# taz.de -- Deutsch-russisches Theaterstück „67/871“: Sich der Wahrheit n�… | |
> Ein deutsch-russisches Ensemble erzählt von der Blockade Leningrads im | |
> Zweiten Weltkrieg und von Unterschieden in der Geschichtsschreibung. | |
Bild: Schauspielerin Svetlana Smimova bei den Proben zu dem Stück, das nun auc… | |
SANKT PETERSBURG/MOSKAU taz | „Es gab Kinder, die die ganze Zeit bettelten, | |
die ganze Zeit weinten, greinten und starben … Ich war sehr ruhig“, lautet | |
ein Satz aus dem Theaterstück „67/871“. Es geht um die eingekesselte Stadt | |
Leningrad. 67 Geschichten erzählen aus 871 Tagen der Blockade. Vom 8. | |
September 1941 bis zum 27. Januar 1944 war die Stadt von deutschen Truppen | |
umzingelt. Sie wurde dem Hunger preisgegeben. | |
Mehr als eine Million Menschen starben in dieser Zeit – die meisten an | |
Unterernährung. Harter Bühnenstoff mit Dokumenten des Leidens aus der | |
belagerten Stadt und Dokumenten des Terrors von den Belagerern. Ein | |
deutscher Regisseur, eine russische Autorin und ein deutsch-russisches | |
Schauspielensemble machen sich auf die Suche nach einem gemeinsamen | |
Erinnerungsraum. | |
Im heruntergekommenen Hinterhof eines Altbaus auf der Petrograder Seite von | |
St. Petersburg, dem früheren Leningrad, befindet sich der Aufgang zu den | |
Räumen des Teatr Pokoleniy. Im Erdgeschoss drehen sich die Trommeln einer | |
Wäscherei, im ersten Stock diskutiert die Theatertruppe über die Blockade. | |
Die Petersburger im Wissen um die Kriegsgeschichte ihrer Heimat, die als | |
Heldenstadt des Großen Vaterländischen Krieges bis heute gefeiert wird. Die | |
Deutschen im Wissen um die Verbrechen der Wehrmacht und darum, dass es | |
immer noch Landsleute gibt, die sich damit nicht befassen wollen. | |
Es sind schwierige Zeiten für deutsch-russische Projekte. Schreiben da | |
Enkel der Täter den Nachkommen der Opfer vor, wie sie sich zu erinnern | |
haben? Rennen die Enkel der Befreier der staatlichen Heldenpropaganda | |
hinterher, die sich immer mehr der Geschichtsschreibung aus Sowjetzeiten | |
annähert? Wo beginnt Propaganda? Und wann wird die Beschäftigung mit den | |
Verbrechen der Großväter zur reinen Gewissensberuhigung? | |
Die Dokumente, die für das Stück gesammelt wurden, sind lehrreich, | |
abstoßend, anrührend, sie zeigen, dass die deutschen Belagerer genau | |
wussten, was sie taten, dass ihnen russisches Leben nichts wert war. Sie | |
zeigen, dass in der belagerten Stadt neben der Angst vor dem Hungertod die | |
Furcht vor dem stalinschen Terror den Alltag zur Hölle gemacht hat. | |
Unfassbar sind die Leidensgeschichten der Hungernden, ist die Erinnerung an | |
Kannibalismus. Schockierend sind nicht nur die Bilder. | |
## „Darf ich alles schreiben?“ | |
In Moskau macht sich Jelena Gremina daran, aus dem gesammelten Material ein | |
Stück zu bauen. Sie gehört zum Autorenstamm des Moskauer | |
Dokumentartheaterkollektivs Teatr.doc. Eine Frage hat sie, bevor sie sich | |
an die Arbeit macht: „Darf ich alles schreiben?“ Wieder geht es um | |
Propaganda, die Linie, die der Staat vorgibt und ob man sie verlassen darf. | |
Als sie das fragt, hängen beinahe an jeder Straßenkreuzung in Moskau | |
Plakate, die auf die große Premiere im ruhmreichen Bolschoi-Theater | |
hinweisen. Rudolf Nurejew ist allgegenwärtig. | |
Niemand in der Stadt kann das Plakat übersehen haben, das für das Stück | |
über den legendären Tänzer, der 1993 an Aids gestorben ist, wirbt. Dann | |
kommt die Nachricht, dass die Premiere abgesagt wurde. Dass das Stück, wie | |
es heißt, noch nicht reif zur Premiere sei, glaubt niemand. Jeder weiß, | |
dass die Absage ein Verbot ist. Nurejew war schwul, der Regisseur des | |
Stückes, Kirill Serebrennikow, ist es auch. Ein Grund für das Verbot | |
scheint auf der Hand zu liegen. | |
Und dann ist da noch die irrwitzige Geschichte um Serebrennikows Bühne, | |
das Gogol-Zentrum. Dem wurde vorgeworfen, Fördergelder unterschlagen zu | |
haben. Um umgerechnet 3 Millionen Euro soll es gehen. Im Zentrum steht eine | |
Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“, von der es | |
Videoaufzeichnungen gibt, die in Zeitungen besprochen wurde, die in Paris | |
gastiert hat und die angeblich nie zur Aufführung gekommen sein soll. Ein | |
irrwitziger Fall, bei dem Regisseur Serebrennikow, der lange von des | |
Kremls Gnaden lebte und heute als Kremlkritiker gilt, zunächst nur Zeuge | |
ist. | |
## Mietvertrag des Theaters gekündigt | |
Jelena Gremina sitzt in ihrer mit Büchern vollgestellten Künstlerwohnung in | |
der Nähe der Metro-Station Aeroport, wo man zu Sowjetzeiten vielen | |
Intellektuellen Wohnraum zugeteilt hat. Ein Ort, an dem man schon lange die | |
Grenzen des Sagbaren auslotet. Sie sagt, dass sie sich nie kaufen lassen | |
würde, dass sie mit ihrem Theater immer unabhängig bleiben wolle. | |
Was es bedeutet, mit der Staatsmacht aneinanderzugeraten, wissen sie im | |
Teatr.doc nur zu gut. Nach einer Satire über den russischen Präsidenten | |
Wladimir Putin und einem Stück über das blutige Ende der Geiselnahme in | |
einer Schule durch tschetschenische Rebellen, bei dem über 300 Menschen zu | |
Tode gekommen sind, wurde dem Theater der Mietvertrag gekündigt. Es war der | |
einzige Hebel, den die Moskauer Stadtverwaltung hatte. Das Teatr.doc | |
erhält keine öffentliche Förderung. | |
Jelena Gremina will sich nicht unter Druck setzen lassen. An diesem Tag im | |
Juli rührt sie in ihrem Tee und sagt, dass sie nicht glaube, dass | |
Serebrennikow zu Schaden komme. Er sei schon zu bekannt, um einfach | |
weggesperrt zu werden. Ein paar Tage später ist klar, dass sie sich | |
getäuscht hat. | |
## Der Versuch, sich dem Thema zu nähern | |
Die Schauspieler des Teatr Pokoleniy sprechen über den Fall. Sie sind | |
ratlos und fragen sich, was der Fall mit ihnen zu tun haben könnte. Wo sie | |
mit ihrer Arbeit über die Blockade landen werden, wissen sie noch nicht | |
genau. Ob sie anecken werden mit einer neuen Sicht auf die Geschehnisse | |
während der Zeit der Belagerung, die die Opfer der Stadt in den Fokus rückt | |
und nicht die Helden der Befreiung, lässt sich noch nicht absehen. | |
Gemeinsam mit dem deutschen Regisseur Eberhard Köhler und Danila | |
Korogodski, dem künstlerischen Leiter der Off-Gruppe, versuchen sie sich | |
dem Thema zu nähern. | |
Sie erfahren, dass in Deutschland die meisten Menschen nicht viel wissen | |
über eines der größten Verbrechen, das die deutsche Wehrmacht im Zweiten | |
Weltkrieg begangen hat. Sie erfahren, dass in den Lehrplänen der Schulen | |
mehr über den Bombenkrieg auf die deutschen Städte steht als über die | |
Hungertoten von Leningrad. Und sie wundern sich, dass man sich an die | |
russischen Soldaten nicht nur als solche erinnert, die Deutschland vom | |
Faschismus befreit haben, sondern auch als ein Heer von Vergewaltigern. | |
„Das ist also die Propaganda bei euch?“, fragt Schenja Anisimow, einer der | |
Schauspieler. Und wieder geht es um Wahrheit, darum, dass zwei Ansichten | |
richtig sein können, auch wenn sie sich fundamental unterscheiden. | |
## Auslassungen und „soviet shit“ | |
Beim Besuch des Verteidigungsmuseums von St. Petersburg, das auch als | |
Blockademuseum bezeichnet wird, hat die Wahrheit gleich zu Beginn einen | |
schweren Stand. Da steht, dass es den Deutschen nicht gelungen ist, | |
Leningrad zu erobern, weil die Widerstandskraft der Bevölkerung zu groß | |
war. Dass sich Hitlerdeutschland entschied, die Stadt nicht zu erobern, um | |
die Kriegsentscheidung weiter südlich zu suchen, wird nicht erwähnt. Eine | |
lässliche Auslassung oder eine dreiste Lüge? | |
„Soviet shit“, nennt Theaterleiter Korogodski, der seit Jahrzehnten in den | |
USA arbeitet, um beinahe jede freie Woche, die er hat, mit seiner Truppe in | |
Russland zu verbringen, die Ausstellung. Er kann sich bei all den | |
Heldenbildern, den ausgestellten Waffen und Militärkarten nicht | |
hineinversetzen in die Zeit des Elends, von dem ihm seine Mutter aus | |
eigenem Erleben erzählt hat. | |
Das Thema Wahrheit lässt die Gruppe nicht los. Die Beteiligten wissen, dass | |
sie sich mit einem Theaterstück der Wahrheit höchstens ein Stück annähern | |
können. Am Jahrestag der Umzingelung, dem 8. September, ist Premiere von | |
„67/871“ im Theater unterm Dach in Berlin. Nun wird das Publikum auf die | |
Suche nach dem Kern der Geschichte geschickt. | |
8 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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