| # taz.de -- Essay zum Holocaust-Gedenken: Trost der moralischen Überlegenheit | |
| > Als Kind träumte ich von Auschwitz, der Hölle, die meine Großmutter | |
| > durchlaufen hatte. Nun frage ich mich: Was, wäre ich Deutsche gewesen? | |
| Bild: Erinnnerung ist wichtig: Holocaust-Gedenken in Moskau | |
| Als Kind hatte ich einen immer wiederkehrenden Traum: Ich bin mit meiner | |
| Großmutter in Auschwitz in der Schlange. Während wir uns langsam nach | |
| vorne bewegen, wächst meine Angst mit jedem Schritt, denn ich weiß, dass | |
| der Moment der Trennung näher rückt. Als wir schließlich vorn sind, schickt | |
| ein gesichtsloser Mann mit weiß behandschuhter Hand meine Großmutter nach | |
| rechts, mich dagegen nach links. Ich sehe meine Großmutter in eine Zukunft | |
| entschwinden, bleibe wie gelähmt zurück. Es war klar, dass sie ausgewählt | |
| wurde, um weiterzuleben, während ich als „unwertes Leben“ eingestuft wurde. | |
| Im Moment des Todes wachte ich stets auf – schweißgebadet und | |
| orientierungslos. | |
| Dieser Traum war eine logische Konsequenz der Gedanken, die mich tagsüber | |
| umtrieben. War es ein Wunder, dass meine Großmutter Auschwitz überlebt | |
| hatte, so musste sie ein Wunderwesen sein. Dass ich diese Eigenschaft von | |
| ihr geerbt hatte, schien mir unwahrscheinlich. | |
| Wäre ich in Auschwitz gewesen, so war ich überzeugt, hätte ich niemals | |
| überlebt. Schließlich war ich weder stark noch diszipliniert, konnte | |
| Entbehrungen und Erniedrigungen kaum ertragen. Die eherne Standhaftigkeit | |
| meiner Großmutter fehlte mir. Ich schloss daraus, dass ich es nicht | |
| verdient habe, zu leben. Die einzigen Menschen, die es verdienten, waren | |
| welche wie sie, die das Schicksal auserwählt hatte. Im Traum sah ich mich | |
| zum Tode verurteilt; einmal erwacht, schien mir die Herausforderung, die | |
| mein Jüdischsein mit sich brachte, meine Fähigkeiten zu übersteigen. | |
| Obwohl Auschwitz ein Begriff war, den ich früh gelernt hatte, blieb er in | |
| meinem Kopf ohne Bilder oder Fakten lange abstrakt. Auschwitz war der Name | |
| einer unsagbaren Hölle, die meine Großmutter durchlaufen hatte. Als | |
| Teenager dann, als ich das Holocaust-Museum in Washington besuchte und die | |
| Schuhberge, die Fotos mit den abgeschnittenen Leichenteilen sah, musste ich | |
| mich übergeben. | |
| ## Teil eines Gewaltmusters | |
| Das ist also die Alternative zum Leben, machte ich mir klar. Nicht das | |
| vage, ungreifbare Ende, wie ich es in meinen Träumen konzipiert hatte, | |
| sondern diese blutbesudelte Widerwärtigkeit. Ich sah mich selbst in diesen | |
| Haufen liegen, sah mein weniges Hab und Gut in ihnen, sah meine Beine und | |
| Arme, verschränkt mit denen anderer, und mein Körper schien mir dann | |
| unendlich verwundbar, ein Körper, der für andere etwas war, was man | |
| vollständig entehren und ausmerzen konnte. | |
| In meiner Schule hieß es, der Holocaust sei Teil eines Gewaltmusters, das | |
| sich in der Geschichte wiederholt habe und sich auch weiterhin unaufhaltsam | |
| wiederholen würde. Aber als ich an einem sonnigen Tag zitternd auf den | |
| Stufen des Holocaust-Museums saß, war mir plötzlich klar, dass ich damit | |
| nicht leben konnte. Mit der Überzeugung, dass ich zu einem Leben der | |
| Ausgrenzung und Entfremdung verdammt war, aus dem einzigen Grund der | |
| zufälligen Geburt. Das war keine Welt, in die ich hineinwachsen wollte. | |
| Aber wer war ich, dass ich entscheiden konnte, wo und wie ich leben wollte? | |
| Ich war machtlos. | |
| Als ich Jahre später die Entscheidung traf, jene ultraorthodoxe | |
| Gemeinschaft zu verlassen, die Holocaust-Überlebende gegründet hatten, um | |
| sich vom Rest der Welt und dem Bösen darin abzuspalten, habe ich unbewusst | |
| die Lehren mitgenommen, mit denen ich groß geworden bin. Ich habe mich | |
| darin geübt, mein Jüdischsein zu verbergen, bis ich mir sicher war, mich | |
| gefahrlos offenbaren zu können. Ich habe etwas sehr Amerikanisches gelernt: | |
| als „normal“ zu gelten. | |
| In den Träumen, die dann folgten, versuchte ich, den gesichtslosen Mann an | |
| der Rampe in Auschwitz davon zu überzeugen, ich sei irrtümlich dort. Ich | |
| wollte nicht wie meine Großmutter ausgewählt werden, um zu überleben, | |
| sondern für freigestellt erklärt werden – herausgelöst aus der Schlange. | |
| ## Deutschland, die verbrannte Erde | |
| Als ich 25-jährig zum ersten Mal nach Deutschland reiste, wurde mir schnell | |
| klar, dass ich hier nicht als „normal“ durchgehen konnte. Es war nicht der | |
| Schmelztiegel, den ich aus den USA kannte. Ich sah plötzlich überall Nazis. | |
| Punks mit Tattoos und Piercings sahen mich schief von der Seite an – dachte | |
| ich –, und mir schlug das Herz bis zum Hals. Männer mit kantigem Kinn und | |
| hellen Haaren gingen an mir vorbei – ich sprang reflexartig zur Seite. Dies | |
| waren Menschen, wie sie meine Großmutter beschrieben hatte, Schurken, wie | |
| ich sie von den Schwarz-Weiß-Fotos her kannte. Ich versuchte mir rational | |
| einzureden, dass viel Zeit vergangen sei und heute andere Menschen hier | |
| lebten, auch wenn sie ihnen äußerlich ähnelten. Aber es fiel mir schwer, | |
| dies zu glauben. | |
| In Berlin besuchte ich das Holocaustdenkmal, um Trost zu finden und mich zu | |
| vergewissern, dass die deutsche Regierung den Opfern Respekt zollte. Doch | |
| als ich Schülergruppen sah, die lachend herumsprangen als wäre das Mahnmal | |
| ein Betonspielplatz, wurde mir übel. Dieser Ort erschien mir plötzlich wie | |
| ein finsterer Plan, Opfer wie meine Großmutter ein weiteres Mal zu | |
| entehren, während man gleichzeitig gegenüber der Welt so tat, als würde man | |
| ihrer in Ehren gedenken. | |
| Ich kehrte nach Amerika mit der Überzeugung zurück, Deutschland sei genau | |
| die verbrannte Erde, vor der man mich zu Hause gewarnt hatte. Aber es war | |
| noch etwas anderes passiert: Ich hatte einen realen Menschen getroffen. Und | |
| dieser Mensch war Deutscher, war genauso so komplex und facettenreich wie | |
| ich selbst. Über ihn lernte ich weitere Deutsche kennen, und auch wenn | |
| nicht all diese Begegnungen angenehm waren, entstanden doch Freundschaften, | |
| viele Menschen beeindruckten mich mit ihren politischen Überzeugungen und | |
| Idealen. Und da ich überzeugt war, nur aus Zufall als Jüdin geboren zu | |
| sein, begann ich mich zu fragen, ob es sich mit dem Deutschsein nicht | |
| ähnlich verhalte. So entstand eine neue Frage: Was, wenn ich in jener Zeit | |
| Deutsche gewesen wäre? | |
| ## Ständiges Schwanken zwischen den Polen | |
| Ich hatte eine neue Version des Auschwitz-Traums. Ich war nicht mehr Teil | |
| der Schlange. Sobald ich die vertraute Szene träumte, befand ich mich in | |
| einer anderen Rolle, manchmal sogar in der der Uniformierten, niemals aber | |
| mehr in jener, die ich als Kind eingenommen hatte. Mein Gehirn schien auf | |
| der Frage zu bestehen: Was wäre wenn? | |
| Mir wurde klar, dass sich in der Opferrolle zu befinden zwar schmerzhaft | |
| und beängstigend war, aber emotional relativ klar zu verarbeiten. Sobald | |
| ich mir vorstellte, in der Szenerie meines Traums Deutsche zu sein, verlor | |
| ich schlagartig den Trost der moralischen Überlegenheit. Ich konnte nicht | |
| erfassen, was es bedeutete, in dieser Rolle das Richtige zu tun. Wenn ich | |
| schon Zweifel hegte, dass ich stark genug gewesen wäre, um Auschwitz zu | |
| überleben, wie konnte ich dann annehmen, dass ich den Mut gehabt hätte, | |
| mein Leben zu riskieren, um das Richtige zu tun? Hätte ich das Stehvermögen | |
| gehabt, Befehle zu verweigern? Das möchte ich gern glauben. Ich möchte | |
| kategorisch behaupten, dass ich mich ausreichend kenne, um sicher zu sein, | |
| dass ich nicht zu den Verfolgern gezählt hätte. Aber da bleibt immer dieses | |
| eine Prozent Unsicherheit, das letztlich meine Theorie von Gut und Böse | |
| über den Haufen wirft. | |
| Aus meinen wechselnden Rollen im Traum habe ich gelernt, dass die | |
| Kategorien Gut und Böse nicht taugen. Ich begriff, dass die Welt in einem | |
| ständigen Schwanken zwischen den Polen existiert. Alles kann sich jeden | |
| Augenblick ändern, und Heldentum zeigt sich nicht darin, dass man | |
| zurückblickt und sich fragt, was man hätte tun können. | |
| In den etwas mehr als zwei Jahren, die ich jetzt in Deutschland lebe, ist | |
| mir auch Hass begegnet, oft aber auch der Mut Einzelner, die sich aus | |
| historischer Verantwortung heraus diesem Hass entgegenstellen. Es ist die | |
| Summe dieser vielen Taten, die mich zu der Überzeugung brachten, dass ich | |
| keinen besseren Ort als Deutschland hätte finden können, um mich zu Hause | |
| zu fühlen. | |
| ## Der Hass wird nicht aussterben | |
| Am Freitag war Holocaust-Gedenktag. Die Erinnerung an Auschwitz ist weder | |
| allein eine jüdische noch eine deutsche Verantwortung. Auschwitz begreife | |
| ich als therapeutische Gelegenheit, die Verletzlichkeit, die beide Seiten | |
| traumatisch ererbt haben, miteinander zu teilen. Deshalb plädiere ich | |
| dafür, dass wir den Tag nicht als Trennlinie sehen, sondern als gemeinsam | |
| Erlebtes, das uns miteinander verbindet. | |
| Wir sollten an diesem Tag nicht vergessen, dass es für unsere Freiheit und | |
| unsere Art zu leben keine Garantie gibt. Der Hass wird nicht aussterben, | |
| nicht hierzulande und auch nirgendwo anders, die Menschen in diesem Land | |
| aber werden sich nicht mehr passiv ihrem Schicksal ergeben. Inzwischen habe | |
| ich Vertrauen in mich selbst gefunden; eben jenen Glauben, dass auch ich | |
| die Kraft meiner Großmutter aufbringen würde und den Mut zur Zivilcourage. | |
| Dass diese beiden Kräfte einander bedingen, habe ich in Deutschland | |
| gelernt. | |
| Aus dem Englischen: Silke Mertins | |
| 27 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Deborah Feldman | |
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