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# taz.de -- Russische Organisation Memorial verboten: Kreml reißt die Geschich…
> Seit den 80er-Jahren hat die Organisation „Memorial“ Aufarbeitung
> sowjetischer Gräueltaten betrieben. Nun wird sie in Russland verboten.
Bild: Protest in Moskau gegen die Auflösung von Memorial am 28. Dezember 2021
Moskau taz | Das Oberste Gericht in Moskau verfügte am Dienstag die
Auflösung der Organisation Memorial International. Sie ist die
Mutterorganisation aller Memorialeinrichtungen. Auch regionale
Organisationen sind von dem Urteil betroffen.
Die Richterin Alla Nasarowa gab dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft
statt, die eine Schließung gefordert hatte. Memorial soll die in Russland
seit 2020 geltende Kennzeichnungspflicht als „ausländischer Agent“ in
einigen Broschüren nicht beachtet haben. Darunter fallen auch
Veröffentlichungen, die noch vor der Einführung des ausländischen
Agentengesetzes erschienen sind. Die Organisation ist deshalb mehrfach zu
Geldstrafen verurteilt worden. Das Gesetz sieht vor, dass Empfänger von
Zahlungen aus dem Ausland als „Agenten“ bezeichnet werden können.
Memorial wies die Vorwürfe zurück. Es sei eine „politische Entscheidung“,
die jeglicher Rechtsgrundlage entbehre. Ziel sei die „Zerstörung einer
Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repression und mit
dem Schutz der Menschenrechte befasst“. Vorstandmitglied Jan Ratschinski
kündigte an, sich an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu wenden.
Der wird die Darstellung Memorials voraussichtlich teilen.
Memorial wurde Ende der 1980er Jahre gegründet, kurz vor dem Zusammenbruch
der Sowjetunion. Eines der bekanntesten Gründungsmitglieder war der
Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow.
## Historiker wird zu 15 Jahren Haft verurteilt
Der Vertreter der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Alexej Dschafjarow,
warf Memorial nun vor Gericht vor, die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion
(UdSSR) als „Terrorstaat“ darzustellen und Lügen über das Land zu
verbreiten. Memorial hatte sich ursprünglich zum Ziel gesetzt, die
Repressionsgeschichte der Sowjetunion aufzuarbeiten. Erst später widmete
sich die Organisation auch der Verteidigung politischer Gefangener in
Russland. Diese Arbeit übernahm das Menschenrechtszentrum Memorials, das
auch vor Gericht steht und voraussichtlich noch diese Woche mit einem
Urteil rechnen muss. Zu Zeiten von Stalin mussten etliche Menschen in das
Straflagersystem des Gulags, wo sie millionenfach zu Tode kamen.
Die sowjetische Terrorgeschichte passt nicht zum Entwurf einer unbefleckten
russischen Nationalgeschichte und den Verbrechen an kleineren Völkern der
Sowjetunion.
Der Historiker Jurij Dmitriew wurde vor einigen Tagen zu 15 Jahren Haft
verurteilt. Dmitriew wird vorgeworfen, seine Pflegetochter sexuell
missbraucht zu haben. In mehreren Prozessen wurde der Historiker
freigesprochen. Dennoch erhöhte das Gericht die Strafe von 13 auf 15 Jahre,
was für den alten Mann einem Urteil auf lebenslängliche Haft gleichkommt.
Dmitriew ist Vorsitzender der Memorial-Organisation in Karelien. Dort hatte
er in jahrelanger Arbeit in den Wäldern von Sandarmoch Massengräber
hingerichteter sowjetischer Häftlinge offengelegt und deren
Einzelschicksale der Geschichte zurückgegeben.
Das schwebte Staatsanwalt Dschafjarow vor, als er der Memorial-Darstellung
der Sowjetunion als „Terrorstaat“ widersprach. Die Umwidmung der Geschichte
ist in Russland seit Langem im Gang. In Sandarmoch hält die offizielle
Geschichtsschreibung eine Version aufrecht, wonach es sich bei den Toten
nicht um Opfer der Stalinjustiz handelte.
## In den Fußstapfen des KGB
Auch im Straflager in Perm am Rande des Urals wurde die Geschichte
bereinigt: Das Gedenken an die Gulaginsassen wurde weitestgehend getilgt.
Präsident Wladimir Putin rechtfertigte die Gräueltaten der Sowjetunion
bislang nicht öffentlich, aber der Diktator Stalin wurde vor allem wegen
des Sieges über Nazideutschland gerühmt.
Dennoch stehen Putin und sein Umfeld in den Fußstapfen des früheren
Geheimdienstes KGB und seiner Unterorganisationen. Der Geheimdienst hält
Russland fest im Griff. Die sogenannten Tschekisten – benannt nach der
ersten Geheimdienstorganisation nach der Oktoberrevolution – beherrschen
weite Kreise von Wirtschaft und Staatsapparat. Auch Wladimir Putin war
einst Chef des FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB.
Memorial und Teile der regierungskritischen Öffentlichkeit hoffen, dass das
Menschenrechtszentrum in einem zweiten Prozess nicht verboten wird. Viele
Memorial-Mitarbeiter sind altazlerdings bereit, die Arbeit ohne rechtlichen
Status fortzusetzen, vor allem bei Organisationen in der Provinz.
Memorial stehe für ein offenes, menschenfreundliches und demokratisches
Russland, das die Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit
seinen Nachbarn sucht, schrieb Amnesty International zur Auflösung
Memorials. Zwölf deutsche NGOs unterzeichneten die Stellungnahme. „Mit dem
Verbot von Memorial – dem moralischen Rückgrat der russischen
Zivilgesellschaft – gibt der russische Staat ein erschütterndes
Selbstzeugnis ab: Er bekämpft die Auseinandersetzung mit der eigenen
Unrechtsgeschichte und möchte individuelle und kollektive Erinnerung
monopolisieren“.
28 Dec 2021
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
## TAGS
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