# taz.de -- Menschenrechtler*innen in Russland: Konzertierte Attacke in Moskau | |
> Unbekannte stürmen eine Filmvorführung von Memorial. Die Polizei hält | |
> jedoch die Organisator*innen und die Zuschauer*innen fest. | |
Bild: Eine Filmvorführung von „Memorial“ in Moskau wird gestört und die Z… | |
Moskau taz | Es waren die ersten Szenen angelaufen. Bilder eines | |
polnisch-britischen Filmes über einen walisischen Journalisten. Einen, der | |
1933 voller Enthusiasmus in die Sowjetunion kommt, davon überzeugt, [1][den | |
Diktator Josef Stalin] interviewen zu können. | |
Das aber klappt nicht. Der ehrgeizige junge Mann reist daraufhin auf | |
eigenes Risiko in die sowjetische Ukraine und sieht dort die Auswirkungen | |
des Holodomors, der Hungerkatastrophe der 1930er Jahre. | |
Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland hat dem Journalisten Gareth | |
Jones 2019 ihren Film „Red Secrets“ gewidmet. Ein Drama, das Stalins | |
Zwangskollektivierung der Landwirtschaft als Ursache für die bis zu sieben | |
Millionen Toten nennt. Es ist ein Film, der in Russland nicht im Verleih | |
ist. | |
Die Moskauer Menschenrechtsorganisation Memorial will Hollands Beitrag im | |
Rahmen ihrer Aufklärungsarbeit über die Verbrechen des Stalinismus dennoch | |
zeigen. Sie holt die Erlaubnis des russischen und des polnischen | |
Außenministeriums ein, weil das so Praxis ist im Land bei Filmen, die nicht | |
im Kino gelaufen sind. | |
## Sturm mit Masken | |
Ein paar ältere und ein paar jüngere Menschen nehmen am Donnerstagabend | |
Platz auf den Sitzen im Memorial-Gebäude mitten in Moskau. Doch nach zehn | |
Minuten stürmen maskierte junge Männer auf die Bühne vor der Leinwand. Sie | |
schreien: „Schnauzen herunter, ihr Verräter! Hände auf den Kopf! Ihr | |
schreibt unsere Geschichte nicht um!“ Danach laufen sie weg. | |
Herbeigerufene Sicherheitskräfte setzen daraufhin Organisator*innen | |
und Zuschauer*innen stundenlang fest. Sie sperren mit Handschellen die | |
Gebäudetüren ab, sie fragen die Besucher*innen nach ihren Vorstrafen. | |
„Wir wurden aus Opfern zu Verdächtigen“, sagt Irina Scherbakowa, die | |
Mitbegründerin von Memorial, am Morgen nach der offenbar konzertierten | |
Aktion. Damit solle weiter Druck auf die Zivilgesellschaft ausgeübt werden, | |
sagt sie. Weil der staatliche Krawall-TV-Sender NTW mit im Publikum | |
gesessen habe, erwartet Scherbakowa einen weiteren diffamierenden | |
TV-Beitrag gegen Memorial. | |
Die Menschenrechtler*innen kennen solche Angriffe. Die Organisation, | |
die das russische Justizministerium zum „ausländischen Agenten“ erklärt | |
hat, weil sie Gelder aus dem Ausland bekommt, ist immer wieder Attacken | |
ausgesetzt. Der Vorwurf von meist gewaltbereiten Traditionalisten: Memorial | |
ziehe die Vergangenheit Russlands in den Dreck. | |
## Zur Ideologie verkommen | |
Geschichte ist in Russland längst zur Ideologie verkommen. Der Kreml will | |
die Deutungshoheit der Vergangenheit nicht seinen Bürger*innen | |
überlassen. Präsident Wladimir Putin sieht sich als obersten | |
Geschichtsausleger und publiziert immer wieder seine Sicht der Dinge. | |
Russland erscheint dabei als Staat, der immer wieder von außen angegriffen | |
wird und sich wehren muss. Jeder, der diese Auslegung in Frage stellt, ruft | |
beim konservativen Teil der Gesellschaft Unmut hervor. Manchmal schlägt | |
dieser in Gewalt um. | |
Bereits vor der Attacke während der Filmvorführung bei Memorial hat ein | |
Moderator des TV-Senders „Rossija 24“ eine Memorial-Ausstellung über Frauen | |
[2][im Gulag] lächerlich gemacht. „Dieser grausame Aggressor will da | |
irgendeine Wahrheit über den Gulag zeigen.“ | |
Memorial, westlichen Botschaften und Stiftungen wie der deutschen | |
Heinrich-Böll-Stiftung wird dabei vorgeworfen, russische Kinder und | |
Jugendliche mit Bildungsprogrammen ins Ausland zu locken und sie da | |
„ideologisch zu verblenden“. „Damit sie denken, Russland sei ein Gulag“, | |
sagt der Moderator spöttisch. | |
Die Arbeit von Memorial ist derzeit unterbrochen, weil die Polizisten die | |
Feueralarm-Technik abmontieren ließen. Ohne solch ein Alarm-System darf | |
keine Organisation in Russland ihr Büro führen. Irina Scherbakowa bleibt | |
auch diesmal ruhig. „Wir müssen das schnell klären. Unsere Arbeit geht | |
weiter.“ | |
15 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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