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# taz.de -- Schauprozess gegen Bürgerrechtler: Tschetschenisches Rollenspiel
> In der Kaukasusrepublik steht Ujub Titijew wegen Drogenbesitzes vor
> Gericht. Zufällig war er der Chef der Menschenrechtsgruppe Memorial.
Bild: Ujub Titijew während der Anhörung
Schali taz | Der Angeklagte steht ruhig in dem Kasten aus weiß gestrichenen
Gitterstäben. Mancher Streben hat der Kraft der Inhaftierten mit den Jahren
nachgegeben. Nicht alle Stäbe bilden noch gerade Linien. Manchmal stützt
sich Ujub Titijew auf den geschweißten Verschlag, lässt die Arme
heraushängen und unterhält sich leise mit einem Anwalt, Freund oder
Verwandten, die regelmäßig zum Prozess erscheinen. Auch beim Wachpersonal
bleibt er freundlich.
Seit Juli vergangenen Jahres steht der Chef der Menschenrechtsorganisation
Memorial in Tschetschenien vor Gericht. Im Januar 2018 wurde er
festgenommen. Danach saß er in Untersuchungshaft. Illegaler Drogenbesitz
wird dem 61-Jährigen zur Last gelegt. Eine Tüte mit 200 Gramm Marihuana
fand sich damals bei einer Kontrolle im Wagen. Angeblich.
Ujub Titijew ist ein ernster Mann. Im Bezirksgericht in Schali sitzt er in
der rechten Ecke. Käfig heißt der Kasten-Verhau, der für Delinquenten in
Russlands Gerichtssälen vorgesehen ist. Neben dem Angeklagten steht eine
graue Plastiktüte mit mehreren Kilo Prozessakten.
Titijew hat alles gelesen und ist vorbereitet. Wenn die Staatsanwältin in
Lichtgeschwindigkeit über die Protokolle der Festnahme huscht, lässt
Titijew sich nicht abschütteln. In verständlichem Ton korrigiert er
Lesefehler, Namen und Orte. Kommentarlos, ohne Unterton, vorwurfslos. Er
darf das und wird nicht zur Ordnung gerufen. Auch Richterin Madina
Sinaetdinowa lässt ihn gewähren. Sie ist groß gewachsen und wird nur selten
etwas lauter. Die lange schwarze Robe unterstreicht ihre äußerlich
Gradlinigkeit.
## Prozes für die Karriere
Die Staatsanwältin stammt wie Titijew aus der Ortschaft Kurtschaloi. Auch
der zweite Staatsanwalt kommt von dort. Er schweigt meist, grinst
gelegentlich. Er ist jung und scheint unerfahren. Für beide ist der Prozess
eine Karrierechance. Staatsanwältin Baitajewa wirkt bisweilen für
Sekundenbruchteile irritiert, fängt sich aber rasch wieder. Ihr Kollege
erträgt gelangweilt die Aufführung.
Überraschungen sind in dieser Verhandlung nicht vorgesehen.
Der Verhau ist mit Titijews Handschellen verschlossen. Er trug sie noch auf
dem Gefangenentransport aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Ujub
Titijew war zuletzt der einzige Menschenrechtler, der für Memorial vor Ort
unterwegs war. Alle Büros in der Kaukasusrepublik mussten seit der
Herrschaft Ramsan Kadyrows über das Land nach und nach schließen. Ob in
Gudermes, Atschkoi Martan oder Sernowodsk.
Memorial ist Russlands bekannteste und älteste Menschenrechtsorganisation.
Beim Niedergang der Sowjetunion kümmerte sie sich zunächst um die
Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte und nahm sich der Repressionen der
Stalinzeit an. Sie erkämpfte die Rehabilitierung von stalinistischen
Opfern, darunter ganze Völkerschaften. Bis heute setzt sich Memorial für
Menschenrechte und politische Gefangene ein und wird vom Kreml deshalb
offen angefeindet. Dennoch kann die Gruppe weiter tätig sein. Bislang
schützt die weltweite Anerkennung Memorial vor einem Verbot.
## Straight Edge
Titijew übernahm die Vertretung Memorials erst 2009, nach dem Mord an
seiner Vorgängerin Natalja Estemirowa. Sie war entführt und erschossen
worden. Er wollte nicht einfach aufgeben.
Die Verteidigung fährt Dutzende Zeugen im Stadtgericht von Schali auf. Sie
alle beteuern, Ujub Titijew sei kein Drogenkonsument. Er könne nicht einmal
Zigarettenrauch ertragen. Der Inhaftierte raucht und trinkt nicht,
Rauschmittel nimmt er schon gar nicht zu sich.
Ältere Zeugen räumen zu seiner Verteidigung ein, in jüngeren Jahren auch
mal gekifft zu haben. Das hohe Alter mag sie in Tschetschenien schützen.
Aber Ujub Titijew? Niemals! Der Mann ist durchtrainiert. In Freiheit joggt
er jeden Tag mehrere Kilometer, die Abende verbringt er in der Sporthalle.
Er ist kräftig und gilt als ausgezeichneter Boxer. Vor dem Job bei Memorial
war er Lehrer für Sport und Geschichte. Auch im Knast hält er sich fit.
Gute Kondition schützt vor dem Einknicken, wenn du gefoltert wirst, soll er
einem Vertrauten gestanden haben.
Titijews Gedächtnis ist ein Megaspeicher. Jahrelang hat er in
Tschetschenien Informationen gesammelt. Nur in seinem Kopf lagern sie.
## Beleidigter Chef
Im Januar 2017 wurden Dutzende Homosexuelle in Tschetschenien festgenommen
und mindestens 27 von ihnen in einer Nacht erschossen. Titijew half
Journalisten, den Verbrechen nachzuspüren.
Es war wohl sein letzter Einsatz. Die Beseitigung schwuler Tschetschenen
stieß vor allem international auf Empörung. Der Instagram-Account des
tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrows wurde gesperrt. Das brachte
den in Rage. Instagram war sein Medium, mit dem er Millionen Abonnenten
infizierte. So etwas wie Trumps Twitter.
Bei den Gerichtsverhandlungen sind in der Regel immer dieselben Besucher
zugegen. Im hinteren Teil des kleinen Saales sitzen Freunde, Dorfnachbarn
und Verwandte. Sie kennen sich alle und sprechen miteinander. Es sind
Landbewohner, weder reich noch arm. Weiter vorne vor der Richterin haben
sich Beobachter von Memorial, anderen Menschenrechtsgruppen und
Journalisten niedergelassen. Zwei oder drei Verteidiger kümmern sich um
Ojub Titijew. Sie stammen aus anderen Teilen Russlands, weil sie dadurch
nicht so leicht erpressbar sind. Als Faustregel gilt, dass Familie und
Kinder in weiter Entfernung untergebracht sein sollten.
Der Antrag der Verteidigung, die Untersuchungshaft in Hausarrest
umzuwandeln, wurde schon vor Weihnachten abgewiesen. Staatsanwaltschaft und
Richterin folgten der Begründung der Anklage: Es bestünde Fluchtgefahr. Die
Haft wurde bis März verlängert. Nach außen erwecken Umgangston und
Kooperationsbereitschaft den Eindruck, den Parteien sei an einer
harmonischen und ehrlichen Lösung gelegen.
## Gespenstisches Spiel
Der Eindruck täuscht. Die Rollen sind längst zugewiesen. Staatsanwaltschaft
und Gericht werden sich wie in 99 Prozent der Anklagen in Russland
durchsetzen. Weder der Angeklagte noch das Umfeld scheinen sich der
Illusion hinzugeben, der Prozess ließe sich zu seinem Wohle beeinflussen.
Alle spielen ihre Rollen, wie nach einem vorgegebenen Drehbuch. Die
Inszenierung erinnert gleichwohl an einen echten Prozess. Über dem
Beweismittel des verschweißten Marihuana-Beutels verwickeln sich
Gerichtsdiener, Richterin, Staatsanwältin und Anwälte in die Frage, wie
sich die Tüte am besten öffnen ließe. Dabei dürften sie alle genau wissen:
Das Beweisstück stammt offenbar aus der Asservatenkammer der Polizeibehörde
und dient wohl schon zum x-ten Mal als Corpus Delicti. Alle sind im Bilde
und doch genießen die Mitwirkenden die spielerischen Elemente. Dem wohnt
etwas Gespenstisches inne.
Der Fall Titijew begann am 9. Januar 2018 mit Ungereimtheiten, meinen seine
Anwälte. Zunächst sei der Menschenrechtler von Polizisten in Kurtschaloi
entführt und auf ein Revier verbracht worden, wo er Drogenbesitz gestehen
sollte.
Von der Festnahme existierte kein Protokoll. Als Titijew sich weigerte, ein
Geständnis abzulegen, wurde die Festnahme noch einmal im Freien inszeniert.
Dort fand sich ein Päckchen Marihuana in seinem Wagen.
## Zufällig defekte Kameras
Die Verteidigung fördert weitere Merkwürdigkeiten zutage: Alle Kameras auf
dem Revier und in Streifenwagen waren defekt. Sie hätten den Drogenfund
festhalten können. Desgleichen fielen auch sämtliche Kameras auf der
Strecke aus, die die Polizei und der Gefangene zusammen zurücklegten.
Zwischenzeitlich sei dessen Wagen vor dem Polizeirevier aufgebrochen
worden. Videokamera und GPS verschwanden.
Die Polizisten bestritten, dass sie einer schnellen Eingreiftruppe
angehörten. Sie konnten sich an nichts erinnern: Weder ihre Decknamen,
Farbe der Uniformen noch Einsatzwagen waren ihnen geläufig.
Die Verurteilung Titijews steht bereits fest. Dass er unschuldig ist und
der Fall fingiert wurde, tut nichts mehr zur Sache.
Wie viel Jahre wird er bekommen? Vier vielleicht nur? In welchem Straflager
wird der Verurteilte landen? Außerhalb Tschetscheniens, wo eine
Überlebenschance bestünde? Solche Überlegungen stellen seine Freunde an.
Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit stellt sich ihnen gar nicht.
## Drohung für alle Bürgerrechtler
Das Gericht weiß: Der Angeklagte ist ein vorbildlicher Bürger. Ein
gläubiger Moslem, der hilft, wo er kann. Titijew bittet vor Prozessbeginn
jeweils um eine Stunde Unterbrechung gegen Mittag. Für das Gebet.
Republik-Chef Ramsan Kadyrow hat deutlich gemacht, dass es nach Abschluss
des Verfahrens weder für Memorial noch für dessen Klientel in der
Bergrepublik einen Platz gebe.
Oleg Orlow heißt einer der Leiter von Memorial in Russland. Er reist zu
fast jeder Verhandlung nach Schali. Im Dezember nahm er für Ojub Titijew
eine deutsch-französische Auszeichnung in der Deutschen Botschaft in Moskau
in Empfang.
„In totalitären Gesellschaften ist es unmöglich als Menschenrechtler zu
arbeiten“, sagt er. Kadyrows Ankündigung, alle Bürgerrechtler nach dem
Urteil aus seiner Kaukasusrepublik hinauszuwerfen, hält er für keine leere
Drohung. Das Republikoberhaupt wird die Entscheidung umsetzen und Moskau
wird schweigen.
31 Jan 2019
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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