# taz.de -- Nadeschda Mandelstams Erinnerungen: Die Macht der Poesie gegen Stal… | |
> Eine neue Übersetzung macht die Erinnerungen von Nadeschda Mandelstam auf | |
> Deutsch zugänglich. Eine Analyse des Lebens in der totalitären Diktatur. | |
Bild: Nadeschda Jakowlewna Mandelstam im Jahr 1920 | |
Als Nadeschda Mandelstam 1980 in Moskau starb, versiegelte der KGB sofort | |
ihre Wohnung. Kaum zu glauben, dass die freundliche alte Frau, die auf | |
einem kurzen Video von 1973 auf Youtube zu sehen ist, für den sowjetischen | |
Geheimdienst eine derartige Bedrohung gewesen sein soll. Ohne die besondere | |
Bedeutung, die die Dichtung in der russischen Kultur hat, ist auch nicht zu | |
erklären, warum es die bei ihr vermuteten Gedichte ihres Mannes Ossip | |
Mandelstam waren, vor denen die sowjetische Regierung so viel Angst hatte. | |
Aber schon der Zar hatte kritische Gedichte Puschkins aus den Akten der | |
Zensurbehörde entfernen lassen, weil er fürchtete, die damit befassten | |
Beamten könnten sie auswendig lernen und weiterverbreiten. Ossip Mandelstam | |
hielt die Poesie deshalb für eine Macht. Er meinte, „wenn man Menschen | |
umbringe, weil sie Gedichte schreiben, bedeutet das, dass der Dichtung die | |
ihr zustehende Hochachtung und der ihr zustehende Respekt erwiesen wird, | |
das bedeutet, dass man sie fürchtet, und das wiederum bedeutet, dass sie | |
eine Macht ist.“ | |
Am 1. Mai 1938 wurde Ossip Mandelstam in einem Sanatorium in Samaticha, in | |
das man ihn und seine Frau gelockt hatte, verhaftet. Am 27. Dezember 1938 | |
starb der herzkranke Dichter in einem Durchgangslager in der Nähe von | |
Wladiwostok. | |
Nadeschda Mandelstam entging nur zufällig dem gleichen Schicksal. Wie sie | |
später erfuhr, tauchten einen Tag nach ihrer Abreise bei der Vermieterin in | |
Kalinin, wo sie und Mandelstam vor seiner Verhaftung ein Zimmer gemietet | |
hatten, drei Männer mit Haftbefehl auf. In der Hoffnung, die träge | |
sowjetische Bürokratie würde sie vergessen, zog sie danach ohne festen | |
Wohnsitz von Stadt zu Stadt. | |
„Zwischen dem Tag, an dem ich von Mandelstams Tod erfuhr und jenem | |
Augenblick, als ich die Manuskripte mit den geretteten Gedichten aus dem | |
Geheimversteck nahm und sie auf den Tisch legte […] vergingen fast zwanzig | |
Jahre, und während all dieser Jahre war ich eine andere, trug gewissermaßen | |
eine eiserne Maske. Und mit niemanden konnte ich es teilen, dass ich | |
eigentlich gar nicht lebe, sondern mich tatsächlich verkrochen hatte und | |
nur auf den Moment wartete, in dem ich wieder ich selbst sein würde und | |
offen sagen konnte, worauf ich gewartet habe.“ | |
Es war klar, dass ihr herzkranker Mann das Lager nicht überleben würde. Die | |
Aufgabe, seine Gedichte zu retten, vertrieb bei Nadeschda Mandelstam die | |
Suizidgedanken. Schon während ihres gemeinsamen Lebens hatte sie viele | |
seiner Verse auswendig gelernt und Abschriften bei unterschiedlichen | |
Freunden versteckt. | |
In Strunino, wo sie in einer Spinnerei arbeitete, lief sie nachts „durch | |
die riesige Produktionshalle, und während ich die Maschinen bestückte, | |
murmelte ich Gedichte vor mich hin. Ich musste alles auswendig wissen – | |
Papier konnte beschlagnahmt werden oder diejenigen, denen ich Abschriften | |
zur Aufbewahrung übergeben hatte, konnten sie in einem Augenblick der Angst | |
ins Feuer werfen.“ | |
Als der KGB nach ihrem Tod 1980 ihre Wohnung durchsuchte, hatte sie die | |
Gedichte Mandelstams und ihre Memoiren bereits in den Westen gebracht. Die | |
„Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe“, der erste Band der | |
dreibändigen Memoiren Nadeschda Mandelstams, erschienen 1970 in einem New | |
Yorker Exilverlag und ein Jahr später auf Deutsch. Lange waren die | |
Erinnerungen Mandelstams nicht mehr lieferbar. Die Andere Bibliothek hat | |
sie nun – von Ursula Keller neu übersetzt und umsichtig kommentiert – | |
erneut herausgegeben. Zum ersten Mal steht der vollständige, ungeglättete | |
Text auf Deutsch zur Verfügung. | |
Wenn Walter Benjamin recht hat, der meinte, im Märchen werden – im | |
Gegensatz zum Mythos – die mythischen Mächte besiegt, dann hat das | |
Überleben Nadeschda Mandelstams märchenhafte Züge. Denn auch wenn in der | |
schlimmsten Zeit, in der Zeit des stalinistischen Terrors, Ossip Mandelstam | |
umgebracht werden konnte, hat Nadeschda Mandelstam letztlich mit ihrem | |
Überleben und der Rettung der Gedichte die mythischen Mächte – die „Wölf… | |
– besiegt. | |
Schon die Verse aus den beiden zu Lebzeiten Ossip Mandelstams | |
veröffentlichten Gedichtbänden hatten den Gefangenen im Gulag neuen Mut | |
gegeben. „Eine Frau, die viele Jahre in Lagern zugebracht hatte“, schreibt | |
Nadeschda Mandelstam, „erzählte mir, sie und ihre Leidensgenossinnen hätten | |
Trost in Gedichten gefunden, insbesondere in den Zeilen aus O.M.s | |
Jugendjahren ‚Dennoch lieb ich sie: arm, meine Erde – / Eine andere hab ich | |
nie gekannt‘, die sie zu ihrem Glück auswendig kannte.“ | |
Ossip Mandelstam und die Rettung seines Werks stehen im Zentrum der | |
„Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe“. Vor allem aber sind die | |
Memoiren Nadeschda Mandelstams eine detaillierte Analyse der totalitären | |
Diktatur. Bereits in den 1920er Jahren, schreibt sie, hatte die | |
Verächtlichmachung von Intellektuellen durch die Bolschewiken, die | |
Ablehnung eines „abstrakten Humanismus“, den Boden für den Terror bereitet. | |
„In früheren Zeiten hatte es viele gutherzige Menschen gegeben. Selbst | |
schlechte Menschen hatten sich den Anschein gegeben, sie seien gut, denn es | |
geziemte sich so. […] In unseren Zeiten galt es als altmodische, | |
vorgestrige Eigenschaft, gut zu sein.“ Das Wort „Gewissen“ verschwand aus | |
dem allgemeinen Sprachgebrauch. | |
Den Literaturliebhabern und Schriftstellerkollegen, die „zwei Göttern zu | |
selben Zeit dienten“, hatten Nadeschda Mandelstam und ihre Freundin, die | |
Dichterin Anna Achmatowa, den Namen „Adjudanten“ gegeben: Einerseits | |
liebten sie die Poesie, anderseits wollten sie auch gerne veröffentlichen | |
und haben dafür – natürlich „ganz unverfängliche“ – Berichte für den | |
Geheimdienst verfasst. | |
Ein Riss in der Persönlichkeit, die bei anderen durch die Familie ging: | |
„Meine Söhne lieben an erster Stelle Stalin, erst dann komme ich“, erklär… | |
Pasternaks Ehefrau Sinaida Nikolajewna. „Andere gingen nicht ganz so weit, | |
aber niemand teilte seine Zweifel mit seinen Kindern – warum sie zum Tode | |
verurteilen? Schließlich wäre es möglich, dass sie in der Schule ein | |
unachtsames Wort sagten und die ganze Familie damit in den Untergang | |
rissen.“ | |
Das Gedicht, das 1934 Anlass für Mandelstams erste Verhaftung war, war ein | |
Gedicht auf Stalin, dem „Bergmenschen im Kreml, dem Knechter, / vom | |
Verderber der Seelen und Bauernabschlächter“. Er trug es wenigen Zuhörern | |
ein einziges Mal vor, aber einer darunter muss unvorsichtig gewesen sein | |
und es weitererzählt haben, oder er war selbst ein Spitzel – Nadeschda | |
Mandelstam konnte es nie herausfinden. | |
Sicher ist, dass es kurz darauf beim Geheimdienst landete, wo es für | |
Mandelstams Akte das erste Mal aufgeschrieben wurde. Gleichzeitig schrieb | |
Mandelstam auf dem Höhepunkt seiner Verzweiflung eine Ode auf Stalin. | |
Später bat er seine Frau, sie zu vernichten. „Doch ich folgte diesem Rat | |
nicht, denn es wäre ja nicht die ganze Wahrheit. Dass die Menschen ein | |
Doppelleben führen, ist unumstößliche Tatsache dieser Epoche, und niemand | |
konnte dem entrinnen.“ | |
## Was sagen uns diese Erinnerungen heute? | |
Wenn man sich heute fragt, welche Bedeutung die Erinnerungen Nadeschda | |
Mandelstams für die Gegenwart haben, dann ist es vor allem dieser Aspekt: | |
die genaue Analyse des Lebens in der totalitären Diktatur. Wie sehr der | |
Stalinismus zur „mythischen Macht“ geworden war, lässt sich an der | |
Nachsicht erkennen, die Nadeschda Mandelstam für diejenigen aufbringt, | |
die keinen Widerstand leisteten. | |
Aber sie stellt auch die Frage: „Gab es einen Moment in unserer Geschichte, | |
in dem die Intelligenzija ihre Unabhängigkeit hätte verteidigen können? | |
Vermutlich gab es diesen Moment, aber die Intelligenzija, deren | |
Zusammenhalt noch vor der Revolution unterminiert und gespalten worden war, | |
verschwendete keinen Gedanken an ihre Unabhängigkeit, denn sie hatte | |
kapituliert und mit der Umwertung der Werte begonnen.“ | |
Die „Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe“ gibt deshalb dem alten, zur | |
Phrase gegen den Faschismus missbrauchten Spruch, „wehret den Anfängen“, | |
seine Bedeutung zurück. Nadeschda Mandelstam zeigt, wie die Zerstörung von | |
Demokratie und Menschenrechten schon lange vor dem Stalinismus begann. | |
Heute ist es die nationalistische, geschichtsklitternde Kulturpolitik | |
mancher osteuropäischer Staaten, aber auch der Trumpismus in den USA, die | |
der Diktatur den Boden bereiten wollen. „Das Jahrhundert der Wölfe“ ist | |
eine Mahnung, die deutlich macht: Glücklich ist die Gesellschaft, die | |
[1][kein märchenhaftes Überleben] von Menschen und Gedichten nötig hat. | |
Nadeschda Mandelstam: „Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe“. Aus dem | |
Russischen von Ursula Keller. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020, 792 | |
Seiten, 44 Euro | |
8 Dec 2020 | |
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[1] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5677488 | |
## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
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