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# taz.de -- Angriffskrieg in der Ukraine: Die Zerstörung in Familien
> Der Krieg findet in der Ukraine statt. Aber für viele postsowjetische
> Migrant:innen wie mich liegt der persönliche Kampf in der eigenen
> Familie.
Bild: Der Krieg berührt postsowjetische Migrant:innen: 3,5 Millionen leben in …
„Wie geht es eigentlich deiner Mutter?“ Diese Frage traf mich
unvorbereitet. Ich fühlte mich erwischt, wusste nicht, was ich antworten
sollte. Ich sagte: Gut, denke ich. Und schob hinterher: ich weiß nicht. Die
ehrliche Antwort wäre gewesen, ich kann es nicht wissen, weil ich mich seit
Ausbruch [1][des erweiterten Krieges in der Ukraine] davor scheue
anzurufen. Aus Angst vor unserem Gespräch, einem falschen oder unbeholfenen
Satz von ihr, der mich wütend machen könnte. Dabei bin ich mir sicher, dass
sie diesen Krieg nicht gutheißen kann. Ich habe sie nicht angerufen: nicht
meine Mutter, nicht meine Oma oder meinen Vater. Feige bin ich, denke ich
in diesen Tagen über mich selbst, weil ich mögliche Konflikte mit ihnen
meide.
Der [2][russische Angriffskrieg, er findet in der Ukraine] statt. Aber für
viele postsowjetische Migrant:innen wie mich liegt der persönliche Kampf
auch hier, mitten in Deutschland, in der eigenen Familie. Rund 3,5
Millionen gibt es von uns, den postsowjetischen Migrant:innen. Bis zum 24.
Februar waren wir für viele meist unsichtbar oder pauschal Russen, dabei
sind wir viel diverser. Kinder und Enkelkinder derjenigen, die sich einmal
auf den Weg aus der Ukraine, aus Russland, Kasachstan oder Moldau hierher
gemacht haben, sind seit mehreren Wochen laut. Der Krieg hat uns sichtbar
gemacht.
Ich sehe Freund:innen und Bekannte, Kolleg:innen, die Unglaubliches
leisten mit ihrem Engagement: Manche empfangen seit Wochen am Hauptbahnhof
Flüchtlinge, andere schreiben Artikel oder organisieren Hilfskonvois in die
Ukraine. Wer keine direkte Familie in der Ukraine hat, hat oft
Freundschaften oder berufliche Beziehungen dorthin. Und eben auch nach
Russland.
Man kennt die einen, die vom Krieg, und die anderen, die durch ein
autoritäres Regime bedroht sind. Dazwischen stehen manchmal
Familienangehörige in Deutschland, die jede Möglichkeit hätten, ihre
Freiheit zu nutzen und sich doch dagegen entscheiden. Wo hört Verständnis
auf? Wie geht man mit dieser Zerrissenheit um?
## Seit 2014 schreien wir uns an
Diese Konfliktlinien, [3][diese Risse, sie existieren schon länger.] In
meiner Familie schrie man sich seit dem Krieg in der Ostukraine 2014 an.
Regelmäßig, im Sommer, bei unseren Besuchen in Transnistrien, meinem
Geburtsort, einer prorussischen Provinz, eingequetscht zwischen Moldau und
der Ukraine. Zwei Welten prallten da aufeinander. Ich, die Enkelin, die
Nichte und Cousine, die das Glück hatte, in Deutschland aufzuwachsen, und
dort die Großeltern, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins. Jeder Streit
endete mit meinen Tränen und dem wütenden Entschluss, mich von diesem Teil
der Familie abzuwenden. Zu groß war für mich der Meinungsgraben. Aber jedes
Mal brachte ich es nicht übers Herz.
Und heute? Hat man das Recht, weiter Kontakt zu halten? Hat man das Recht,
den Konflikt nicht zu suchen, weil man keine Lust hat auf die Verletzung
durch die eigene Familie?
Der Krieg löst eine Kette von Zerstörungen aus. Da ist die sichtbare:
zerbombte Städte und Straßen, Tote und Verletzte. Das psychische Trauma.
Von Überlebenden, ihren Angehörigen und Freund:innen, die um ihr Leben
bangten. Da ist eben auch die Zerstörung in Familien hier in Deutschland.
Bruchlinien, Risse, die sich spätestens seit 2014 angedeutet haben und nun
nicht mehr zu kaschieren sind.
Es ist nicht nur Putins Krieg, sagte mir [4][eine ukrainische Aktivistin
kürzlich]. Verantwortung tragen auch die, die auf Zivilisten schießen. Und
die bewusst nichts gegen Putin unternommen haben. Beginnt Mittäterschaft
dort, wo wir uns entscheiden, nicht zu kämpfen, nichts zu sagen? Also auch
in der Familie?
Ich habe noch keine Antwort auf diese Fragen. Aber ich glaube, dass wir sie
uns stellen müssen.
1 Apr 2022
## LINKS
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[4] /Podcast-Couchreport/!5844109
## AUTOREN
Erica Zingher
## TAGS
Kolumne Grauzone
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