# taz.de -- Menschenrechtlerinnen über Russland: „Vernichtung der Zivilgesel… | |
> In Russland soll die Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst | |
> werden. Swetlana Gannuschkina und Lena Zhemkova berichten von den | |
> Repressionen. | |
Bild: Stalin-Grab: Russlands Kommunistische Partei sorgt für Blumen-Nachschub | |
taz: Frau Gannuschkina, Frau Zhemkova, die russische | |
Generalstaatsanwaltschaft will Ihre Nichtregierungsorganisation | |
[1][Memorial schließen]. Wie bewerten Sie diesen Schritt? | |
Swetlana Gannuschkina: Es wundert mich nicht. Schon Ende letzten und Anfang | |
dieses Jahres war klar geworden, dass es bei dem Gesetz zu den | |
„ausländischen Agenten“ (Organisationen und Medien, die Geld aus dem | |
Ausland erhalten und nach Auffassung der Behörden politisch arbeiten, | |
werden vom Justizministerium seit 2012 als „ausländische Agenten“ | |
registriert, Anm. d. Red.) um mehr geht als ein paar Einschränkungen. Denn | |
vor knapp einem Jahr hat man angefangen, den Begriff „ausländischer Agent“ | |
auch auf Medien und natürliche Personen anzuwenden. Und das hat gezeigt: | |
Das Handeln der Behörden läuft auf eine Vernichtung der gesamten | |
Zivilgesellschaft hinaus. | |
Wenn die Generalstaatsanwaltschaft mit der Schließung von Memorial | |
durchkommt, dann wird sich die Verschärfung der Repressionen insgesamt | |
beschleunigen. Ich denke, die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa | |
muss hierzu Stellung beziehen. Manche haben uns geraten, uns direkt an | |
Putin zu wenden. Aber ehrlich gesagt wäre das so, als würde man sich bei | |
der Katze über ihre Krallen beschweren. | |
Am 15. Oktober ist auf eine [2][Filmvorführung von Memorial ein Überfall] | |
verübt worden. Anschließend hat die Polizei Besucher und Mitglieder von | |
Memorial sechs Stunden lang festgehalten – und nicht die Täter. Wie | |
erklären Sie sich diese Repressionen staatlicher Organe gegen Memorial? | |
Lena Zhemkova: Die unabhängigen Positionen von Memorial sind den russischen | |
Machthabern ein Dorn im Auge. Die diskriminierenden Gesetze der letzten | |
zehn Jahre haben eine sehr negative Stimmung Memorial gegenüber erzeugt. | |
Der Überfall vom 15. Oktober war kein Zufall, er war geplant und wurde | |
organisiert durchgeführt. Vielleicht war unsere wunderbare [3][Ausstellung | |
über Frauen im G][4][ulag], die wir am 5. Oktober eröffnet hatten, ein | |
Grund für die Attacke. Dafür haben wir sehr viele positive Reaktionen | |
bekommen, und die wiederum wirken der schlechten Stimmung, die von | |
staatlicher Seite gegen uns erzeugt wurde, entgegen. Also sahen sich die | |
Behörden zu gewissen Schritten gezwungen. | |
Swetlana Gannuschkina: Die russischen Behörden behaupten, dass wir | |
politische Arbeit machen würden. Doch das stimmt nicht. Wir üben nur | |
konstruktive Kritik an der Politik der Machthaber und wollen nicht selbst | |
ans Steuer. Wir sind wie ein Gast im Restaurant, der sich beim Kellner über | |
das schlechte Essen beklagt: Nur weil er sich beschwert, heißt das noch | |
lange nicht, dass er nun in diesem Restaurant Koch werden will. | |
Wenn Sie gar keine politische Arbeit machen, wie erklären Sie sich dann das | |
Missfallen, das Sie offensichtlich bei den Behörden auslösen? | |
Swetlana Gannuschkina: Anders Denken wird heute in Russland mit Extremismus | |
gleichgesetzt. Jegliche Kritik an den aktuellen Machthabern, aber auch an | |
den Herrschern der Sowjetunion ist verboten. Das wundert mich nicht. Immer | |
häufiger sieht man in den Büros von Innenministerium und | |
Inlandsgeheimdienst Porträts vom ehemaligen Diktator Josef Stalin und | |
dessen Geheimdienstchef Felix Dserschinski. | |
Lena Zhemkova: Wir haben in Russland keine Debattenkultur mehr. Schon in | |
der Schule müssen Kinder Dinge einfach nur auswendig lernen. Niemand | |
erklärt ihnen, dass man gesellschaftliche Fragen mit sehr unterschiedlichen | |
Sichtweisen betrachten kann. Die Putin-Regierung will eine solche | |
Debattenkultur nicht. Unsere Machthaber wollen die Gesellschaft vielmehr | |
total kontrollieren. Sogar völlig unpolitische | |
Nichtregierungsorganisationen wie die „Liebhaber des Bieres“ werden schon | |
mit Misstrauen betrachtet. | |
Dabei zeigt sich in Umfragen und bei Protesten auf den Straßen: Die | |
Bevölkerung Russlands ist unzufrieden. | |
Lena Zhemkova: Tatsächlich wächst die Unzufriedenheit, und das hat vor | |
allem soziale Gründe. Die Preise steigen: Allein in den letzten Wochen ist | |
Brot um 20 Prozent teurer geworden. Auch Medikamente sind sehr teuer: | |
Statin, ein Mittel gegen erhöhte Cholesterinwerte, kostet bei uns 50 Euro. | |
Zum Vergleich: In Griechenland kostet die Packung nur 25 Euro. | |
Swetlana Gannuschkina: Doch diese Unzufriedenheit wird vom Staat und den | |
von ihm kontrollierten Medien auf andere umgeleitet: In den Medien wird | |
gegen Migranten und angebliche Spione gehetzt, die an allem schuld seien | |
sollen. Daraus wird dann Hass. | |
Wie wirkt sich dieses Gesetz zu „ausländischen Agenten“ konkret auf die | |
Arbeit Ihrer Organisation aus? | |
Swetlana Gannuschkina: Gerade in der Arbeit mit Migranten ist eine gute | |
Zusammenarbeit zwischen Nichtregierungsorganisationen und den staatlichen | |
Behörden wichtig. Diese Zusammenarbeit war einige Jahre sehr konstruktiv. | |
Doch das Gesetz zu „ausländischen Agenten“, das auch uns gezwungen hat, uns | |
als „Agenten“ registrieren zu lassen, hat diese Zusammenarbeit zerstört. | |
Welcher Beamte einer Migrationsbehörde oder des Innenministeriums nimmt | |
schon eine Einladung einer Organisation an, die die Bezeichnung | |
„ausländischer Agent“ in ihrem Titel führen muss? | |
Lena Zhemkova: Ich sehe einen direkten Zusammenhang zwischen dem | |
diskriminierenden Gesetz zu „ausländischen Agenten“ und dem Überfall auf | |
die Memorial-Veranstaltung am 15. Oktober. Seit 2014 wurde in Russland eine | |
Reihe von Gesetzen verabschiedet, die sich gegen | |
Nichtregierungsorganisationen richteten und deren Arbeit behindern sollen. | |
Das Agenten-Gesetz hat genauso wie das Gesetz über „unerwünschte | |
Organisationen“ (das ausländischen NGOs in Russland jederzeit die Arbeit | |
verbieten kann, Anm. d. Red.) vor allem eine Aufgabe: in der Bevölkerung | |
eine Stimmung des Hasses gegen uns zu schaffen. Nur durch diese | |
aufgebrachten Stimmung wurde der Überfall auf unsere Organisation möglich. | |
Wie wird sich unter diesen Vorzeichen die Arbeit von Memorial und anderen | |
NGOs in Russland in Zukunft gestalten? | |
Lena Zhemkova: [5][All diese Repressionen] führen dazu, dass wir | |
Nichtregierungsorganisationen eine kleine Gruppe bleiben werden. Wer hat | |
schon Interesse, sich einem „ausländischen Agenten“ anzuschließen? Trotzd… | |
glaube ich nicht, dass die Repressionen von Dauer sein werden. Nach dem | |
Zusammenbruch der Sowjetunion dominierten in der Gesellschaft eine lange | |
Zeit Veränderungen und damit verbundene Hoffnungen. Ich bin sicher, dass | |
wir wieder so eine Zeit der Hoffnungen erleben werden. | |
Swetlana Gannuschkina: Wir Menschenrechtler sollten unsere Konsequenzen aus | |
den [6][letzten Übergriffen] ziehen. Wir brauchen eine bessere | |
Zusammenarbeit mit der Polizei. Wir müssen sie vorab informieren, wenn wir | |
die Befürchtung haben, dass man eine unserer Veranstaltungen mit Gewalt | |
stören will. Da wir wissen, dass die Polizei häufig nicht bereit ist, uns | |
zu schützen, müssen wir aber auch bereit zur Selbstverteidigung sein. Das | |
bedeutet: Wenn wir mit Gewalt angegriffen werden, müssen wir uns auch mit | |
physischer Gewalt verteidigen dürfen. Wir müssen Gruppen sportlicher junger | |
Männer haben, die bereit sind, unsere Versammlungsfreiheit zu verteidigen | |
und Angreifer mit körperlicher Gewalt des Saales zu verweisen. | |
17 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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