# taz.de -- Menschenrechtler in Russland: Tod im Gefängnis | |
> Der Historiker Sergej Koltyrin ist einem Krebsleiden erlegen. Er hatte | |
> sich der Aufarbeitung von Verbrechen in der Stalin-Zeit gewidmet. | |
Bild: Sergej Koltyrin kümmerte sich um die Erinnerungskultur der Erschießunge… | |
MÖNCHENGLADBACH taz | Ende hinter Gittern: Der bekannte russische | |
Historiker Sergej Koltyrin ist am Donnerstag in Karelien in einem | |
Gefängniskrankenhaus an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. Er | |
wurde 66 Jahre alt. Das berichtet die Internet-Plattform Karelia News. | |
Ende Mai 2019 war Koltyrin von einem Gericht in dem karelischen Städtchen | |
Medweschegorsk zu einer Haftstrafe von neun Jahren verurteilt worden. Das | |
Gericht sah es als erwiesen an, dass der renommierte Wissenschaftler mit | |
einem Jungen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren Sex gehabt und er zudem | |
widerrechtlich Waffen besessen haben soll. | |
Kotryn selbst, so das russische Internet-Portal Ovdinfo, habe dies | |
bestritten. Das Staatliche Ermittlungsbüro Kareliens hingegen gibt an, | |
Koltyrin und ein weiterer Mittäter hätten ihre Schuld eingestanden. | |
Als Direktor des Museums Medweschegorsk war Koltyrin auch für die 12 | |
Kilometer von seinem Museum entfernte Gedenkstätte Sandarmoch zuständig. In | |
diesem Waldgebiet waren 1937 und 1938 fast zehntausend Menschen | |
hingerichtet worden. | |
## Über tausend Erschossene | |
Insbesondere zwei Männer kümmerten sich um die Erinnerungskultur am | |
Erschießungsort des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Sandarmoch: | |
[1][Jurij Dmitriew], Leiter der karelischen Abteilung von [2][Memorial] und | |
Museumsdirektor Sergej Koltyrin. | |
Dmitriew hatte 1997 mit einer Gruppe von Menschenrechtlern die Massengräber | |
von Sandarmoch entdeckt und seitdem in der Öffentlichkeit immer wieder auf | |
die Erschießungen von Sandarmoch hingewiesen. Er hat auch eine Liste mit | |
Namen von über tausend in Sandarmoch Erschossenen veröffentlicht. | |
Im Dezember 2016 war Dmitriew anonym wegen des Besitzes von | |
Kinderpornographie angezeigt worden. Nach einem Freispruch im April 2019 | |
befindet er sich inzwischen erneut wegen dieser Vorwürfe in | |
Untersuchungshaft. Menschenrechtler zweifeln an der Authentizität der | |
Vorwürfe gegen Dmitriew. Die Nichtregierungsorganisation Memorial, die sich | |
der Aufarbeitung der Verbrechen unter Stalin widmet, sieht in ihm einen | |
politischen Gefangenen. | |
Auch Museumsdirektor Koltyrin musste gespürt haben, dass ihm ein ähnliches | |
Schicksal wie Dmitriew drohen könnte, nachdem die regierungsnahe „Russische | |
militärhistorische Gesellschaft“ anzweifelte, die Toten von Sandarmoch | |
seien Oppositionelle gewesen. Bei den Opfern, so die Gesellschaft“ handele | |
es sich um sowjetische Kriegsgefangene, die von Finnen erschossen worden | |
seien. | |
## Wieder salonfähig | |
Die Arbeit von Koltyrin und Dmitriew über die Schrecken der Stalin-Zeit | |
passt nicht zu einer staatlichen Politik, die das Gedenken an Stalin wieder | |
salonfähig machen möchte. Kurz vor seiner Verhaftung hatte Koltyrin der | |
oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta anvertraut, dass er sich vor einem | |
ähnlichen Schicksal wie dem von Dmitriew fürchte. | |
Merkwürdig erscheint auch der Mandats-Entzug des Anwaltes von Koltyrin, | |
Wladimir Anufriew. Er war von Koltyrins Bruder mit der Wahrnehmung von | |
Koltyrins Interessen betraut worden. Das staatliche Ermittlungsbüro | |
überbrachte dem Rechtsbeistand im November 2018 ein Schreiben seines | |
Mandanten, in dem dieser ihm das Mandat entzogen hatte. | |
Dies sei nicht der erste Mandatsentzug gewesen, zitiert das Internetportal | |
7x7-journal.ru den Anwalt. Schon einmal habe ihm Koltyrin angeblich das | |
Mandat entzogen, in einem Gespräch jedoch berichtet, dass diese | |
Entscheidung unter Drohungen getroffen worden sei. | |
„Ich persönlich kenne Koltyrin nicht, er war auch nie Mitglied von | |
Memorial. Koltyrin war kein Aktivist, aber er hat gute Arbeit geleistet“, | |
sagt der Vorsitzende der Gesellschaft Memorial Jan Ratschinskij. Zu den | |
Vorwürfen gegen Koltyrin könne er nichts sagen, aber diese seien | |
propagandistisch genutzt worden, um auch den Chef von Memorial in Karelien, | |
Jurij Dmitriew zu diskreditieren. | |
3 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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