im Februar 2014 in Kyjiw get… | |
Kyjiw taz | Ein Glockenschlag durchbricht die Ruhe am Dienstagvormittag. | |
Vor der kleinen Holzkapelle am Hang über dem Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz | |
spricht ein orthodoxer Geistlicher ein Gebet. Eine Sängerin mit Blumenkranz | |
im Haar singt die Nationalhymne. | |
Die Zeremonie soll an [1][den Beginn der Massenproteste gegen den früheren | |
ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch vor zehn Jahren erinnern] – | |
und der Opfer gedenken. Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt stecken die | |
Teilnehmer:innen ihre Hände tiefer in die Taschen. Die Erinnerung steht | |
deutlich unter dem Eindruck des andauernden russischen Angriffskrieges | |
gegen die Ukraine. | |
Auf dem Maidan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, im Zentrum | |
Kyjiws hatten am 21. November 2013 die Proteste, die die Ukrainer:innen | |
als Revolution der Würde bezeichnen, begonnen. Auslöser war die Weigerung | |
Janukowitschs, [2][ein lange verhandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU] | |
zu unterschreiben und die Entscheidung, sich stattdessen an Russland zu | |
binden. | |
Die zunächst überwiegend jungen Demonstrant:innen protestierten | |
friedlich. Nachdem die Polizei versuchte, den Platz gewaltsam zu räumen, | |
solidarisierten sich immer mehr Menschen. Zeitweise protestierten | |
Hunderttausende. | |
## Tod durch Schüsse | |
Rasch rückte der Protest gegen Janukowitschs korrupte Regierung in den | |
Vordergrund. Nachdem auch drakonische Gesetze, die die bürgerlichen | |
Freiheitsrechte einschränkten, die Protestwelle nicht brachen, setzte | |
Janukowitsch auf mehr Gewalt. Im Februar 2014 wurden mehr als 100 Menschen | |
durch Schüsse getötet, auch 17 Polizisten. Janukowitsch wurde schließlich | |
vom Parlament des Amtes enthoben und floh nach Russland. | |
Am Dienstag kommen ungefähr hundert Menschen im Verlauf von anderthalb | |
Stunden, hören zu, einige legen Blumen an einem Holzkreuz ab. Andere stehen | |
still vor einem Gestell neben der Kapelle, auf dem kleine Porträts der | |
Todesopfer auf Steintafeln angebracht sind. Davor flackern Grablichter. | |
Einige haben Tränen in den Augen. Ein Teilnehmer erzählt, dass in den | |
Jahren vor 2022 mehr Menschen gekommen seien. Viele frühere | |
Maidan-Aktivisten seien jetzt an der Front. | |
Die Historikerin Dariia Kondratyuk ist gekommen, um auf eine neue | |
Ausstellung des Maidan-Museums aufmerksam zu machen. Darin werden Exponate | |
aus der Zeit der Proteste gezeigt. Sie selbst sei damals erst 16 Jahre alt | |
gewesen und habe in einer Kleinstadt weiter westlich zwischen Kyjiw und | |
Lwiw Spenden für die Protestierenden gesammelt. Der Tag bedeute ihr viel. | |
„In unserer Geschichte gibt es viele Tragödien und selten konnten wir frei | |
entscheiden. Aber auf dem Maidan haben wir uns entschieden, wie wir leben | |
wollen.“ Allerdings sei dieser Weg noch nicht beendet. | |
## Tafeln für die Toten | |
Die Straße, die vom Maidan den Hügel hinauf zum Regierungsviertel führt, | |
wurde nach der Revolution in „Allee der himmlischen Hundertschaft“ | |
umbenannt. Sie ist für den Autoverkehr gesperrt. Beiderseits der Straße | |
sind ebenfalls Tafeln der Getöteten angebracht. Auch später am Tag legen | |
Menschen dort immer wieder Blumen ab. Eine Gruppe von Frauen, die aus dem | |
von russischen Truppen besetzten Teil des südukrainischen Gebietes Cherson | |
geflohen ist, singt ein Lied. | |
Die Aufarbeitung der Gewalt durch die ukrainische Justiz zieht sich seit | |
Jahren hin und ist noch immer nicht abgeschlossen. Im Oktober 2023 fällte | |
ein ukrainisches Gericht erstmals ein Urteil gegen damals beteiligte | |
Polizisten. Ein stellvertretender Regimentschef der Sondereinheit „Berkut“ | |
(Steinadler) wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Polizisten sollen | |
demnach für 15 Jahre ins Gefängnis. Die drei Männer wurden in Abwesenheit | |
verurteilt, weil sie 2019 im Zuge eines Gefangenenaustauschs an die | |
prorussischen Separatisten in der Ukraine übergeben worden waren und für | |
die Justiz nicht mehr greifbar sind. | |
Am Dienstagmorgen ist die Straße auch für Fußgänger abgesperrt. Posten in | |
Armeeuniform stoppen die Besucher auf halbem Weg. Die | |
Sicherheitsvorkehrungen haben einen Grund: Der ukrainische Präsident | |
Wolodimyir Selenski, seine Frau Olena und die Präsidentin der Republik | |
Moldau, Maia Sandu, sind gekommen, um Blumen abzulegen und der Opfer zu | |
gedenken. Selenski sagt, die Protestteilnehmer hätten damals den „ersten | |
Sieg im heutigen Krieg“ gegen Russland errungen. | |
## Unangekündigter Besuch | |
Zu einem unangekündigten Besuch war am Dienstag auch | |
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nach Kyjiw gekommen. Auch | |
er besuchte die Gedenkstätte und stellte der Ukraine weitere deutsche | |
Militärhilfen im Wert von 1,3 Milliarden Euro in Aussicht. Er sei in der | |
Ukraine, um Deutschlands „Solidarität und tiefe Verbundenheit und auch | |
unsere Bewunderung für den mutigen, tapferen und verlustreichen Kampf“ | |
auszudrücken. Die militärische Unterstützung werde dabei helfen, die | |
russische Aggression zu bekämpfen“, sagte der Minister. Geliefert werden | |
sollen nach Angaben von Pistorius weitere Flugabwehrraketensysteme vom Typ | |
Iris-T SLM. Die Hauptstadt stand am Wochenende erneut unter massivem | |
nächtlichem Drohnenbeschuss. | |
Auf eine mögliche Lieferung von hoch präzisen Taurus-Marschflugkörpern mit | |
einer Reichweite von über 500 Kilometern angesprochen, sagte der | |
Verteidigungsminister: „Es gibt keine neuen Informationen zu Taurus.“ Die | |
Ukraine fordert seit Längerem nachdrücklich die Lieferung dieser deutschen | |
Marschflugkörper. | |
Für Pistorius war es die zweite Reise in die Ukraine seit seinem | |
Amtsantritt im vergangenen Januar. Neben politischen Gesprächen mit seinem | |
ukrainischen Amtskollegen Rustem Umerow war auch Pistorius’ Besuch einer | |
Ausbildungseinrichtung des ukrainischen Militärs geplant. | |
21 Nov 2023 | |
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[1] /10-Jahre-Maidan-Proteste/!5970961 | |
[2] /EU-und-Ukraine-verhandeln-ueber-Beitritt/!5968572 | |
## AUTOREN | |
Marco Zschieck | |
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