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# taz.de -- Spuren jüdischen Lebens in Leipzig: Eine historische Verpflichtung
> Ohne die Arbeit von Bernd-Lutz Lange wüsste man nur wenig über das
> jüdische Leben in Leipzig vor 1945. Ein Gespräch.
Bild: Rolf Kralovitz (Mitte) und seine Mutter Martha (rechts) 1941 im „Judenh…
Leipzig taz | Grübchen und Lachfalten drücken sich in das Gesicht des
Leipziger Autors Bernd-Lutz Lange. Sie treten nur noch mehr hervor, sobald
er über sein Lieblingsthema zu sprechen beginnt: die jüdischen Spuren in
Leipzig.
Erinnerung bringt die Erlösung, Vergessen hält sie auf. (Jüdische Weisheit)
„In meiner Generation gab es überhaupt keine Juden mehr in Leipzig“, sagt
Bernd-Lutz Lange. Geboren wurde er 1944 in Zwickau, mit 21 Jahren zog er
nach Leipzig. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die jüdische Gemeinde in
Leipzig die sechstgrößte in Deutschland und die größte in Sachsen. Nur 24
Jüdinnen und Juden überlebten den Krieg in der Stadt, weil sie entweder
untergetaucht oder mit nichtjüdischen Menschen verheiratet und damit Teil
einer „privilegierten Mischehe“ waren.
Die letzten nichtantisemitischen Berichte über jüdisches Leben in Leipzig
stammten, wie Bernd-Lutz Lange während seiner späteren Recherchen
herausfinden sollte, aus den 1920er Jahren. Die nächsten Aufzeichnungen
dazu erschienen erst 1986 – sie stammten von ihm selbst.
## Spuren im Waldstraßenviertel
Dazwischen: ausgelöschte Generationen, verschwiegene Schicksale,
ausradierte Erinnerungen. Lange machte sich auf die Suche, stöberte in
Adressbüchern nach Anschriften, recherchierte, wo es früher jüdische
Institutionen in der Stadt gegeben hatte. Im Waldstraßenviertel klingelte
und klopfte er an Türen, an denen noch alte Namensschilder hingen. Fragte,
was mit den Menschen passiert ist, die zuvor dort gelebt hatten.
Einige baten ihn herein und erzählten, andere schlugen ihm die Tür vor der
Nase zu. Auch mit der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig trat er
in Kontakt. Der damalige Vorsitzende und Auschwitzüberlebende Eugen Gollomb
wunderte sich, fragte prompt: „In wessen Auftrag kommen Sie?“ Und zu
Gollombs Überraschung antwortete Lange: „In meinem eigenen.“
Im September 1986 erschien in Heft 9 der Zeitschrift Leipziger Blätter
Langes Beitrag „Juden in Leipzig“. Er hatte darin versucht, einen groben
Überblick über ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart zu
liefern, schrieb über die bedeutenden Leistungen für die Messestadt
Leipzig. „Dabei war mir wichtig zu zeigen, dass es ‚die Juden‘ nicht gab,
sondern arme und reiche Menschen und einen großen Mittelstand. Manche waren
streng orthodox, andere liberal. Wieder andere wurden Protestanten oder
Katholiken, Atheisten oder Marxisten“, sagt Lange.
Die Resonanz auf diesen Beitrag war enorm. Den ersten Anruf „von draußen“
erhielt der DDR-Bürger von dem ehemaligen Leipziger Rolf Kralovitz, der
mittlerweile in Köln lebte. Kralovitz lud Lange in einem Brief zu sich ein.
Der beantrage daraufhin einen Besuch im Westen, der ihm tatsächlich
genehmigt wurde. Lange traf sich mit Kralovitz und schrieb dessen
Erzählungen in seinem Werk „Davidstern und Weihnachtsbaum“ nieder.
Mein Großvater Martin Burgheim kam aus Breslau nach Leipzig und heiratete
hier Lina Bucky. Sie hatten drei Töchter: Dorothea, Hedwig und Martha,
meine Mutter. […] Hedwig war eine der ersten Studentinnen an der Hochschule
für Frauen in Leipzig, die von Henriette Goldschmidt begründet wurde. […]
Nachdem sie ihres Amtes enthoben worden war, gründete sie in Leipzig eine
jüdische Haushalts- und Kindergärtnerinnenschule, die die
Nationalsozialisten in der November-Pogromnacht 1938 zerstörten. Hedwig
Burgheim wurde 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.
## Spätfolgen der KZ-Haft
In den 1970er Jahren erblindete Rolf Kralovitz. Dass es sich um eine
Spätfolge seiner KZ-Haft handelt, sei nicht ausgeschlossen, erzählte er
Bernd-Lutz Lange. Der war schon nach der ersten Begegnung mit Kralovitz
überzeugt: „Sein Erinnerungsvermögen hatte sich dadurch noch potenziert.“
Anfangs deportierten die Nazis viele Juden noch in „Judenhäuser“. Die
Familie Kralovitz musste ihr Haus in der Fregestraße, in dem sie 40 Jahre
gelebt hatte, verlassen und erhielt ein Zimmer in einem solchen „Judenhaus“
an der Frankfurter Straße in Schkeuditz. Immer mehr Juden wurden dann aber
auch aus Leipzig Richtung Osten in die Konzentrationslager deportiert. Rolf
Kralovitz wurde schließlich aus Leipzig nach Buchenwald gebracht. Seine
Mutter und seine Schwester starben im Konzentrationslager Ravensbrück.
Die „grüne Minna“ fuhr uns rauf auf den Ettersberg. „Jedem das Seine“ …
am Gitter des Lagertors, durch das wir gehen mussten, den Appellplatz
hinunter, durch die Lagerstraße an den Blocks vorbei, in das Bad und zur
Effektenkammer. Ich war immer stolz gewesen auf meine dichten, dunklen
Haare. Doch nun wurde mein Kopf kahlgeschoren. Man gab mir
Häftlingskleidung, doch das schlimmste waren die „Holländer“ – diese
klobigen Holzschuhe, in denen jeder Schritt zur Qual wurde. Alles, was ich
mitgebracht hatte – mein Koffer, meine Zivilsachen und meine Brieftasche –
wurden mir abgenommen.
## „Hier hatte jeder sein eigenes Grab“
Mit Rolf Kralovitz telefonierte Bernd-Lutz Lange fortan wöchentlich, eine
enge Freundschaft entwickelte sich zwischen den beiden Männern. Überhaupt:
„Die Freundschaften und Erlebnisse, die ich gewonnen habe, weil ich mich
mit diesem Thema befasst habe, sind für mich außerordentlich wertvoll.“
Seine hellen Augen werden noch eine Spur heller, während er das sagt. Eine
Geschichte, die ihm Rolf Kralovitz erzählte, beschäftigt Lange bis heute.
Sie hat sich einen Tag nach der Befreiung des KZ Buchenwald abgespielt.
Nach zwei, drei Kilometern kam ich in ein Dorf, ein richtiges, echtes Dorf,
was ich ja seit Jahren nicht gesehen hatte, und ich erreichte einen
Friedhof, direkt an der Kirche, und sah, dass da Grabsteine standen. Für
jeden Menschen gab es einen Grabstein mit seinem Namen drauf. Ich konnte
mir das einfach nicht mehr vorstellen, dass ein einzelner Mensch ein
eigenes Grab hatte, denn aus Buchenwald kannte ich ja nur Leichenberge,
aufgeschichtet wie Holz, einmal mit dem Kopf auf dieser Seite, und einmal
mit dem Kopf auf der anderen Seite – und hier hatte jeder sein eigenes
Grab.
Rolf Kralovitz hatte überlebt. Er starb im Jahr 2015 im Alter von 90 Jahren
in Köln. „Wenn ich all das nicht aufgeschrieben hätte, hätten die Menschen
ihre Erinnerungen mit ins Grab genommen“, sagt Lange. Der bescheidene Stolz
in seiner Stimme ist kaum zu überhören.
30 Jan 2017
## AUTOREN
Hanna Voß
## TAGS
Holocaust-Gedenktag
Auschwitz
Jüdische Orte
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Antisemitismus
Migration
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Judenverfolgung
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