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# taz.de -- Szenische Lesung übers Leben unter Putin: Krieg herrscht auch in R…
> Was machen die „Spezialoperationen“ mit den Menschen in Moskau? Dem spürt
> die szenische Lesung „Um acht ist es hier schon hell“ in Hamburg nach.
Bild: Zerissene Sprecherinnenposition: Dana Anofrenkova, Ute Hannig und Alina N…
In der Ukraine ist jeden Tag Krieg, seit dem Einmarsch russischer Truppen
im Februar 2022. Aber nein! Der Krieg begann bereits im März 2014 mit der
Besetzung [1][der Krim]. Und im April 2014 dann im Donezbecken, [2][dem
Donbass], ganz im Osten. Die Ukraine ist riesig – und wir hier in
Deutschland hofften 2013/14 auf die Orangene Revolution, auf ein
unabhängiges, demokratisches Land.
„Um acht ist es hier schon hell“ richtet den Scheinwerfer auf Menschen in
Moskau und ihre Sicht auf den Krieg in der Ukraine. Im Zentrum des Abends
steht Anna (Ute Hannig), eine Getriebene. „Während wir schliefen,
bombardierten wir Charkiw“: Dieser Vers der russischen Dichterin [3][Maria
Stepanova] treibt sie an, sie spuckt ihn immer wieder vor uns aus.
Anna ist zerrissen: Sie ist Ehefrau und Mutter, Freundin und
geschäftstüchtige Reisebüro-Angestellte. Ihre drei Handys, unterschiedliche
Klingeltöne, liegen bereit für jede dieser Rollen: Als Ehefrau hofft sie,
ihr Mann werde besonnen bleiben, ihrer Tochter kauft sie Eyelashes, obwohl
sie die scheußlich findet. Als Freundin testet sie, wie offen sie noch
reden kann. Und den Kunden redet sie die Wunsch-Reiseziele schön.
Anna weiß natürlich vom Krieg, auch wenn er in Russland „Spezialoperation“
genannt werden muss. Die Propaganda duldet keine Widerworte. Doch die
Gedanken sind frei: „Während wir schliefen, bombardierten wir Charkiw. /
Das Morgenrot so rot. / Und Charkiw ging in schwarzem Rauch auf.“
Anna weiß, was parallel zu ihrem Alltag in der benachbarten Ukraine
geschieht. Immer aufs neue drängen sich die Lügen des Putin-Regimes in
ihren Kopf, überlagern ihre Selbstbefragung nach eigener Schuld und
Verantwortung, nach Patriotismus und Menschlichkeit in einem Staat, der
seine Bürger belügt und seine Soldaten verheizt.
Vergeblich versucht Anna, den eigenen Opportunismus zu verdrängen. Auch das
Verdrängen gelingt nicht. Einfach überhaupt nicht mehr zu denken, wünscht
sie sich. In ihrem Schädel herrscht Unordnung. Sie trinkt ziemlich viel.
Ute Hannig spielt diese Anna kraftvoll und verletzlich zugleich. Genauer
gesagt: Sie spricht Anna – denn „Um acht ist es hier schon hell“ wird als
szenische Lesung dargeboten. Das ist nur konsequent, denn das Wirrwarr in
Annas Kopf lässt sich nicht durch Handeln beruhigen. Klingelt ein Handy,
hören wir, wie sich ihre Stimme anpasst, je nachdem, wer anruft.
Hannigs Anna wirkt nur vermeintlich stark. Sie erzählt von einem
Widerstandsakt: Im eisigen Moskauer Winter hat sie das Autofenster
heruntergekurbelt und vorbeifahrenden Militärfahrzeugen den Stinkefinger
gezeigt. Dabei erfror ihr fast der Finger, sie musste ihn wieder auftauen.
Dieser Protest könnte zum Lachen sein, wenn er nicht so vergeblich wäre.
Nein, [4][die russischen Verhältnisse] lassen sich nicht zum Tanzen
bringen. Zu opponieren, das kann tödlich sein: Boris Nemzow wurde 2015 im
Zentrum Moskaus erschossen, Alexej Navalny starb 2024 im Straflager. Auch
in Russland ist jeden Tag Krieg.
## Von der Schauspielschule in Charkiw
Wenn Anna erzählt, in ihre Handys spricht oder sich Mut antrinkt, ist sie
nicht allein: Drei Frauen lesen im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses
den Text des Autoren- und Regieduos Julia Solovieva und Evgeni
Mestetschkin. Hannig hat die ukrainischen Darstellerinnen Dana Anofrenkova
und Alina Nevmerzhitskaya an ihrer Seite. Sie sind in [5][Charkiw] auf die
Schauspielschule gegangen, vor dem Krieg. Jetzt leben sie in Hamburg.
Anofrenkova und Nevmerzhitskaya helfen Anna auf die Sprünge, wenn ihr
Gedächtnis sie im Stich lässt – eine bezeichnender Vorgang in totalitären
Verhältnissen. Im Voiceover setzen die beiden jungen Frauen ihre
Perspektiven gegen Annas Lavieren, schütteln deren Aussagen ab. Sie wollen
wieder eine Zukunft haben, frei nach Bert Brecht: Wer möchte nicht in
Frieden und Eintracht leben? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Totale Herrschaft wird dann wahrhaft total, wenn sie das private Leben der
Beherrschten in das eiserne Band des Terrors spannt. Diese Definition nach
[6][Hannah Arendt] scheint den unbedingt sehenswerten Abend zu grundieren.
„Um acht ist es hier schon hell“ beleuchtet die Moskauer Normalität im
dritten Kriegsjahr. Die Russin Solovieva, in Kursk geboren, und der aus dem
ukrainischen Lwiw stammende Mestetschkin urteilen dabei nicht. Wer
vermöchte denn ernsthaft zu sagen, ob er selbst widerständig wäre im
heutigen Moskau?
Annas Mann Sewa hat wegen einer Widersetzlichkeit zehn Jahre im Straflager
abgesessen. Seither lebt der [7][Raumfahrt-Experte] verkrochen von
Mathematik-Nachhilfe und träumt von Teleportation, vom Wegbeamen in eine
andere Realität. Anna hingegen ficht weiter ihren inneren Kampf aus. Sie
will sich und ihre Familie nicht gefährden, will aber auch vor sich selbst
bestehen können.
5 Apr 2025
## LINKS
[1] /Krim/!t5014243
[2] /Donbass/!t5018516
[3] /!6046608/
[4] /Russische-Opposition-nach-Nawalnys-Tod/!6066617
[5] /Charkiw/!t5834691
[6] /Hannah-Arendt/!t5043159
[7] /Astronaut/!t5007605
## AUTOREN
Frauke Hamann
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