| # taz.de -- Die Krim im Ukrainekrieg: Die Suche nach Licht | |
| > Auf der Krim gibt es mehrheitlich Putin-Anhänger. Unsere Autorin | |
| > berichtet, wie sie die Stimmung auf der Halbinsel nicht mehr erträgt – | |
| > und flieht. | |
| Bild: Propaganda in Simferopol: „Russland fängt keine Kriege an, sondern bee… | |
| Simferopol taz | Bewohner*innen der Krim, freut euch, dass ihr nicht | |
| bombardiert werdet!“, so lauten die Zurufe von allen Seiten. Da würde | |
| niemand widersprechen … vor allem nicht auf dem Höhepunkt des Krieges. | |
| Schon in den ersten Tagen fliegen über uns Dutzende Militärflugzeuge | |
| hinweg. Direkt über unsere Köpfe. Abends, nachts, manchmal auch tagsüber. | |
| Alle wissen bereits, was es bedeutet, dieses schreckliche Dröhnen. Sie | |
| bringen den Tod von unserer Krim in unsere Ukraine. | |
| Das tut unglaublich weh. Und in all diesen Tagen, seit dem 24. Februar, | |
| raunen wir uns zu: Das schmerzt uns, aber wir werden immerhin nicht selbst | |
| bombardiert und getötet. Doch nein, auch wir werden angegriffen, weil sie | |
| unser Land zerstören, unsere Städte, unsere Menschen. Das ist unser aller | |
| Krieg. | |
| Am 24. Februar, als sich der morgendliche Schock langsam gelegt hat, trifft | |
| sich unsere kleine Gemeinschaft ukrainischer Frauen im Zentrum von | |
| Simferopol (Hauptstadt der Krim, Anm. d. Red.). Wir gehen in die Kirche, | |
| stellen Kerzen auf, beten – den 90. Psalm, den man liest, wenn man Schutz | |
| sucht. Dann gehen wir hinaus, um an dem Schewtschenko-Denkmal (Taras | |
| Schewtschenko, bedeutendster Lyriker der Ukraine, der im 19. Jahrhundert | |
| lebte, Anm. d. Red.) die Buchstaben „Nein zum Krieg“ anzubringen. Wir | |
| fixieren sie mit Klebeband in der Hoffnung, dass jemand das lesen, dass es | |
| irgendwem dadurch leichter wird. Uns wird die Seele in Stücke gerissen. Das | |
| alles ist unmöglich zu begreifen, und dazu verspüren wir diese | |
| Machtlosigkeit. | |
| ## Hausdurchsuchung bei einer Dichterin | |
| Menschen gehen vorüber, ohne auf unser Transparent zu reagieren, alle sind | |
| mit sich selbst beschäftigt. Ein älterer, groß gewachsener Mann nähert | |
| sich, sagt, sie würden uns alle einsperren. Er zieht ein altes | |
| Tastentelefon heraus. Ich hätte es ahnen können! Einige Tage später wird in | |
| der Russischen Föderation ein neues Gesetz über die Diskreditierung der | |
| eigenen Armee verabschiedet. Auf die Worte „Nein zum Krieg“ stehen jetzt 15 | |
| Jahre Haft. | |
| Die nächsten Tage des Krieges ziehen sich schier endlos hin. Cherson, | |
| Mariupol, Charkiw, [1][Kiew]. Die Ukraine steht in Flammen und auch unsere | |
| Herzen brennen. De Verfolgung von Aktivist*innen beginnt, von Menschen, | |
| die ihren Standpunkt geäußert oder etwas in den sozialen Netzwerken | |
| veröffentlicht haben. Eine bekannte Dichterin und Lehrerin für ukrainische | |
| Sprache und Literatur, die schon in Rente ist, muss eine Hausdurchsuchung | |
| über sich ergehen lassen. Als wir sie anrufen, geht sie nicht ans Telefon. | |
| Wie schon 2014 (völkerrechtswidrige Annexion der Krim, Anm. d. Red.) suchen | |
| wir nach Kontakten, gehen zu Treffen. Dann finden wir sie, die Dichterin. | |
| Sie sagt, sie brauche keinen Anwalt. Die Nachbarn berichten, dass sie und | |
| ihr Mann die Ukraine doch so sehr liebten. | |
| Am 2. März reiche ich bei meinem Arbeitgeber die Kündigung ein. An der | |
| Seite von Menschen zu arbeiten, die für diesen Krieg sind (in ihren Worten | |
| eine „Spezialoperation“), ist mir nicht mehr möglich. Ein ständiger Strom | |
| von Hass und Wut. Sie erklären, dass das alles eine Antwort auf die | |
| ukrainische Politik im Donbass sei und darauf, dass die Krim 2014 kein | |
| Wasser und keinen Strom hatte (2014 stellte die Ukraine der Krim Strom und | |
| Wasser ab, die Stromversorgung wurde nach drei Monaten wieder aufgenommen, | |
| Anm. d. Red.). Und darüber, dass die Ukraine nicht existiere und es sie nie | |
| gegeben habe. | |
| ## Der heilige Buchstabe „Z“ | |
| An der Fassade eines alten Hauses unweit einer kleinen Station auf dem Weg | |
| in die Stadt Jewpatorija taucht eine Losung auf: „Tod den Bandera-Leuten | |
| (Anhänger*innen von Stepan Bandera, [1909–1959], nationalistischer | |
| ukrainischer Politiker, NS-Kollaborateur und Partisanenführer, Anm. d. | |
| Red.). Offensichtlich ist es der Besitzer, der die halbe Hauswand mit dem | |
| Spruch bepinselt und auch vermerkt hat, dass er für die russische Armee | |
| sei. Und natürlich klebt daneben der heilige Buchstabe „Z“. Er findet sich | |
| massenhaft als Aufkleber an den Autos derer, die für den Krieg sind und | |
| jetzt „Zetas“ genannt werden. Das „Z“ ist zum Symbol des Kampfes gegen … | |
| „Chochlis“ (schlimmes Schimpfwort für Ukrainer*innen, Anm. d. Red.) und die | |
| [2][„Nazis“] geworden – mit anderen Worten gegen uns, die Ukrainer*innen. | |
| So wird es im Fernsehen gesagt und die Menschen wiederholen das eins zu | |
| eins. | |
| Einige wenige haben Angst, dass es bald an Lebensmitteln und anderen Waren | |
| fehlen werde, sie hetzen von einem Geschäft ins nächste. Doch das führen | |
| sie nicht auf den Krieg zurück. Sie glauben, das seien nur vorübergehende | |
| Schwierigkeiten. Oder das Resultat von Sanktionen, die ihrer Meinung nach | |
| bald wieder aufgehoben würden – danach würden alle wieder ruhig und | |
| glücklich leben. Mariupol wird wieder aufgebaut und auch nach Cherzon kehrt | |
| die Ordnung zurück. So reden die Rentner*innen und die, die kurz vor dem | |
| Ruhestand sind. Währenddessen diskutieren die jungen Leute über | |
| Waffentypen, die Löhne in der Armee, doch sich dort zu verpflichten haben | |
| sie keine Eile. | |
| Das Schwerste ist, [3][wenn Menschen so reden, die dir nahestehen]. | |
| Verwandte, Freunde von Kindesbeinen an. Sie freuen sich und gratulieren | |
| einander, dass der Himmel über der Krim friedlich ist. Die „Nazis“ jedoch, | |
| sagen sie, die machten sich schon selbst den Garaus und den | |
| Zivilist*innen gleich mit. | |
| Unter solchen Menschen zu leben, wird ab einem gewissen Punkt unerträglich. | |
| Zu bleiben heißt, diejenigen zu verraten, die mittellos, zerrissen und | |
| verkrüppelt sind – die Opfer des Krieges. | |
| ## Zugfahrt durch die Hölle | |
| Zwei Wochen später klaube ich überall Geld zusammen. Ich habe einen Kredit | |
| aufgenommen, kann die fällige Rate jedoch nicht zahlen, stecke irgendwelche | |
| Sachen in zwei kleine Rucksäcke und springe in den Zug. Ich fahre auf der | |
| Route Simferopol–Moskau–Brest–Warschau ins Nirgendwo. Ja, ich fahre durch | |
| die Hölle, mit Umstieg in Moskau, aber ich habe nur Rubel und keinen | |
| anderen Weg herauszukommen. | |
| Meine Freundin aus Kindertagen, die sich als „Putinistin“ bezeichnet und an | |
| die Völkerfreundschaft glaubt, verabschiedet mich. Und ihr finster | |
| dreinblickender ältester Sohn, der schon nicht mehr weiß, was er noch | |
| glauben soll. Mein Mann kommt nicht auf den Bahnsteig, aber er hat die | |
| Abreise unterstützt, so gut er konnte. Die offizielle Version lautet, das | |
| passiere alles zu meiner Sicherheit. Denn sie (Geheimdienstler, Polizisten, | |
| mit einem Wort „Monster“) können jederzeit auftauchen. So ist es bereits | |
| unserem krimtatarischen Menschenrechtler Abdureschit Dschepparow ergangen | |
| (Dschepparow wurde Mitte März festgenommen, Anm. d. Red.). | |
| Die Fahrt nach Moskau ist qualvoll. Im Waggon wimmelt es wie in einem | |
| Ameisenhaufen. Zwei Nächte fast ohne Schlaf, es ist stickig und ich bin mit | |
| den Nerven am Ende. Ständig weint ein Kind. Und wieder Gespräche über den | |
| Krieg. Das dauere nicht mehr lange und alles werde wieder gut. | |
| Moskau ist voll von Obdachlosen und Alkoholikern. Zwei abgerissene Männer | |
| trinken in der Wartehalle des Bahnhofes Wodka, ein Polizist schimpft fast | |
| freundschaftlich und nimmt ihnen die Flasche weg. Sie sind verwirrt und | |
| besorgen sich dann Bier. Abends erreicht der Zug Brest. Mein roter (der | |
| russische, Anm. d. Red.) und mein ukrainischer biometrischer Pass reichen | |
| für eine ruhige Fahrt. | |
| ## Ein Medikament gegen Hass und Krieg | |
| Einen älteren Mann mit Koffern lassen sie nicht in den Brester Zug. Er hat | |
| nur einen ukrainischen Personalausweis. „Aber warum haben sie mir dann ein | |
| Ticket verkauft?“, fragt er verwirrt. In Brest taucht eine Frau mit Kind im | |
| Zug auf, die Kleine hat keine Dokumente. „Gehen Sie zur Botschaft“, sagt | |
| der Schaffner ungerührt. | |
| Polen ist die letzte Grenze. Ich zeige meinen Pass vor, sage, wo ich | |
| herkomme und wo ich hin möchte. „Bleiben Sie lange in Polen?“, fragt eine | |
| junge Grenzbeamte. „Das weiß ich noch nicht“, antworte ich, „vielleicht | |
| fahre ich von hier aus in die Ukraine.“ Aus irgendeinem Grund breche ich | |
| auf dieser Reise zum ersten Mal in Tränen aus. Schnell drückt die junge | |
| Frau einen Stempel in meinen Pass und winkt mich durch. | |
| Im Moment habe ich für mein Emigrantenleben keinen Plan. Wie weiter? Ja, | |
| ich bin aus der Pestbaracke geflohen, in die sich meine geliebte Krim | |
| verwandelt hat. Vor mir liegt die Suche nach neuen Wegen, einer Unterkunft, | |
| Arbeit, Menschen. Die Suche nach einem Medikament gegen Hass und Krieg. Die | |
| Suche nach Licht. Einverstanden, das klingt zu positiv, die Realität wird | |
| eine andere sein. Davon werde ich erzählen, wenn ich überlebe. | |
| Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der Panter Stiftung. | |
| Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
| 3 Apr 2022 | |
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| Olena Popowa | |
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