| # taz.de -- Portrait eines jüdischen Historikers: Wie funktioniert Germanija? | |
| > Dmitrij Belkin kam als „Kontingentflüchtling“ 1993 nach Deutschland. In | |
| > einem Buch erzählt er die Geschichte seiner Migration. | |
| Bild: Goethe: Gehört in jedes Bücherregal in Deutschland? | |
| Dmitrij Belkin lächelt, und ein bisschen hat es den Anschein, als habe er | |
| sich nur deswegen einen Bart wachsen lassen, damit das Lächeln etwas | |
| abgemildert wird. Es soll ja nicht aufdringlich wirken, wie er da so steht, | |
| in seiner Altbauwohnung im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg. | |
| Belkin ist Historiker und arbeitet als Referent beim Ernst Ludwig Ehrlich | |
| Studienwerk. Er betreut dort Stipendiaten – alle begabt, alle jüdisch, und | |
| viele aus Osteuropa. Im Grunde wie er selbst. Belkin hat kürzlich ein Buch | |
| geschrieben: „Germanija“ heißt es; im Subtitel: „Wie ich in Deutschland | |
| jüdisch und erwachsen wurde“ (Campus Verlag, Frankfurt am Main 2016, 202 | |
| Seiten, 19,95 Euro). | |
| Die Ankunft von Belkin in Deutschland war nicht so herzlich und nicht so | |
| selbstverständlich, wie Belkin heute in seiner Wohnung Besucher empfängt. | |
| 1993 kam er, ein halbes Jahr später seine Frau. „Kontingentflüchtling“ war | |
| der juristische Ausdruck, aber was Belkin unternahm, war ja eigentlich eine | |
| Ausreise. „Wir hatten recht früh gewusst, dass wir hier in Deutschland als | |
| Flüchtlinge galten. Aber was das Wort Flüchtling bedeutet, war uns nicht | |
| bewusst“, sagt er. Kontingentflüchtling war die juristische Konstruktion, | |
| um Juden aus den Ländern der zerfallenden Sowjetunion eine Übersiedlung | |
| nach Deutschland zu ermöglichen. | |
| Zu Hause hatte Belkin, 1971 in Dnipropetrovsk geboren, von dieser | |
| Möglichkeit gehört. „Ich bin ein Kind der Sowjetunion. 1992 reiste ich mit | |
| einem Freund nach Moskau, weil wir ein Visum für Deutschland beantragen | |
| wollten“, erzählt er. „Wir glaubten, die Botschaft sei in Moskau.“ Erst … | |
| höfliche Reaktion der deutschen Botschaftsangestellten sorgte dafür, dass | |
| er verstand: Das Land, in dem er zu leben glaubte, existierte wirklich | |
| nicht mehr. „Man sagte uns: Tut uns leid, aber die für Sie zuständige | |
| Botschaft ist in Kiew.“ Und die ukrainischen Behörden haben sogar seinen | |
| Vornamen geändert: Aus dem russischen Dmitrij wurde ein ukrainisches | |
| Dmytro. Das wollte er nicht. | |
| Belkin erzählt das, während er in seiner Küche Tee kocht und einen Kuchen | |
| aufschneidet, den er in einem russischen Laden in der Nähe gekauft hat. | |
| Seine Frau kommt in die Küche und holt ein anderes Gebäck aus ihrer Tasche. | |
| „Warum nimmst du nicht das?“ fragt sie. „Das ist bio, deutsch.“ Sie hä… | |
| auch „biodeutsch“ gesagt haben können. Schon beim Gebäck beginnt die Frage | |
| nach der Identität. | |
| ## „Migranten wollen in der Gesellschaft mitmachen“ | |
| Von seiner Deutschlandidee war die Familie nicht begeistert. „Meine Oma hat | |
| gesagt, wenn du nach Deutschland gehst, dann werden sie euch einsammeln und | |
| das Ganze geht wieder von vorne los.“ Was er entgegnete? „Ach, das war der | |
| normale Überlebenszynismus.“ | |
| Seine Erwartung? „Irgendwo zwischen Hitler und Goethe. Deutschland, das | |
| waren guter Fußball und gute Autos.“ Mit dem Bus und mit zwei prall | |
| gefüllten chinesischen Plastiktaschen kam er von der Ukraine nach | |
| Karlsruhe, Erstaufnahme. „Viele Flüchtlinge haben diese Taschen“ erklärt | |
| er. „Die reißen nicht so leicht und nehmen die von dir gewünschte Form an.�… | |
| Zweite Station war Reutlingen, Flüchtlingswohnheim. Er lernte Deutsch und | |
| konnte bald in Tübingen studieren. | |
| „Mit Deutschland konnte ich noch nicht viel anfangen“, sagt er. „Niemand | |
| braucht dich, niemand fragt dich. Das ist wohl eine Erfahrung, die alle | |
| Migranten machen.“ Dazu kommt eine andere Erfahrung. „Die Deutschen, gerade | |
| die linken und linksliberalen, haben eine von oben kommende Zuneigung.“ Als | |
| Gutmenschentum mag Belkin das nicht bezeichnen, das ist ihm ein Begriff, | |
| den die Rechten benutzen. „Es geht darum, dass die Deutschen Migranten | |
| bemuttern, sie als Opfer sehen, an denen etwas gutzumachen ist. Die | |
| Flüchtlinge – und die Juden sowieso – werden manchmal zu etwas Sakralem | |
| erklärt – doch sie sind nur eines: Menschen!“ | |
| Egal, welche Bilder man von einem Flüchtling im Kopf hat: Belkin sieht | |
| nicht so aus, wenn er in seiner geräumigen Wohnung sitzt, hinter ihm die | |
| große Bücherwand und die geschmackvollen Möbel. So sehen sonntags im | |
| „Tatort“ Professorenwohnungen aus. Aber Belkin ist ja auch ein | |
| Intellektueller, ein Historiker, der sich als Publizist in aktuelle | |
| Diskurse einmischt. | |
| „Die Gesellschaft versteht nicht, dass Migranten in der Gesellschaft | |
| mitmachen wollen“, sagt er. Unmerklich wechselt er von der dritten in die | |
| erste Person. „Sie versteht nicht, dass wir die Gesellschaft gestalten | |
| wollen und können. Stattdessen werden wir alimentiert, getätschelt, | |
| bemuttert.“ | |
| ## Weder verdammt noch verehrt, bloß respektiert werden | |
| Gleichberechtigt mittun – das war das, was Belkin von Beginn an in | |
| Deutschland wollte. 2004 kam er nach Frankfurt. Sein Studium hatte er | |
| abgeschlossen, promoviert war er, eine Stelle gerade angetreten. „Ich hatte | |
| gehört, dass es an der Uni eine Gruppe gab, die regelmäßig Fußball spielt.�… | |
| Da ist er hin. „Die waren aber zunächst gar nicht glücklich, als ich | |
| dazukam.“ Alles Linke, Linksliberale, Akademiker dort. „Die dachten: Was | |
| will der Ausländer hier? Die Liebe kam nach dem Fremdeln, aber dann war sie | |
| echt. So funktioniert Germanija.“ | |
| Der Historiker Belkin sieht Ambivalenzen, die die Heimischen nicht mehr | |
| sehen. Dazu gehört auch dies: „Viele Flüchtlinge sehen Deutschland als ein | |
| gutes Land, das ihnen hilft und dem sie dankbar sind. Und sie wundern sich, | |
| dass gerade die Menschen, die ihnen helfen, dann sagen, dass dies ein | |
| Scheißland ist.“ Das ist der Punkt, über den sich Belkin heute noch am | |
| meisten wundert. Er wisse ja, dass man das nicht von der Schoah trennen | |
| könne, sagt er, aber ein jüdisches Problem sei das noch lange nicht. | |
| „Dieses Bemuttertwerden ist eine Erfahrung von Juden, aber es ist auch eine | |
| Erfahrung, die andere Flüchtlinge machen, weil nach der Schoah in | |
| Deutschland nun auch der Kolonialismus aufgearbeitet wird.“ | |
| Ankommen. Das ist das Thema des Dmitrij Belkin. In Frankfurt hat er für das | |
| Jüdische Museum Ausstellungen konzipiert. Eine hieß „Ausgerechnet | |
| Deutschland!“, es ging um jüdisch-russische Einwanderung, es ging also auch | |
| um seine Geschichte. Und um seine Lust, sich einzumischen. „Das wurde mir | |
| mit den Ausstellungen klar“, sagt er. „Und so verstehe ich mich auch als | |
| Publizist: Jemand, der sich in aktuellen Diskussionen zu Wort meldet, ohne | |
| dazu jahrelang geforscht zu haben, der aber über eine gewisse Bildung und | |
| einen gewissen Hintergrund verfügt.“ | |
| Deutsche Akademiker nennen das populärwissenschaftlich; ein Wort, das oft | |
| mit leichter Abscheu verwendet wird. „In Deutschland gibt es nicht die | |
| public intellectuals“,ärgert sich Belkin, denn es ist genau sein | |
| Selbstverständnis, zumindest wäre er das gerne: ein öffentlicher | |
| Intellektueller. Der gebildete Mensch, dessen Wort gehört wird, der kluge | |
| Zweifel vorträgt, der weder verdammt noch verehrt, sondern bloß respektiert | |
| wird. „Aber hier existiert ja der Diskurs der gelehrten Phrase“, sagt er. | |
| „Deutschland ist für mich das Land in Europa, in dem die intellektuellen | |
| Debatten immer etwas belehrend geführt werden.“ | |
| Mittlerweile hat Belkin ein gewisses Standing: Referent eines Studienwerks, | |
| Kurator von Ausstellungen, Buchautor und Publizist. Er ist Deutscher mit | |
| deutschem Pass, mit leichtem Akzent und ohne ukrainische | |
| Staatsbürgerschaft. An den Tag, an dem sein größter Schritt zur Integration | |
| vollzogen wurde, erinnert er sich noch gut: „Als endlich ein Lkw mit 2.000 | |
| Büchern, die wir uns aus der Ukraine haben nachbringen lassen, vor der Tür | |
| stand.“ Es waren Heine-, Goethe- und Thomas-Mann-Bände – in russischer | |
| Übersetzung. Mittlerweile hat er auch die deutschen Klassikerausgaben. | |
| Alles in einem Regal, nebeneinander, quergestellt und reingequetscht. | |
| 8 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Krauss | |
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