# taz.de -- Subversives Theater in Russland: Der Staat benötigt Leichen | |
> Trotz Zensur ist in Moskau noch Gegenkultur möglich: Im kleinen Teatr.Doc | |
> läuft seit Kriegsbeginn das Stück „Wie wir Josef Stalin beerdigten“. | |
Bild: Szene aus dem Stück „Wie wir Josef Stalin beerdigten“, in der Moskau… | |
Am frühen Abend des 21. März macht sich der russische Theaterblogger | |
Wjatscheslaw Gerasimtschuk auf ins Moskauer Teatr. doc, um sich die | |
Inszenierung „Wie wir Josef Stalin beerdigten“ anzusehen. Die Satire | |
verhandelt Mechanismen, die zur Entstehung von Totalitarismus führen, und | |
folgerichtig das Unvermögen, davon wieder loszukommen. | |
Wie alle ZuschauerInnen rechnet auch Gerasimtschuk mit einer „Sprengung“ | |
der Vorstellung durch Polizei oder Putins Nationalgarde. Das Publikum | |
stapelt sich bis zur Technik hin. Denn es hat sich herumgesprochen, dass | |
das kleine nichtstaatliche [1][Teatr.doc] die Chuzpe besitzt, nach der | |
Premiere am 27. Februar, dem Tag vier des Krieges, eine zweite Aufführung | |
am folgenden Tag, in der vierten Kriegswoche eine dritte Vorstellung | |
anzusetzen. | |
Artur Solomonow war bei der Premiere seines Stücks vor Ort. Er erinnert | |
sich: „Es war das hoffnungsloseste Publikum, das mir je begegnet ist. Nach | |
Ende der Vorstellung sagten die Menschen, ihnen sei fast das Herz stehen | |
geblieben, als auf der Bühne geschrien wurde: „Der Staat benötigt Leichen! | |
Der Mensch ist nichts, der Staat ist alles!“ Diese Deklamationen, die die | |
Rückkehr des Stalinismus offen thematisieren, standen bei Probenbeginn | |
definitiv nicht im Fokus, das haben nun [2][die neuen Realitäten] | |
vollbracht. | |
## Beeindruckender Mut | |
Artur Solomonow hatte bei der Premiere sein Flugticket schon in der Tasche | |
und hat direkt danach Russland verlassen. Wjatscheslaw Gerasimtschuk war | |
vor einem Jahr bei der Uraufführung des Stücks in Tscheljabinsk im Ural. Er | |
war damals vom Mut des dortigen Kammertheaters mehr als beeindruckt. Vor | |
dem heutigen Kontext erscheint ihm die Vorstellung dort von Leichtigkeit, | |
fast Helligkeit durchzogen. Im Teatr.doc findet das Spiel auf einer | |
komplett schwarzen, fast leeren Bühne statt. | |
Der Theaterkritiker stellt fest: „Dieses Mal schwang für mich eine Warnung | |
mit – an den Machthaber, der sich (im Stück) mal kurz anschauen möchte, wie | |
man seinen Vorgänger auf der Bühne darstellt.“ Artur Solomonow kommentiert | |
aus der Ferne: „Presse, Parteien, Gerichtsbarkeit, die Duma … das ist alles | |
fiktiv. Real sind in Russland die Machthaber, und real ist die Kunst. Das | |
erklärt ihre besondere Funktion in diesem Land. Das Publikum braucht das | |
Theater, um zu verstehen, was im wirklich in diesem Land vor sich geht.“ | |
Knapp zwei Stunden dauert die Inszenierung in Moskau. Sie wird durch nichts | |
und niemanden unterbrochen. Der „Kreml“, der das Teatr.doc schon lange im | |
Visier hat und gerne „kreativ“ Vorstellungen stören lässt, schweigt | |
diesmal. Und so können sich in diesem Theaterraum Menschen, die gegen | |
diesen Krieg sind, zu einer temporären Einheit verbinden. Die | |
Schauspielenden, die sich [3][mit ihrem Mut], diese Satire gerade jetzt zu | |
spielen, aktiv positionieren, und die Zuschauenden, die ein genauso | |
sichtbares Zeichen setzen mit ihrer Zeugenschaft. | |
## Blick von außen auf der Bühne | |
Eine Zuschauerin reflektiert: „Hier gibt es eine Ebene, die es mir das | |
erste Mal möglich gemacht hat, quasi von außen auf diesen Krieg zu | |
blicken.“ Genau das versuchen die russischen Machthaber mit aller Kraft zu | |
verhindern. Auch Nikolai Trawkin, ein bekanntes Gesicht der | |
Perestroika-Ära, hat sich „Wie wir Josef Stalin beerdigten“ angesehen und | |
ruft nun öffentlich dazu auf, die nächste Vorstellung zu besuchen – | |
kommende Woche am Donnerstag, den 31. März. | |
23 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Theater-in-Moskau/!5833105 | |
[2] /Proteste-gegen-Putin-in-der-Theaterwelt/!5838875 | |
[3] /Repressionen-gegen-Kirill-Serebrennikov/!5749639 | |
## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
## TAGS | |
Stalin | |
Subkultur | |
Theater | |
Moskau | |
Diktatur | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Theater | |
Punk | |
Kunstkritik | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theaterleiter über sein Haus in Mariupol: „Mein Lebenswerk ist zerstört“ | |
Ende März brannte das „Teatromanyia“ in Mariupol nieder. Theaterleiter | |
Anton Telbizov erzählt, was damit verloren gegangen ist – und was bleibt. | |
Theaterstück in Braunschweig: Empörungspanorama | |
Wütende Kommentarspalten im Internet dienten Caren Jeß als Inspiration für | |
„Eleos“. Zu sehen ist das Stück am Staatstheater Braunschweig. | |
Punkband Pornofilmy über Russland: „Schlimmer als bergab“ | |
Vladimir Kotlyarov und Alexandr Rusakov von der Punkband Pornofilmy über | |
gesellschaftliche Agonie in Russland, Repression und eine Farce vor | |
Gericht. | |
Die These: Im Krieg muss Kunst politisch sein | |
Die große Frage ist: Kann Kunst die Welt zum Besseren verändern? In | |
Kriegszeiten ist das keine Frage mehr, sondern ein Imperativ. | |
Antikriegslied von russischer Sängerin: Seufzen gegen den Krieg | |
Popstar Zemfira veröffentlicht das Lied „Ne Strelayte“ erneut. Es wird zur | |
Hymne der russischen Antikriegsbewegung. | |
Proteste gegen Putin in der Theaterwelt: „Wir haben wieder versagt“ | |
Putins Krieg spaltet die Theaterschaffenden in Russland. Das kann man einem | |
Kriegstagebuch einer Theaterzeitschrift entnehmen. | |
Theater in Moskau: Kleiner Wink von oben | |
Propaganda ist mächtig in Moskau. Einige Theater versuchen, einen | |
Gesprächsraum zu öffnen. Das kleine Teatr.doc probt eine politische Satire. | |
Deutsch-russisches Theaterstück „67/871“: Sich der Wahrheit nähern | |
Ein deutsch-russisches Ensemble erzählt von der Blockade Leningrads im | |
Zweiten Weltkrieg und von Unterschieden in der Geschichtsschreibung. |