# taz.de -- Gedichte von Maria Stepanova: Die Skrupellose | |
> Maria Stepanova gehört zu den herausragenden russischen Dichterinnen der | |
> Gegenwart. Ihre Lyrik fängt den postsowjetischen Alltag ein. | |
Bild: Das Gedicht schwankt zwischen Hoffnung und Urteil, Hinrichtung und Rettun… | |
Kein Gedicht steht für sich allein. [1][Maria Stepanova] hat eine | |
auffällige Vorliebe für Gedichtzyklen, in denen verschiedene Grundideen | |
umkreist und zum Sprechen gebracht werden. Dabei stellen sich immer wieder | |
neue Zusammenhänge her. | |
Der erste Zyklus, der wie das gesamte Buch „Mädchen ohne Kleider“ heißt, | |
reißt einige Motive an: Nacktheit, ein Baum, die Erde. Sie werden immer | |
weiter verfolgt, und die Assoziationen gehen dabei von Mädchen aus, die | |
sich ständig einem dominanten männlichen Blick stellen müssen, dem | |
unbedingten Machtanspruch, der Verfügbarkeit, der Gewalt. | |
Durch die Einbettung in ein bestimmtes Wortfeld, das eine Landschaft oder | |
auch abstrakte Vorstellungen aufruft, bekommt diese Grundsituation eine | |
weitere Dimension, die ins Gesellschaftliche und Historische ausgreift. Es | |
geht um das Resultat einer jahrhundertelangen Entwicklung, und untergründig | |
hat alles eine russische Färbung. | |
## Autokratische Strukturen | |
Im Zentrum steht die Unterdrückung durch eine autokratische Struktur. In | |
der unmittelbaren Gegenwart tritt das umso mehr im Mann-Frau-Verhältnis | |
zutage: „Immer sind irgendwo Mädchen ohne Kleider. / Immer ist da etwas, | |
das an ihnen frisst. / Immer ist da etwas, das von ihnen bleibt. / Immer | |
ist da etwas für immer vorbei.“ | |
Viele dieser Gedichte beginnen mit dem Wort „Immer“, um die Zeitlosigkeit | |
zu akzentuieren, ein Ausgesetztsein. „Immer ist da eine Jahreszeit“, das | |
ist der Beginn, und die nächsten Gedichte fangen an mit „Immer ist | |
Frühling“ und „Immer ist Herbst“ – es geht hier nicht um eine einlinige | |
Chronologie. Die letzte Zeile des vorangegangenen Gedichts wird in der | |
ersten Zeile des darauffolgenden Gedichts wieder aufgenommen, ein | |
Kreislauf, in dem weder ein einzelnes Individuum vorgesehen ist noch eine | |
selbstbestimmte Frau. | |
In surreal anmutenden, aber den konkreten Zusammenhang immer aufs Neue | |
akzentuierenden Szenen und Evokationen nehmen die Mädchen mitunter auch die | |
Gestalt eines „Hermelins“ an, das sich dem Jäger ausgesetzt sieht, wie | |
überhaupt Jäger, Angler und Förster aus dem alten Fundus tiefschwarzer | |
Märchen auftreten. | |
Die „Mädchen ohne Kleider“, so heißt es hier, sagen immer „Ja“ – ab… | |
diesem „Ja“ steckt auch ein Widerhaken, und es ist der Widerhaken des | |
Gedichts selbst: „In geschlossenen Mündern treibt das Ja aus, schießt ins | |
Kraut / Es wickelt sich um fremde Zungen, läuft über in andere Münder / | |
Irgendwann kommt der Tag, da der Förster der Jäger der Angler / Aufwacht | |
und einen Haken spürt in der Zunge“. | |
## Herausragende russische Dichterin | |
Die 1972 in Moskau geborene Maria Stepanova wird mittlerweile von vielen an | |
erster Stelle genannt, wenn es um herausragende aktuelle russische | |
Dichterinnen geht. Sie hat auch in Deutschland durch ihren Roman „Nach dem | |
Gedächtnis“ 2018 und dem Gedichtband „Der Körper kehrt wieder“ 2019 auf | |
sich aufmerksam gemacht. Der neue auf Deutsch erschienene Band „Mädchen | |
ohne Kleider“ besteht aus drei Gedichtzyklen, in Russland sind die Zyklen | |
Maria Stepanovas in anderen Zusammenstellungen erschienen. | |
Aber allgemein gilt jedes Mal das, was sie unter Verweis auf [2][Ossip | |
Mandelstam] und mit Blick auf zeitgeschichtliche und kulturelle | |
Zusammenhänge kürzlich geschrieben hat: nämlich dass das Gedicht | |
„schwankend am Rand eines Abgrunds“ stehe, „zwischen Hoffnung und Urteil, | |
Hinrichtung und Rettung“. | |
Sie findet dafür eine Bilderwelt, die von wenigen, scharf umrissenen Worten | |
ausgeht und ein vielschichtiges Bedeutungsfeld entwickelt. In wenigen | |
Momenten werden postsowjetische Zustände auch konkret benannt, etwa wenn es | |
um „Textilkombinate und Schwarzmarktateliers“ geht oder eine Böschung „z… | |
Wolga“ hin abfällt. | |
Auch ein Wort wie „Kabuff“, das die skrupulöse Übersetzerin Olga Radetzka… | |
findet, erzeugt solch eine spezifische Atmosphäre. Aber dass diese | |
postsowjetische Gegenwart in Zeiten der Globalisierung auch die unsere ist, | |
zeigt unter anderem der italienische Stoff, „made in China“, der im zweiten | |
Zyklus des Bandes mit dem Titel „Kleider ohne uns“ auftaucht. | |
Diese „Kleider ohne uns“ erscheinen wie eine groteske Radikalisierung der | |
„Mädchen ohne Kleider“ vorher: es geht nämlich um die Einsamkeit, um das | |
Weggeworfenwerden, um die Nutzlosigkeit des Abgelegten: „Alles bleibt, | |
alles dient einem Zweck, / Jeder Fetzen Stoff will sich bis zum Schluss | |
nützlich machen, / Sich festhalten an einem warmen menschlichen Körper, / | |
Umhüllen, umfassen, noch nicht verlassen sein“. | |
## Windstill und ohne Wasser | |
Die Mädchen und die Kleider in diesen Gedichten sind Bestandteile eines | |
aberwitzigen Traumtheaters, das die Realität umso schroffer und greller | |
ausleuchtet. Im letzten Zyklus mit dem Titel „Bist du Luft“, der aus | |
prismenartigen Vierzeilern besteht, finden sich Verse, in denen sich die | |
Poetologie Maria Stepanovas zu verdichten scheint: „Der Fluss war | |
menschenleer / Windstill und ohne Wasser / Ein nackter Hinweis auf Richtung | |
/ Nicht dorthin, nur hin“. | |
Hier ist ein Lebensgefühl eingefangen, das dem postsowjetischen Alltag und | |
den in ihn eingelagerten Traumata entspringt. Aber Maria Stepanovas Texte | |
leben auch von einer alten russischen Tradition, die seit Puschkin die | |
Möglichkeiten literarischer Gegenwelten und Horizontverschiebungen offen | |
hält, mit den Mitteln der Groteske und des Absurden, mit Trauer und sich | |
jeglicher Vernutzung entziehender Poesie. | |
Ihr neuer deutscher Band, dessen 69 Seiten auch die russischsprachigen | |
Originale enthalten, wirkt schmal. Aber er zeigt exemplarisch, wie eine | |
aktuelle poetische Sprache aus dem Bewusstsein für Zeit- und | |
Literaturgeschichte entsteht. | |
18 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Lesen-fuer-die-Ukraine/!5835005 | |
[2] /Nadeschda-Mandelstams-Erinnerungen/!5730864 | |
## AUTOREN | |
Helmut Böttiger | |
## TAGS | |
Russische Literatur | |
Gedichte | |
Poesie | |
Autorin | |
Russische Literatur | |
Familie | |
Literatur | |
Belarus | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Stalinismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Leipziger Buchpreis an Maria Stepanova: Die Stimme des anderen Russlands | |
Nach Corona findet die Leipziger Buchmesse wieder statt. Die russische | |
Schriftstellerin Maria Stepanova erhält den Buchpreis zur Europäischen | |
Verständigung. | |
Ehrung für russische Autorin: Lyrikerin in dunklen Zeiten | |
Die russische Schriftstellerin Maria Stepanova lebt im Exil in Berlin. Zur | |
Leipziger Buchmesse bekommt sie den Preis zur Europäischen Verständigung. | |
Gesammelte Gedichte von Jürgen Becker: Mit jedem Satz eine neue Zeit | |
An Jürgen Becker orientieren sich derzeit viele bekannte jüngere Lyriker. | |
Nun erscheinen zu seinem 90. Geburtstag die „Gesammelten Gedichte“. | |
Essay der Lyrikerin Volha Hapeyeva: „Sprache ist nie neutral“ | |
Die belarussische Lyrikerin Volha Hapeyeva lebt im deutschen Exil. Und | |
fühlt sich dort schon fast ein wenig zu Hause. | |
Die Krim im Ukrainekrieg: Die Suche nach Licht | |
Auf der Krim gibt es mehrheitlich Putin-Anhänger. Unsere Autorin berichtet, | |
wie sie die Stimmung auf der Halbinsel nicht mehr erträgt – und flieht. | |
Nadeschda Mandelstams Erinnerungen: Die Macht der Poesie gegen Stalin | |
Eine neue Übersetzung macht die Erinnerungen von Nadeschda Mandelstam auf | |
Deutsch zugänglich. Eine Analyse des Lebens in der totalitären Diktatur. |