# taz.de -- 13 Jahre Straflager in Russland: Stalinismus-Kritiker erneut in Haft | |
> Er suchte nach Spuren vom Großen Terror. Nun hat ein russisches Gericht | |
> Juri Dmitrijew wegen sexuellen Missbrauchs zu Lagerhaft verurteilt | |
Bild: Jagte den Geistern des Stalin-Terrors hinterher: Juri Dmiitrijew | |
Er hätte in einigen Wochen das Straflager verlassen, hätte wieder in seinen | |
Plattenbau bei Petrosawodsk in Karelien ziehen können, zu seiner Tochter | |
Katja, den beiden Enkelkindern, der Katze. Juri Dmitrijew, der sture wie | |
unerschrockene Menschenrechtler aus dem russischen Norden, hätte im | |
November seine dreieinhalb Jahre abgesessen, die er als Strafmaß wegen | |
sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter bekommen hatte. | |
Es war ein mildes Urteil, angesichts der Schwere der Tat, die dem | |
64-Jährigen zur Last gelegt worden war. Doch nun bleibt Dmitrijew in der | |
Strafkolonie. Nach einem Berufungsverfahren hat das Oberste Gericht in | |
Karelien am Dienstagabend die Strafe auf 13 Jahre erhöht. Das ist selbst | |
für Russlands oft willfährige Justiz ein Präzedenzfall. | |
Dmitrijew wird selbst von Freunden als kratzbürstig beschrieben. | |
„Chottabytsch“ nennen sie ihn, weil er durch seine Erscheinung – zottelig… | |
Haar, hageres Gesicht, Bärtchen – an einen Flaschengeist aus einem | |
sowjetischen Märchen erinnert. Sturheit und Akribie haben das einstige | |
Heimkind, das Arzthelfer werden wollte, sich als Schlosser, Hilfsarbeiter, | |
Touristenführer versuchte und später als Wachmann arbeitete, 30 Jahre lang | |
wie einen Besessenen nach Massengräbern stalinistischer Verbrechen im Land | |
suchen lassen. | |
Er wühlte in Knochen und Akten, sommers in Wäldern, winters in Archiven. Er | |
gab Hingerichteten ihre Namen zurück und den Hinterbliebenen Gedenkorte, | |
die den Großen Terror zurück ins Gedächtnis bringen. Dmitrijew brach damit | |
ein Tabu. Bis heute verweigert das offizielle Russland die Aufarbeitung | |
stalinistischer Verbrechen. | |
## Er hat die Tat stets abgestritten | |
Die Menschenrechtsorganisation Memorial, deren Kopf Dmitrijew in Karelien | |
war, nennt ihn einen politischen Gefangenen. Seine Unterstützer*innen sehen | |
das harte Urteil als Reaktion auf seinen Kampf. Er selbst hatte die | |
Anschuldigungen gegen sich stets bestritten. Die etwa 200 Nacktbilder, die | |
er von seiner Adoptivtochter Natascha machte, sollen lediglich der | |
Dokumentation ihres Gesundheitszustands gedient haben, da sie abgemagert | |
und verstört aus dem Heim zu ihm gekommen sei. | |
Neun dieser Bilder beschlagnahmten Beamte nach einem anonymen Hinweis. Bei | |
einem ersten Prozess, 2016, wurde Dmitrijew wegen zu geringer Beweislast | |
freigesprochen. Kaum frei, wurde er wieder festgenommen. Er habe die | |
Tochter unsittlich berührt. | |
Dmitrijew verteidigte sich: Er habe sie an der Unterhose berührt, um zu | |
überprüfen, ob sie eingenässt habe. Bei der Befragung durch die Behörden | |
soll die mittlerweile 15-Jährige stark unter Druck gesetzt worden sein, | |
gaben Linguisten der Akademie der Wissenschaften zu bedenken. Bedenken aber | |
spielen selten eine Rolle in russischen Gerichten. 99 Prozent aller | |
Angeklagten im Land werden verurteilt. | |
„Ich wusste, dass man mich eines Tages auf eine,Dienstreise' ins Gefängnis | |
schicken würde, ich wusste nur nicht, welchen Reisegrund man auf das | |
Formular schreiben würde“, hatte Dmitrijew einst gesagt. Es ist eine | |
„Reise“, die ihn zum Schweigen bringt. | |
30 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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