Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Theater in Moskau: Kleiner Wink von oben
> Propaganda ist mächtig in Moskau. Einige Theater versuchen, einen
> Gesprächsraum zu öffnen. Das kleine Teatr.doc probt eine politische
> Satire.
Bild: Ein Wandbild in Moskau wirbt für eine militärische Kinder- und Jugend-O…
Der Rotwein von der Krim hat einen warmen, vollmundigen Geschmack. Er ist
nicht teuer und er wird in jedem Moskauer Supermarkt beworben. Auf dem
Etikett prangt unübersehbar „Hergestellt in Russland“, so wird die Annexion
der Krim beschönigt. Auch an der Käsetheke gibt es „russischen“ Käse von
der Krim. Ziemlich intelligent verknüpft ist hier die Wirtschaftshilfe aus
der Hauptstadt mit einer niedrigschwelligen Propaganda.
Direkte und unverpackte Propaganda herrscht in den komplett
männerdominierten Polittalkshows im Staatsfernsehen. Inhaltlich bewegen
sich die gelenkten Gespräch auf unterstem Stammtischniveau: Wie lange soll
Putin mit Biden und Konsorten noch reden, bevor er loschlägt gegen die
Ukraine? Das ist der Grundtenor, den ich im Januar zu Besuch in Moskau im
Fernsehen hören konnte.
Politik und Geschichte spielen auch in den Theatern Moskaus eine Rolle. Das
staatliche Gorki-Künstlertheater zeigt im Zentrum von Moskau ein Stück über
den jungen Stalin und nennt es „Der wunderbare Georgier“. Im ebenfalls
staatlichen Theater der Nationen läuft die dokumentarische Inszenierung
„Gorbatschow“ und spaltet die Gemüter. Nicht nur in der Hauptstadt, sondern
im ganzen Land.
So stapeln sich auf dem Youtube-Kanal des staatlichen Fernsehsenders Rossia
1, der über die Premiere berichtete, die Kommentare, die den letzten
Generalsekretär der KPdSU als Verräter bezeichnen. Viele Meinungen sind
getragen von Wut: „Hier werden Steuergelder in einem Staatstheater
rausgeschmissen, um uns das Schicksal eines Verräters und eines Agenten des
Westens zu präsentieren!“
## Innenperspektive der sowjetischen Machtelite
Die Karten für die Gorbatschow-Inszenierung von Alvis Hermanis kosten
übrigens zwischen 120 und 720 Euro. Der Text beruht auf Reden, Briefen,
Interviews und den Memoiren von Raissa und Michail Gorbatschow. Je höher
Gorbatschow die Leiter der KPdSU-Hierarchie hinaufklettert, desto mehr gibt
das Stück den Blick frei auf die Innenperspektive der sowjetischen
Machtelite. Im Machtapparat trifft Verantwortungslosigkeit auf
Realitätsflucht, das realisierte Gorbatschow Anfang der 80er Jahre. Die
Beschreibung dieser komatösen Jahre in der Sowjetunion ist inhaltlich der
spannendste Teil der dreistündigen Aufführung.
In zwei kleinen Moskauer Theatern gab es im Januar zwei Uraufführungen mit
zeithistorischen Bezug: „Ich habe den Zaren ermordet“ und „Stalin und
Kirow“. Das sehr kleine, aber ziemlich [1][bekannte Teatr.doc] bereitete
zudem im Januar die Premiere von „Wie wir Josef Stalin beerdigten“ vor. So
legen einige der Bühnen der Hauptstadt den Fokus auf die Auseinandersetzung
mit der russisch-sowjetischen Geschichte und schaffen einen Diskursraum,
den es in den russischen Medien und im öffentlichen Raum nicht mehr gibt.
„Wie wir Josef Stalin beerdigten“ bringt beißende Ironie in den
Geschichtsdiskurs; das wiederum hat Seltenheitswert im russischen
Gegenwartstheater. Denn der [2][Autor Artur Solomonow], ein langjähriger
Theaterkritiker, hat eine knallharte, oft schreiend komische
Gegenwartssatire auf die Produktionsbedingungen an den staatlichen
russischen Bühnen geschrieben.
## Vorstellungen gesprengt
Teatr.doc wagt sich – nach der Uraufführung im Kammertheater Tscheljabinsk
(Ural) – als zweites russisches Theater an eine Inszenierung. Die
Erfahrungen in Tscheljabinsk haben das Aufregungspotenzial des Stücks
deutlich gezeigt: auf die Premiere folgte ein Gerichtsverfahren gegen
Theater und Autor, aber das Stück ist weiter im Spielplan.
Teatr.doc hat viel Expertise, was diffizile Themen auf der Bühne betrifft
und [3][die entsprechenden Reaktionen darauf.] So haben 2018 zwölf
Unbekannte eine Vorstellung von „Raus aus dem Schrank“, eines
Coming-out-Stücks, gesprengt. 2019 warfen Mitglieder der
russisch-nationalistischen „Befreiungsbewegung“ SERB einen Becher mit
Fäkalien in den Zuschauersaal, um den Abbruch der Vorstellung des
Donbass-Stückes „Der Krieg ist nah“ zu provozieren. 2020 traf es die
Inszenierung über den jakutischen Schamanen Alexandr Tabyschew. 2021 hat
die Polizei die Premiere des Stücks „Nachbarn“ abgebrochen. „Nachbarn“
basiert auf Interviews mit Menschen aus Minsk, die im August 2020 an den
friedlichen Protesten teilnahmen.
So kann man nachvollziehen, dass die KünstlerInnen, und nicht nur die, sich
fragen: Welche Inszenierung wird 2022 gestört, gesprengt oder verboten
werden? „Wie wir Stalin beerdigten“, inzwischen in sieben Sprachen
übersetzt, hat definitiv große Chancen. Der Regisseur am Teatr doc., der
sonst an großen staatlichen Häusern arbeitet, inszeniert die Satire
sicherheitshalber anonym. Aber er möchte das Stück auf jeden Fall auf die
Bühne bringen, genau so wie die SchauspielerInnen unbedingt mitwirken
wollen, obwohl keiner etwas daran verdient.
„Wie wir Josef Stalin beerdigten“ ist eine Art Making-of. Hauptdarsteller
Anton Kukuschkin spielt einen Regisseur, der ein Stück über den Stalinismus
an einem Staatstheater inszeniert und gleichzeitig darin die Hauptrolle –
Stalin spielt. Dieser schauspielende Regisseur wandelt sich von einem
aufgeklärten Reformer zum Stalinisten – das wird ausgelöst durch die
Anwesenheit eines Mitarbeiters des Kulturministeriums, der die Kritik des
Präsidenten am Stalinbild im Stück erläutert. Ist Stalin der Gestalter
eines großen Imperiums oder ein Massenmörder, oder kann man ihn einfach
Mörder-Gestalter nennen? Das fragen sich die Figuren bei Solomonow und
bekommen keine Antwort, denn der Präsident verweigert die Aussage.
Solomonow hat mit dieser Zuschreibung den Grundkonflikt der russischen
Stalinrezeption benannt. Denn der Sieg der Sowjetunion über das
nationalsozialistische Deutschland dient als offizielles Grundnarrativ für
den heutigen Anspruch auf eine Sonderrolle Russlands in der Welt. Dies
Narrativ soll die Nation zusammenhalten und verengt definitiv die
geschichtshistorische Perspektive. Bei Solomonow zieht Lenin Bilanz vor dem
im Sterben liegenden Stalin: „Du hast alles, was ich aufgebaut habe, in die
Scheiße geritten.“ Stalin bekommt die Chance einer Verteidigung auf dem
Totenbett und verweist auf die Stabilität des Landes (im Jahr 1953).
## Ein Kollektiv stalinisiert sich
Bei einem Besuch bei den Proben stehen Iwan Kaschin und Fjodor Kokorew in
der Mitte der 20 Quadratmeter großen Probebühne und spielen zwei
Schauspieler, die wiederum Nikita Chruschtschow (den späteren
Generalsekretär der KPdSU) und Lawrenti Beria (den damaligen Chef der
Geheimpolizei) darstellen, zwei Systemträger an Stalins Totenbett. Beide
versuchen, Stalins Blick zu entschlüsseln, den sie völlig überbewerten, und
werden fast wahnsinnig, weil es ihnen nicht gelingt. Das ist eine Szene
voller entlarvender Situationskomik, die für das ganze Stück steht.
Schritt für Schritt „stalinisiert“ sich das ganze Theaterkollektiv aus sich
heraus, eine komplette Eigendynamik in einem abgeschlossenen Raum – für die
ein kleiner Wink von oben ausreichte. Diese Tendenz in einem (wieder)
repressiven Staat aufzuzeigen, macht das Stück in Russland zu explosivem
Material. In Tscheljabinsk sind die Vorstellungen seit einem Jahr immer
ausverkauft. Im Gästebuch des Theaters dort gibt es unzählige Kommentare,
in denen die BesucherInnen die Vorgänge auf der Bühne als Spiegelung ihrer
eigenen Realität erkannten.
Die Moskauer Premiere ist für Ende Februar angesetzt. Sicherheiten gibt es
momentan fast keine. Dafür sind viele ungelöste Fragen im Hinterkopf: Wird
die Premiere tatsächlich stattfinden? Ist bis dahin der Krieg gegen die
Ukraine ausgebrochen? Wenn dem so ist, wird „Wie wir Josef Stalin
beerdigten“ überhaupt noch wahrgenommen? (Man fürchtet den Skandal und
sehnt ihn gleichzeitig herbei.) Ganz elementar: Wie wird das Leben
weitergehen nach Kriegsbeginn? Latente Hauptfrage: Was will der Mann im
Kreml eigentlich? Anton Kukuschkin bezeichnet seine Gefühlslage als innere
Emigration. Artur Solomonow lebt schon mit einem Fuß im Ausland.
9 Feb 2022
## LINKS
[1] /Deutsch-russisches-Theaterstueck-67/871/!5442722
[2] /Roman-ueber-Theater-in-Russland/!5290451
[3] /Russland-Fussball-WM-und-Repression/!5519260
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
taz.gazete
Theater
Russland
Propaganda
Öffentlichkeit
Stalin
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Interview
Medien
Thalia-Theater
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Subversives Theater in Russland: Der Staat benötigt Leichen
Trotz Zensur ist in Moskau noch Gegenkultur möglich: Im kleinen Teatr.Doc
läuft seit Kriegsbeginn das Stück „Wie wir Josef Stalin beerdigten“.
Proteste gegen Putin in der Theaterwelt: „Wir haben wieder versagt“
Putins Krieg spaltet die Theaterschaffenden in Russland. Das kann man einem
Kriegstagebuch einer Theaterzeitschrift entnehmen.
Theaterregisseur über Solidarität: „Wenn man in den Abgrund schaut“
Es sterben weiter Menschen im Mittelmeer. Das thematisiert Andreas
Merz-Raykov im Theater. Ein Gespräch über das Hinsehen und verlorene
Solidarität.
Informationskrieg: Russland wirft Deutsche Welle raus
Moskau stoppt den deutschen Auslandssender als Reaktion auf das Sendeverbot
des russischen Staatssenders RT in der Bundesrepublik.
Kirill Serebrennikov am Hamburger Thalia-Theater: Der Regisseur der Freiheit
Kirill Serebrennikov darf am Thalia-Theater persönlich inszenieren. In
Russland war er Schikanen ausgesetzt – auch wegen seines Schwulseins.
Russische Organisation Memorial verboten: Kreml reißt die Geschichte an sich
Seit den 80er-Jahren hat die Organisation „Memorial“ Aufarbeitung
sowjetischer Gräueltaten betrieben. Nun wird sie in Russland verboten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.