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# taz.de -- Menschenrechte in Russland: Der Erinnerung beraubt
> Der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial droht das Aus. Die
> Opfer des sowjetischen Geheimdienstes sollen vergessen werden.
Bild: Butowo-Gedenkstätte am 30. Oktober 2021
Wenn die Sonne im Frühsommer scheint, auf dieses Feld im Süden Moskaus,
dann blendet das satte Grün rundherum fast die Augen. Eine weite
Landschaft. Ruhig ist sie, fast still – und schrecklich. Bilder von
Gefangenen, von Getöteten sind hier an eine Gedenkwand am Rande
aneinandergereiht. Magere Gesichter, in Schwarz-Weiß.
Mehr als 20.000 Menschen haben die Schergen der sowjetischen Geheimpolizei
während der stalinistischen Säuberungen der 1930er Jahre hier in Butowo
hingerichtet, mit Schüssen in den Hinterkopf, im kleinen Wäldchen in
Kommunarka bei Moskau und in Sandarmoch in Karelien, im Norden des Landes,
in Ufa, in Gorno-Altaisk und in Magadan.
An so vielen Orten quer durch Russland sind Menschen Opfer vom sowjetischen
Terror geworden. An einigen finden sich heute Denkmäler, die manchmal mit
einem Stein, manchmal mit langen Gedenktafeln und Tausenden von Namen daran
erinnern. Dass die Opfer ihre Namen zurückhaben, dass ihr Leben sichtbar
wird und ihr Sterben, dass vielleicht auch ihre Geschichte erzählt wird –
das ist mitunter der [1][Menschenrechtsorganisation Memorial] zu verdanken,
der ältesten in Russland.
Bereits zu Sowjetzeiten, als das Land sich mit der Perestroika Michail
Gorbatschows zu öffnen begann, schlossen sich Dissidenten, die einst zu
Verbannung und Straflager verurteilt worden waren, in Moskau zusammen und
fanden schnell Nachahmer im ganzen Land. Den Opfern ein Mahnmal zu
schaffen, war ihr Ziel. Damit soll nun Schluss sein.
Der russische Generalstaatsanwalt hat vor dem Obersten Gericht des Landes
die Liquidierung von Memorial gefordert. In der gegenwärtigen politischen
Lage Russlands dürfte dieser Antrag einem Urteil gleichkommen. Es ist ein
Zeugnis dessen, dass der Staat seinen Menschen ihr Gedächtnis raubt, dass
er ihre Erinnerung auslöschen will und sie mundtot macht.
## Systematisch attackiert
In den vergangenen Monaten hatte es in Russland viele Gerichtsentscheide
gegeben, die die Repressionsmaschine von Präsident Wladimir Putin
offenlegten. Organisationen und Menschen landen regelmäßig auf der Liste
„[2][ausländischer Agenten“] des Justizministeriums. Bisweilen reichte es
schon, wenn eine Tante aus Armenien Geld aufs russische Konto überwiesen
hatte. „Ausländische Finanzierung“ schrien die loyalen Beamt*innen im
vorauseilenden Gehorsam.
Memorial steht seit Jahren auf dieser Liste und hat, so der Vorwurf,
„systematisch“ gegen die Auflagen verstoßen. Seit Jahren kämpft die
Organisation gegen Attacken gewaltbereiter Traditionalisten, die die Büros
stürmen und Memorial-Mitarbeiter*innen angreifen. Die NGO kämpft gegen
diffamierende Beiträge im Staatsfernsehen, setzt sich für ihre
Vertreter*innen in den Regionen ein, die in absurden Prozessen
vorgeführt werden und in Straflager kommen.
Erst vor wenigen Wochen hatten vermummte Angreifer eine Filmvorführung von
Memorial in Moskau gestört. Die angerückte Polizei setzte aber nicht den
randalierenden Mob fest, sondern die Memorial-Mitarbeiter*innen – und
verschloss die Eingangstür von außen mit Handschellen. Ein finsteres
Symbol. Die mögliche Liquidierung von Memorial als Hüterin der Erinnerung
an Lager und Terror ist ein gewaltiger Einschnitt in der
Bürgergesellschaft.
Der Antrag überschreitet eine psychologische Barriere im immer repressiver
werdenden Apparat von Putins Russland. Und er zeigt: Das Geschichtsmonopol
hat einzig und allein der Staat. Putin als Chefhistoriker verkündet die
„historische Wahrheit“, die auf Heldentum baut. Der Staatsterror, dem
Millionen sowjetischer Bürger zum Opfer fielen, hat keinen Platz in dieser
Glanzgeschichte. Er soll vergessen werden.
Die Arbeit von Memorial beeinflusse die sittliche und geistige Entwicklung
von Kindern, heißt es auf den zwölf Seiten umfassenden Papier, mit denen
die jahrzehntelange Geschichts- und Bildungsarbeit der
Menschenrechtler*innen zunichtegemacht werden soll. Es ist also
unmoralisch, sich mit seiner Familie zu beschäftigen, mit den Großvätern,
die erschossen und verscharrt wurden, mit den Großmüttern, die jahrelang
auf eine Nachricht warteten oder ebenfalls im Lager zugrunde gingen.
## Stumme Menschen ohne Vergangenheit
Mit den Eltern, die als Kinder schon zu „Volksfeinden“ abgestempelt waren,
die gemieden wurden und gebrochen und die dieses Trauma an ihre Enkel
weitergeben. Der Schrecken der sowjetischen Vernichtungsmaschinerie prägt
jede Familie in Russland bis heute, denn es ist wenig aufgearbeitet, weil
sich Familienmythen halten und Angst allgegenwärtig ist, geschürt auch vom
jetzigen Regime, dessen Geheimdienstler stolz darauf sind, sich Tschekisten
zu nennen, wie die Geheimpolizisten schon zu Zeiten Lenins.
Der Putin’sche Apparat macht die Russ*innen zu Menschen ohne Gedächtnis
und ohne Vergangenheit. Stattdessen breitet sich Stalins Konzept von
Volksfeinden aus. Kritik am russischen Staat und an seiner Führung gilt als
Nestbeschmutzung, schnell werden die Kritiker*innen zu
Extremist*innen und Terrorist*innen erklärt.
Das Menschenrechtszentrum von Memorial hat das angemahnt, hat offen von
politischen Gefangenen in Russland gesprochen, hat sich für die Rechte
politisch Verfolgter im Nordkaukasus eingesetzt und für die [3][Rechte von
LGBTQI+], für all das „Böse“ in den Augen der konservativen Führung des
Landes also – und wird nun bezichtigt, Extremismus und Terrorismus zu
unterstützen.
Die Menschen sollen verstummen, die Jugendlichen nicht mehr herausfinden,
was sich vor Jahrzehnten in ihrer Umgebung abgespielt hatte. Die
Vergangenheit ist tabu, die Gegenwart vom Staat kontrolliert. Die
Einschüchterung setzt sich fort und zeigt sich in den Reaktionen nach der
schockierenden Nachricht vom drohenden Aus für Memorial: Viele Menschen im
Land nehmen sie als alltäglich hin.
17 Nov 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Inna Hartwich
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