| # taz.de -- Jüdische Kontingentflüchtlinge: Die Würde der alten Genrietta | |
| > Genrietta Liakhovitskaia ist eine russische Jüdin, Rentnerin und lebt von | |
| > zwei Euro am Tag in Berlin. Die deutsche Bürokratie lässt sie verarmen. | |
| Bild: Der Stolz auf ihre Schönheit ist ungebrochen, die Lieblingsbluse aus dem… | |
| Berlin taz | „Das Sozialamt ist eine Maschine, um Leute zu quälen!“ | |
| Genrietta Liakhovitskaia ist wütend. Die zierliche Frau mit dem hoch | |
| gesteckten, schneeweißen Haar, den rot geschminkten Lippen hat innegehalten | |
| für diesen Satz. Dann läuft sie wieder rastlos durch ihre | |
| 1,5-Zimmer-Wohnung im Berliner Wedding. | |
| Genrietta ist 79 Jahre alt. Sie setzt sich, aber ihre Wut, die setzt sich | |
| nicht. Ihre Hände hüpfen durch die Luft. „Ständig müssen wir beim Soziala… | |
| um Unterstützung betteln“, sagt sie mit fester Stimme. „Wie Schmarotzer | |
| behandelt man uns da!“ | |
| Genrietta besteht darauf, mit ihrem Vornamen angesprochen zu werden. So ist | |
| es in ihrer Heimat, in Russland üblich, nicht das steife „Frau | |
| Liakhovitskaia“. „Mein Leben hat mich gelehrt, mit wenig auszukommen“, sa… | |
| sie. Zwei Euro am Tag reichen für ihr Essen, seit sie genau weiß, in | |
| welchem Discounter sie welche Angebote bekommt. Akribisch führt sie Buch | |
| über ihre Ausgaben. Genrietta bemüht sich, zu sparen, nur so bekommt sie | |
| genug zusammen, um ein- oder zwei Mal im Jahr nach Russland zu reisen. Um | |
| dort ihre Bekannten zu treffen. Und um ihre russische Rente abzuholen. | |
| Sie beginnt zu erzählen. Davon, dass sie 1938 in Leningrad in der | |
| Sowjetunion geboren wurde. Wie sie 1996, mit 58 Jahren, nach Deutschland | |
| kam, als sogenannter jüdischer Kontingentflüchtling. Seit 1990 sind rund | |
| 220.000 Juden aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten als | |
| Kontingentflüchtlinge nach Deutschland eingewandert. Angefangen hatte damit | |
| noch die DDR, die kurz vor ihrem Ende 1990 sowjetischen Juden ein | |
| unbürokratisches Bleiberecht zusicherte. „Wir treten dafür ein, verfolgten | |
| Juden in der DDR Asyl zu gewähren“, hieß es in einem Beschluss der letzten | |
| DDR-Volkskammer. Das vereinte Deutschland bestätigte 1991 diese Regelung. | |
| Auch, um die jüdischen Gemeinden in Deutschland zu beleben. | |
| Genrietta ist im Rahmen des Gesetzes für „über humanitäre Hilfsaktionen | |
| aufgenommene Flüchtlinge“ nach Deutschland gekommen. In ihrem Pass stand | |
| unter Nationalität: „Jude“. Eine sowjetische Eigenheit, Jüdischsein war | |
| damals mehr als eine Religion. Einen Nachweis über deutsche Wurzeln musste | |
| sie nicht erbringen. | |
| ## Gleichbehandlung? Nein | |
| Doch wie zehntausende andere Kontingentflüchtling hat Genrietta inzwischen | |
| ein Problem mit der deutschen Rechtsprechung. Kontingentflüchtlinge sind | |
| vom Fremdrentengesetz ausgeschlossen. Das heißt, dass die Arbeitsjahre in | |
| der Sowjetunion vom deutschen Rentensystem nicht anerkannt werden. Die | |
| Konsequenz: winzige Renten und der Gang zum Sozialamt. | |
| Genriettas Rente, die sie aus Russland erhält, beträgt umgerechnet etwa 160 | |
| Euro. Der Rest, knapp 630 Euro, wird aufgestockt. Diese Grundsicherung ist | |
| jedoch keine Mindestrente, sondern eine Sozialhilfe, also ähnlich wie Hartz | |
| IV. Das heißt, sie ist mit Auflagen verbunden: Keine Reisen, die länger als | |
| einen Monat dauern, Erspartes über 2.600 Euro und sonstige Einkünfte werden | |
| angerechnet. Es ist wie eine Rente auf Bewährung. „Das ist Schikane!“ | |
| Genrietta redet sich in Rage. | |
| Genrietta vergleicht sich mit russlanddeutschen Spätaussiedler, die | |
| ebenfalls in den neunziger Jahren nach Deutschland kamen – aber eben | |
| deutsche Wurzeln nachweisen mussten. Deren Arbeitsjahre in der Sowjetunion | |
| werden anerkannt. Kontingentflüchtlinge hingegen gelten als | |
| „nicht-deutschstämmige Personen“ und hätten somit keinen Anspruch auf | |
| Gleichbehandlung. So heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine | |
| Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen vom Dezember 2015. | |
| „Wie deutsch muss man sein für die Rente?“, fragte Grünen-Abgeordneter | |
| Volker Beck 2015 in der Jüdischen Allgemeinen und erläutert: „Wenn man | |
| keinen rassischen Deutschtumbegriff zugrunde legt – und das möchte ich in | |
| Deutschland niemandem unterstellen –, dann stammen sowohl die | |
| Spätaussiedler als auch die sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlinge | |
| ursprünglich aus dem Gebiet des einstigen ‚Heiligen Römischen Reichs | |
| deutscher Nation‘ “. Seit Jahren setzen er und der Zentralrat der Juden | |
| sich für eine Gesetzesänderung ein – bisher ohne Erfolg. | |
| Als wolle sie nicht, dass die Wut zu sehr Besitz von ihr ergreift, wechselt | |
| Genrietta abrupt das Thema. „Es existiert keine physikalische Zeit! Die | |
| Prozesse in der Natur sind zeitlos!“ Zeit ist ein soziales Konstrukt und in | |
| physischen Formeln nicht mehr als eine leere Variable – das ist ihre | |
| Hypothese, die sie entwickelt hat, als sie noch als Physikerin forschte. | |
| „Diese Aussage könnte die theoretische Physik revolutionieren. Ich habe das | |
| alles aufgeschrieben und publiziert.“ Später hat sie sich als Spezialistin | |
| für Patente einen Namen gemacht. Und das, obwohl an ihrem Institut „alles | |
| voller Männer“ gewesen sei. „Ich sei Einstein im Rock, haben meine Freunde | |
| immer gesagt.“ Sie lacht. | |
| Man nannte sie Einstein im Rock | |
| War ihr Leben damals leichter? Nein, sagt sie sofort. „Ich bin Jüdin. Wir | |
| sind nirgendwo willkommen.“ In Russland hat sie für ihren guten | |
| Schulabschluss eine Goldmedaille erhalten, durfte aber nicht an der | |
| Universität ihrer Wahl studieren. Für Juden in der Sowjetunion gab es | |
| Quoten für alles Mögliche: Hochschulen, Jobs, Ausreiseerlaubnisse. „Jude | |
| sein war eine Nationalität“, sagt Genrietta. | |
| Als Kind lebte Genrietta mit ihrer Mutter und ihrem fünf Jahre älteren | |
| Bruder in Leningrad. Der Vater, ein Jurist, war, seit sie denken konnte, an | |
| der Front gewesen. Ab 1941 wurde die Stadt von der deutschen Wehrmacht | |
| belagert. Genrietta war dreieinhalb Jahre alt, als sie mit ihrer Familie in | |
| den Ural flüchtete. „Ich weiß noch, dass uns die Familien dort aufnehmen | |
| sollten. Und daran, dass sie das nur ungern taten.“ | |
| Die Erinnerung an den Hunger ist bis heute geblieben. „Wir gruben | |
| Kartoffeln aus dem Garten unserer Vermieterin aus und aßen sie roh und mit | |
| Schale. Mit knirschenden Zähnen wegen der ganzen Erde.“ Genrietta klingt | |
| jetzt, als wäre es erst gestern gewesen. „Und einmal bat ich meine Mutter | |
| um ein Stück Brot, nur ein ganz kleines, zum Lutschen. Aber sie hatte | |
| keines und fragte mich in vollkommenem Ernst, ob sie sich einen Finger | |
| abschneiden solle. Ich lief weinend aus dem Haus und versuchte verzweifelt, | |
| den Schnee zu essen.“ Später schrieb sie ein Gedicht darüber. | |
| Erst im Frühjahr war sie bei einer Gedenkveranstaltung in Sankt Petersburg | |
| gewesen. Auf einem Friedhof hatte jemand ein Stück Brot auf einen Grabstein | |
| gelegt. Als Genrietta davon spricht, bricht ihre Stimme. Sie hat Tränen in | |
| den Augen. Es reicht für heute. | |
| Zwei Wochen später steht sie vor einer Backsteinmauer. Fototermin. | |
| Genrietta posiert wie ein geübtes Modell. Tatsächlich hat ein ukrainischer | |
| Bildhauer eine großformatige Zeichnung und eine Gipsbüste angefertigt, | |
| damals, als sie noch jung war. Seither scheint der Stolz über ihre | |
| Schönheit ungebrochen. Immer wieder richtet sie sich ihr Haar und den | |
| Kragen ihrer Lieblingsbluse. Die hat sie aus dem Secondhand-Land, 3 Euro. | |
| Genrietta lässt sich vom Sozialamt nicht das Leben vermiesen. | |
| ## Was bekomme ich zurück? | |
| Gleich um die Ecke, in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte, steht die | |
| Neue Synagoge. die goldbelegte Kuppel hebt sich vom Großstadtgrau ab. | |
| Genrietta ist auf dem Weg zum Literaturclub der jüdischen Gemeinde. Von | |
| allen Seiten wird sie auf Russisch gegrüßt. Nach Angaben des Zentralrats | |
| der Juden machten Kontigentflüchtlinge heute etwa 90 Prozent der Mitglieder | |
| aller jüdischer Gemeinden in Deutschland aus. | |
| Doch Genrietta kam 1996 nicht nach Berlin, um den jüdischen Literaturclub | |
| oder die wissenschaftliche Gesellschaft der Gemeinde zu bereichern. Sie | |
| kam, um dem immer stärker werdenden Antisemitismus zu entkommen. Und weil | |
| sie unter starkem Asthma litt. In Russland gab es für sie keine | |
| Medikamente. Die Prognose der Ärzte: Sie hat vielleicht noch vier Monate zu | |
| leben. „Ausgerechnet in Deutschland rettete man mir gerade noch so das | |
| Leben“, sagt Genrietta. | |
| Damals hatte sie andere Vorstellungen, wie ihr Leben in Deutschland | |
| weitergehen würde. „Keiner von uns erwartete, dass wir von Sozialhilfe | |
| würden leben müssen. Wir hatten exzellente Abschlüsse, aber die Behörden | |
| erkannten sie nicht an. Man ließ uns einfach nicht arbeiten!“ Wieder wird | |
| sie lauter. Die Empörung kommt durch. | |
| Weil sie, die Physikerin, nicht untätig bleiben wollte, engagiert sich | |
| Genrietta ehrenamtlich. Jahr für Jahr organisiert sie für Jugendliche | |
| Bildungsolympiaden. Und seit zwanzig Jahren ist sie Seniorenvertreterin im | |
| Bezirk Mitte. „Ich habe so viel getan für die Menschen hier“, seufzt sie. | |
| „Und was bekomme ich zurück? Das Sozialamt! Was ist los mit den Politikern | |
| in diesem Land?“ Sie fühlt sich verraten. „Deutschland hätte mir als Kind | |
| fast den Tod gebracht, um mich später vor ihm zu bewahren. Nun lässt es | |
| mich wieder im Stich.“ | |
| Der Literaturclub spendet ihr Trost. Auch wenn der Weg dorthin immer | |
| beschwerlicher wird. Es gibt einen Aufzug, doch Genrietta besteht darauf, | |
| die Treppe hochzusteigen. Auf jeder zweiten Stufe hält sie dann inne, weil | |
| sie ihr noch etwas einfällt, was sie erzählen will. | |
| Auf der letzten Treppenstufe angekommen, sagt sie: „Schreiben Sie, dass es | |
| mir nicht ums Geld geht. Es geht mir ums Prinzip. Politik und Gesetzgebung | |
| dieses Landes müssen uns endlich ein Leben in Würde ermöglichen. | |
| Deutschland trägt eine Verantwortung!“ Dann weicht die Wut aus ihrem | |
| Gesicht. „Bis bald“, sagt sie mit einem Lächeln. | |
| 1 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Nora Belghaus | |
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