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# taz.de -- Menschenrechtsorganisation Memorial: Lautes Schweigen
> Der Protest von Historikern in Deutschland zum Memorial-Verbot ist lau
> und halbherzig. Die eigenen Forschungsinteressen sind ihnen wichtiger.
Bild: „Wir sind Memorial“ am Solowezki-Stein in St. Petersburg Ende Dezembe…
Memorial, die älteste und wichtigste Menschenrechtsorganisation in
Russland, wurde am 28. Dezember 2021 – mit dem Einverständnis des
Präsidenten Wladimir Putin – [1][vom Obersten Gericht verboten]. Der
absurde Vorwurf: Agententätigkeit. Dem folgte das Verbot des Moskauer
Memorial-Menschenrechtszentrums. Memorial wurde auch vorgeworfen, „Lügen
über die UdSSR“ zu verbreiten, sie als „Terrorstaat“ darzustellen und
„staatliche Organe mit Kritik zu überziehen“.
Als Historiker können wir uns nur wundern, dass die große Mehrheit der
deutschen Historiker dieses Verbot offenbar gleichgültig und weitgehend
schweigend hinnimmt. Niemand in Deutschland hat bislang angekündigt, die
Zusammenarbeit mit staatlichen russischen Institutionen der
Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik einzustellen, so lange
Memorial verboten ist. Wie aber kann irgendwer offiziell mit russischen
geschichtswissenschaftlichen Institutionen zusammenarbeiten, wenn
gleichzeitig jene Russinnen und Russen, die die kommunistische
Vergangenheit aufarbeiten, kriminalisiert werden?
Das Verbot vollzog sich vor dem Hintergrund der schon seit Jahren
andauernden Versuche Putins, die [2][Geschichte der Sowjetunion
umzudeuten]. Der Massenmord der kommunistischen Diktatur an der eigenen
Bevölkerung wird aus dem Selbstbild der heute in Russland Herrschenden
verdrängt und die sowjetische Rolle beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
verschwiegen. So wird die Geschichte des Landes zu einer Kette ruhmreicher
Erfolge, die alle Niederlagen und Massenverbrechen überstrahlt.
Schmerzhafte Erinnerungen vieler Russen an die Opfer des Kommunismus stören
und sollen beseitigt werden. Sie sind aber unverzichtbar für die Zukunft
eines demokratischen Russlands.
Hinter dem Verbot steht auch die Auffassung, dass der Staat grundsätzlich
nicht kritisiert werden darf. Das ist ein Schlag ins Gesicht aller, die
sich mit russischer und sowjetischer Geschichte beschäftigen, die
Verbrechen Stalins aufklären und die an einem guten deutsch-russischen
Verhältnis interessiert sind. Memorial will nicht aufgeben, sich juristisch
wehren und andere Möglichkeiten finden, die Arbeit legal fortzusetzen. In
jedem Fall muss es dafür internationale Unterstützung geben.
## Heute sind die Proteste formal, lau, halbherzig
Gegen das Verbot Memorials gibt es weltweit Proteste. In Deutschland nahm
der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands das drohende
Verbot von Memorial „mit großer Besorgnis zur Kenntnis“ und wandte sich
gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde mit einer
Erklärung an russische Behörden und die Europäische Union. Früh und
konsequent prangerte die Zeitschrift Osteuropa eine Verletzung der
Menschenrechte an, würdigte Memorial als „moralisches Rückgrat der
russischen Zivilgesellschaft“. Ähnlich urteilten auch die Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und verschiedene Einrichtungen der
Zivilgesellschaft. Das Deutsch-Russische Forum hielt das Verbot für
„ungerechtfertigt“. Andere schweigen.
Trotz der genannten Beispiele blieben die deutschen Historiker insgesamt
sehr zurückhaltend mit ihren Kommentaren – als vor vierzig Jahren in Polen
das Kriegsrecht verhängt worden war und polnische Historiker zu den
Internierten zählten, erhoben sich viele prominente Stimmen aus der
bundesdeutschen Historikerschaft. Heute sind die Proteste formal, lau,
halbherzig. Wäre es nicht angemessener, wenn die Bundesregierung den
Botschafter aus Moskau zur Berichterstattung zurückbeordert oder den
russischen Botschafter ins Auswärtige Amt einbestellte?
Das eisige Schweigen der historischen Zunft ist enttäuschend. Auch die
Stimmen der meisten Russlandkenner waren kaum zu hören. Woran könnte das
liegen? Geht es vielleicht doch um eine ungestörte Zusammenarbeit mit
russischen Einrichtungen, um den Zugang zu Archiven, um die Fortsetzung
begonnener Projekte und darum, deren Finanzierung nicht zu gefährden? Wenn
dies so wäre, dann käme es einer moralischen Bankrotterklärung gleich und
wäre ein Verrat an den Ideen und dem Engagement von Memorial.
Der pflichtbewusste Protest unmittelbar nach dem Verbot ist inzwischen
zudem sehr schnell völlig abgeflaut. Deutsche Historiker dürfen auch aus
wissenschaftlichen Gründen nicht schweigen, wenn in Russland Geschichte
uminterpretiert und zur Stabilisierung der Macht eines autoritären Systems
benutzt wird. Es wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, wenn die
deutschen Mitglieder der Deutsch-Russischen Geschichtskommission – einer
zwischenstaatlichen Einrichtung – zurückträten, um ein Zeichen zu setzen.
Sie können unmöglich auf der bisherigen Geschäftsgrundlage mit vom
russischen Staat bestellten Historikern über die sowjetische Geschichte
zusammenarbeiten, während gleichzeitig Memorial als „kriminelle
Organisation“ verfolgt wird. Besonders Historiker sollten wissen, dass
Appeasement Grenzen kennen muss.
Wen das Memorial-Verbot in Bezug auf das eigene Handeln unbeeindruckt
lässt, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er dieses Vorgehen
damit legitimiert und den russischen Bürgerrechtlern in den Rücken fällt.
Klare Handlungen und Meinungsäußerungen sind nötig. Memorial ist der
wichtigste Partner derjenigen, die sich in der Tradition der Revolutionen
von 1989/90 und der mittelosteuropäischen Dissidenten mit der Geschichte
der kommunistischen Diktaturen auseinandersetzen.
Letztlich geht es darum, [3][Wissenschaftlichkeit und Freiheit zu
verteidigen]. Sollte dies nicht geschehen, verliert die deutsche
Historiografie ein Stück ihres wissenschaftlichen Ansehens. Wir wissen als
Ostdeutsche nur allzu gut, wie schwer die Kumpanei westlicher Partner mit
den Kommunisten schmerzte. Freiheit verraten können nur die, die in
Freiheit leben.
28 Jan 2022
## LINKS
[1] /Russland-geht-gegen-NGO-vor/!5822050
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[3] /Menschenrechtlerinnen-ueber-Russland/!5812242
## AUTOREN
Ilko-Sascha Kowalczuk
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