# taz.de -- Liquidierung russischer LGBTIQ-Stiftung: Kriminalisierung von Queers | |
> Die Lage für russische Menschenrechtsorganisationen verschlechtert sich | |
> stetig. Nun steht die größte LGBTIQ-Stiftung Sphere kurz vor der | |
> Auflösung. | |
Bild: Protest gegen die Einschränkung von LGBTIQ-Rechten 2019 in St. Petersb… | |
Bei der angekündigten Liquidierung der Charitable Foundation Sphere handelt | |
es sich um einen der bedeutsamsten Fälle der [1][Einschränkung von | |
LGBTIQ-Rechten] in der Geschichte des modernen Russlands“, sagt Irina | |
Petrow. Sie ist Sprecherin der bedrohten Stiftung, aus Sicherheitsgründen | |
tritt sie hier nicht mit ihrem echten Namen auf. Sie sitzt in ihrem Büro in | |
St. Petersburg, das Gespräch findet via Zoom statt, an der Wand im | |
Hintergrund hängt eine Regenbogenfahne. Es ist der sechste Tag seit dem | |
militärischen Einfall Russlands in die Ukraine und der Schock sitzt auch | |
bei den Mitarbeiter*innen von Sphere tief. | |
Seit Februar liegt ein Antrag auf Auflösung der größten LGBTIQ-Organisation | |
Russlands vor. Erst im [2][Dezember hatten die russischen Behörden die | |
Liquidierung von Memorial], einer der ältesten Menschenrechtsorganisationen | |
in Russland, angeordnet. Auch eine Reihe von Forschungszentren und | |
Medienhäusern mussten in den vergangenen Monaten schließen. In der Klage | |
gegen Sphere heißt es nun, die Stiftung verstoße gegen die Idee der | |
Wohltätigkeit, weil sie primär LGBTIQ-Personen unterstütze. Die | |
Organisation wolle die „moralischen Grundlagen der Russischen Föderation“ | |
verändern und „Zwietracht in der russischen Gesellschaft säen“. Alles | |
zusammen: „grobe Verfassungsverstöße“. Petrow hält daran fest, dass es k… | |
Gesetz gebe, nach dem man nicht gezielt LGBTIQ-Personen helfen dürfe. „Wenn | |
die Klage in der aktuellen Formulierung erfolgreich ist, wäre ein | |
Präzedenzfall geschaffen, der es dem russischen Justizministerium | |
ermöglicht, alle LGBTIQ-Organisationen zu liquidieren oder deren Gründung | |
zu verunmöglichen“, sagt sie. | |
Seit 2011 bietet Sphere psychologische Beratung und Rechtsbeistand zu | |
queeren Themen an. Internationale Aufmerksamkeit bekam die Stiftung vor | |
allem für das Rapid-Response-Programm, mit dem die Stiftung seit 2017 | |
Queers zur Flucht aus Tschetschenien verhalf. Laut Petrow haben Fragen zu | |
Asyl, Migration und Flucht aus Russland schon immer einen Großteil ihrer | |
Arbeit ausgemacht. „Es gibt keine weitere Organisation in Russland, die | |
diese Art von Arbeit leistet und sich international für | |
Informationskampagnen und das Monitoring von LGBTIQ-Rechten einsetzt“, sagt | |
Petrow. Sphere brachte in den vergangenen Jahren Fälle von Hassverbrechen | |
vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und arbeitete | |
regelmäßig UNO-Berichte aus. | |
## Schon immer feindlich gesinnt | |
Die Arbeit für LGBTIQ-Aktivist*innen in Russland wird immer schwieriger. | |
Igor Kochetkov hat das Land schon aufgrund politischer Repression verlassen | |
und versucht nun, aus dem Ausland aktiv zu sein. Kochetkov ist eine | |
wichtige Figur für die queere Community, er ist Mitgründer von Sphere sowie | |
des russischen LGBT-Network, einer überregionalen Bewegung, unter deren | |
Label sich seit 2006 verschiedene queere Organisationen und | |
Aktivist*innen aus ganz Russland versammeln. Im Gespräch mit der taz | |
sagt er: „Die russische Regierung war den LGBTIQ-Organisationen schon immer | |
feindlich gesinnt, sie erklärten uns zu ‚ausländischen Agenten‘ und | |
diffamierten uns im Staatsfernsehen. Aber die angekündigte Auflösung von | |
Sphere ist eine neue Stufe der Repression.“ Er stimmt mit Petrow überein, | |
dass er sich sicher ist, dass die Klage der Versuch ist, die gesamte | |
Bewegung auszuhebeln und psychologischen Druck aufzubauen. Die Atmosphäre | |
von Angst und Verfolgung unter Queers und Aktivist*innen spitze sich | |
zu. | |
Die Vorwürfe fußen auf dem „Gesetz über die Propagierung | |
nicht-traditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen“, das 2013 | |
verabschiedet wurde. Umgangssprachlich als „Gesetz gegen Homopropaganda“ | |
bekannt, wird es seitdem in seinen vagen Auslegungsmöglichkeiten gegen | |
Menschen und Lebensweisen angewandt, die „traditionellen russischen Werten“ | |
widersprechen. In seinen Reden beruft sich Putin regelmäßig auf diese | |
„Werte“. Bei einer Veranstaltung im vergangenen Oktober dienten sie ihm als | |
Grundlage, den Support von trans Personen als „Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit“ zu bezeichnen. In seiner Rede am 21. Februar, die einer | |
Kriegserklärung an die Ukraine gleichkam, sprach Putin vom notwendigen | |
Schutz „traditioneller Werte“ vor dem Westen. Das größte Projekt von Sphe… | |
im vergangenen Jahr war eine Kampagne gegen das Propagandagesetz. | |
Seit 2016 steht Sphere als eine der ersten NGOs in Russland auf der Liste | |
„ausländischer Agenten“. Regierungskritische Medien, NGOs, registrierte | |
soziale Bewegungen und Einzelpersonen können seit 2012 unter das „Foreign | |
Agent“-Gesetz fallen. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, diesen Status | |
in ihrem öffentlichen Auftreten transparent zu machen und spezielle | |
Rechenschaft über alle Einnahmen und Ausgaben abzugeben. Laut Kochetkov | |
erhielten fast alle LGBTIQ-Organisationen den Großteil ihrer finanziellen | |
Unterstützung aus dem Ausland. Einmal auf der Liste „ausländischer | |
Agenten“, bricht diese Finanzierung weg. | |
„Seit November 2021 werden LGBTIQ-Themen als Frage der nationalen | |
Sicherheit behandelt“, sagt Kochetkov. Organisationen und Personen können | |
nun auch aufgrund realer oder angenommener finanzieller Verbindung zu | |
gemeinnützigen Stiftungen verfolgt und zu „ausländischen Agenten“ erklärt | |
werden. Durchexerziert wurde diese Maßnahme bereits an vier unregistrierten | |
russischen LGBTIQ-Organisationen. Lediglich das Arbeitsfeld LGBTIQ reiche | |
aus, um zum „ausländischen Agenten“ erklärt zu werden. Kochetkov steht als | |
Einzelperson auf der Liste. Er rechnet damit, dass die Queerfeindlichkeit | |
in der russischen Gesellschaft in dem Maße zunehme, wie die Arbeit der NGOs | |
und Aktivist*innen abnehme. Schon nach der Verabschiedung des | |
Propagandagesetzes sei das spürbar gewesen. | |
## Gerichtstermin am 29. März | |
Die Klage gegen Sphere landete Anfang Februar schon einmal vor Gericht. | |
Richterin Irina Vorobyeva fand die genannten Gründe für den | |
Auflösungsantrag nach geltendem russischen Recht zunächst unzureichend und | |
vertagte die Verhandlung. Petrow hält Vorobyeva für die letzte Richterin im | |
russischen Rechtssystem, die sich für faire Prozesse einsetzt. Die Klage | |
wurde nun ein zweites Mal vorgebracht, ohne die von der Richterin | |
geforderte Reformulierung. | |
Mittlerweile steht dafür der Gerichtstermin fest, es ist der 29. März. Und | |
dieses Mal wird die Verhandlung nicht von Vorobyeva geführt. „Der Druck des | |
Justizministeriums ist groß. Wir und unsere Anwält*innen gehen davon | |
aus, dass wir als Organisation aufgelöst werden. Es wird ein kurzer Prozess | |
werden“, sagt Petrow. | |
Im Anbetracht des Krieges rücke der Fall in den Hintergrund. „Im Moment | |
beschäftigen uns Fragen des Überlebens. Wir geraten in Russland gerade | |
wieder in die totale Isolation. Noch mehr Menschen als sonst wollen das | |
Land verlassen. Aufgrund der Sanktionen ist das allerdings kaum möglich“, | |
sagt Petrow. Niemand wisse, wie lange der Krieg in der Ukraine andauern | |
werde und welche Rechte für Queers danach in Russland noch übrig blieben. | |
Auch Kochetkov beschreibt die [3][wachsende Angst der queeren Community], | |
nicht mehr aus dem Land zu kommen. Er sagt: „Es braucht unbedingt mehr | |
Programme humanitärer Visa vonseiten der EU für Aktivst*innen und Queers | |
aus Russland.“ | |
Sphere aufgeben ist für Petrow trotz des Kriegs keine Möglichkeit. Ihre | |
Arbeit sei das Einzige, was sie und das Team bei Verstand halte. „Solange | |
es geht, werden wir unsere Arbeit an die Umstände anpassen und | |
weitermachen. Nicht zu kämpfen bedeutet aufgegeben zu haben, und das haben | |
wir nicht.“ | |
25 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Juri Wasenmüller | |
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