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# taz.de -- Videokunst von Francis Alÿs in Köln: Und die Kinder spielen
> Ob im Kriegsgebiet oder Vorgartenidyll, der Künstler Francis Alÿs filmt
> spielende Kinder auf der ganzen Welt. Das zeigt nun das Kölner Museum
> Ludwig.
Bild: Children's Game #22 Jump Rope, Hongkong, China, 2020. Mit Rafael Ortega, …
Manchmal fragt man sich, wie Kinder es eigentlich vollbringen zu spielen.
Wie können sie selbst von krisengeplagten Orten aus versinken in diese
andere, diese abstrakte Welt, die sie förmlich wegbeamt aus der
Wirklichkeit, obwohl die tatsächliche Umgebung häufig erst den Anlass für
das Spiel bietet?
Wie bei den zwei Mädchen in Kathmandu, denen man jetzt im Kölner Museum
Ludwig in einer Videoprojektion beim Knucklebones-Spiel zusehen kann.
Barfüßig, mit Dreck unterlaufenen Zehennägeln, sitzen sie auf einem
Treppenabsatz und lassen am Wegesrand aufgeklaubte Steine auf ihren
Handflächen tänzeln. Ein Affe läuft durch das Bild, aber ihre
Aufmerksamkeit – und die Kamera des belgischen Künstlers Francis Alÿs –
gilt ganz der Choreografie der Steine.
Francis Alÿs filmt seit rund 25 Jahren Kinderspiele. Spiele aus der ganzen
Welt: Drachen steigen lassen in Afghanistan, Sandburgen bauen in
Frankreich, Seilspringen in Hongkong. „Children’s Game“ nennt er die
nunmehr 50 chronologisch nummerierten Videos sachlich. Knapp 30 sind jetzt
in der Ausstellung „Kids Take Over“ in Köln zu sehen.
Nummer Eins von 1999 (nicht in Köln zu sehen) zeigt einen Jungen, der eine
Colaflasche eine ruppig gepflasterte Asphaltstraße den Hügel hochkickt.
Hinter ihm tut sich der Grauschleier von Mexiko-Stadt auf. Kurz vor der
Hügelspitze aber lässt er die Flasche wieder in den Schlund der Stadt
zurückrollen – und es geht von vorne los. Den Mythos von Sisyphos hat Alÿs
in einer der größten Megacitys der Welt beobachtet, bei einem Kind mit
Müll.
## Die Kinder, die Dinge, das Spiel
„In den Abfallprodukten erkennen Kinder das Gesicht, das die Dingwelt
gerade ihnen, ihnen allein zukehrt“, schreibt Walter Benjamin. Kinder
würden sich damit ihre „Dingwelt bilden, eine kleine in der großen,
selbst“. Das vorgefundene Ding und das Kind verschmelzen in den Videos von
Francis Alÿs zu etwas Eigenem: Ein Junge quetscht sich in einem alten
Autoreifen und rast eine Abraumhalde im kongolesischen Lubumbashi hinunter.
Die Kamera rast mit, mal aus Sicht des Jungen, mal aus der des Reifens,
dreht sich, bleibt wieder stehen. Schnitt, Zoom raus auf die
aus[1][gelaugte Landschaft einer Kobaltmine]. Es sind bedrückende und tolle
Bilder. Kinder und ihr Spiel, bei dem Thema könnte man zur Romantisierung
neigen. Aber die Videos zeigen sie nicht in einem Rousseau’schen
Unschuldszustand. Alÿs inszeniert sie auch nicht zu schutzbedürftigen
Objekten in einer unglücklichen Welt, wie es so häufig der Fotojournalismus
tut.
Der Belgier, Jahrgang 1959, beobachtet nur, geht nah heran, bleibt
ideologisch auf Distanz. So unverstellt auf ihr Spiel geblickt, kann einem
gar mulmig werden, wie die Kinder die Härte ihrer Umgebung in die Fantasie
übertragen. Wenn sie in einer Geisterstadt in Mexiko die Verfolgungsjagden
der Drogenkartelle simulieren oder [2][Militärkontrollen im Ukrainekrieg]
nachspielen.
Routiniert winken drei ukrainische Jungs die Autos mit ihren aus Holz
gezimmerten Gewehren an den Straßenrand und lassen sich das Passwort geben:
„Paljanyzja“, „Brot“, dessen Aussprache Ukrainer:innen und Russ:innen
unterscheidet. So was zu beobachten ist rührend und schmerzhaft.
## Alÿs stellt seine Videoarbeiten öffentlich ins Internet
Alÿs’ Videos sind im Web frei zugänglich. Sie sind Public Domain. Den
öffentlichen Raum, den er in der „Children’s Game“-Serie auch beobachtet
und häufig zum Motiv seiner anderen promenadologischen Kunstprojekte macht
– ob er nun in London den Bürgersteig abläuft und mit einem Stock samt
perkusivem Effekt die Zäune zu Privatgärten entlangstreift oder ob er über
den Asphalt von Mexiko-Stadt einen Magnethund hinter sich herzieht und ihn
mit Metallabfall mästet – überträgt Francis Alÿs ins Netz.
Kunst als Gemeingut zu erklären, ist eigentlich nichts für den exklusiven
Kunstbetrieb, wo das Original und seine Verbreitung normalerweise
hochkontrolliert sind. Das kann sich Alÿs auch nur durch den Verkauf seiner
Malereien leisten – er wird unter anderem von dem Großgaleristen David
Zwirner vertreten.
Einige seiner Bilder fertigt er während seiner Reisen für die „Children's
Game“-Serie an. Sie sind auch in der Ausstellung zu sehen. Postkartengroß
nur, handwerklich perfekt, stellt er seine Figuren wie auf einer flüchtigen
Fotoaufnahme dar: Die Murmel spielenden Kinder im Irak sind ganz an den
oberen Bildrand gerückt, Mann und Frau auf einem Moped in Yazd, Iran,
verschwinden im Graubraun der Stadt.
## Die Museumsausstellung ist sinnlich überwältigend
Die Videos von Francis Alÿs auf dem heimischen Bildschirm anzuschauen, hat
nichts von der sinnlichen Überwältigung der Kölner Ausstellung. „Kids Take
Over“ ist eine Kakofonie des Spiels. Die Videos sind labyrinthisch auf
großen Leinwänden in den Raum projiziert. Kreischen, Klatschen, Hüpfen,
flirrende Seile, lachende Münder, anmutige Schatten, zerschlissene T-Shirts
mit Fly-Emirates-Logo, zünftig zugezogene Regenjacken überlagern sich zum
Rausch.
Man versinkt in diese abstrakte, innige Welt des Spiels und wird gleichsam
audiovisuell in die ungleichen Wirklichkeiten der Kinder zurückgeholt.
Nicht Spielplätze bräuchten die Kinder, sondern freie Flächen für das
fantasievolle Spiel, meint Mayen Beckmann, die Vorsitzende der Gesellschaft
für Moderne Kunst am Museum Ludwig, während der Ausstellungseröffnung.
Ein guter Gedanke für unsere europäischen, verbauten, durchgeplanten
Städte, doch kriegt er in einem Video von 2017 aus [3][Mossul] eine
tragische Wendung: In der Abendsonne spielen vor ausgebrannten Autowracks
und zerstörten Häusern Jungen auf der Straße Fußball. Applaus beim
Torschuss, Jubel bei einem guten Manöver. Aber es gibt gar keinen Ball. Der
IS hat ihn verboten, der Ball ist haram. Die Kinder haben ihn nur in ihrer
Vorstellung. Und sie haben eine durch den Krieg frei gewordene Fläche, um
sie auszuleben. Sonst nichts. Das ist auch alles furchtbar traurig.
12 Apr 2025
## LINKS
[1] /Kobaltabbau-in-der-DR-Kongo/!6016790
[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[3] /Irak/!t5009908
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
Videokunst
Kinder
Kunst
zeitgenössische Kunst
New York
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Albanien
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