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# taz.de -- Jüdische Gemeinde in Leipzig: Annäherung beim Chanukka
> Nach dem Krieg lebten noch 24 Jüdinnen und Juden in Leipzig. Heute sind
> es 1.300. Das Interesse an ihren Bräuchen wächst.
Bild: Acht Arme zieren den Leuchter, der Arm mit der neunten Kerze dient oftmal…
LEIPZIG taz | Was mit Lichtern, so viel wisse sie, habe es mit Chanukka auf
sich. Hilfesuchend wandert der Blick der jungen Frau zum anderen Ende des
Tisches. Eine richtungsweisende Handbewegung folgt. An der Stirnseite der
langen Tafel steht ein imposanter Leuchter mit mehreren Armen, etwa einen
Meter hoch, in sattem Goldton. Sie nickt zufrieden mit dem Kopf. Da sind
Halterungen für Kerzen und sogar Kerzen in den Halterungen – ergo: was mit
Lichtern.
Die junge Frau heißt „Roth“ mit Nachnamen. Ihren Vornamen möchte sie nicht
preisgeben, da dieser, in Kombination mit ihrem Nachnamen, einzigartig in
Deutschland sei. Gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrer Mutter ist sie zum
„Chanukka für Jedermann“ ins Ariowitsch-Haus gekommen. 30 Anmeldungen hatte
es zu dem Volkshochschulkurs gegeben, jeder Platz an der mehreren Meter
langen Tafel ist besetzt. „Veranstaltungen wie diese sind immer sehr gut
besucht“, sagt Kursleiter Timotheus Arndt. In Leipzig bestehe großes
Interesse an jüdischen Traditionen, Bräuchen und jüdischem Leben insgesamt.
Knapp 13.000 Mitglieder zählte die jüdische Gemeinde in Leipzig vor Beginn
des Zweiten Weltkriegs. Sie war damit die sechstgrößte in Deutschland und
die größte in Sachsen. 1945 waren noch 24 Juden in Leipzig übrig. Heute
leben immerhin wieder 1.300 Jüdinnen und Juden in der Stadt. Die Neugierde,
wie sie leben und feiern, verbindet sie mit ihren nichtjüdischen
Mitmenschen. „In Leipzig gibt es eine lange Tradition der Zusammenarbeit
von jüdischer Gemeinde, den Kirchen und der bürgerlichen Gesellschaft. Das
zeigt sich auch heute wieder“, sagt Arndt.
Auf dem Tisch im Saal des Begegnungszentrums stehen Servierteller mit
puderzucker-bestreuten Berlinern, Reibekuchen, Mandarinen und Ananas, in
die bunte Partyspieße gesteckt wurden. Schüchtern gießen sich die ersten
etwas zu trinken ein, als Timotheus Arndt fragt: „Wer weiß denn, was
Chanukka ist?“ Auf den ersten Blick könnte er aus dem ultraorthodoxen
Viertel Mea Schearim in Jerusalem stammen. Sein Bart wächst ihm bis zur
Brust. Auf seinem Weg nach unten verliert er nicht nur an Dichte, sondern
auch an Farbe: von Schwarz zu Dunkelgrau, zu Grau und schließlich zu Weiß,
nahezu durchsichtig. Es sind die Haare, die ihm oben auf dem Kopf fehlen.
Auf seiner schmalen, langen Nase sitzt eine dünn umrahmte Brille. Timotheus
Arndt stammt nicht aus Jerusalem, sondern aus Leipzig und ist da
evangelischer Theologe und Vorsitzender der jüdisch-christlichen
Arbeitsgemeinschaft. Niemand mag ihm zunächst antworten, was Chanukka ist.
Bis eine ältere Dame mit verschränkten Armen vor der Brust schließlich „Na,
das Lichterfest“ sagt, und das auf Sächsisch und so nachdrücklich, als wäre
sie beleidigt.
## Erinnerung an erfolgreichen Makkabäer-Aufstand
Die Schwierigkeit des Kurses offenbart sich schon da: Jede*r der 30
Teilnehmer*innen bringt unterschiedlich viel Wissen mit. Hinzu kommt, dass
der eigentliche Kursleiter, ein als musikalisch angekündigter Rabbiner, aus
gesundheitlichen Gründen nicht referieren kann. Hilfe erhält Arndt von
Sebastian Krause, einem Mitarbeiter beim jüdisch-christlichen Arbeitskreis
und Mitglied der jüdischen Gemeinde. Gemeinsam erklären sie, dass Chanukka
gefeiert wird, um an die Wiedereinweihung des Jerusalemer Tempels im Jahr
164 vor Christus zu erinnern.
Der erfolgreiche Makkabäer-Aufstand, der Ursprung und Anlass des
Chanukka-Festes ist, wird in der christlichen Bibel überliefert, in der
jüdischen allerdings nicht. „Die Christen haben also die Bücher ohne Fest,
und die Juden haben das Fest ohne Bücher“, sagt Arndt. Jemand erkundigt
sich nach der Herkunft des Begriffs der „Makkabäer“. Krause, ein breiter,
kräftiger Mann mit Kippa und noch weniger Haaren auf dem Kopf als Arndt,
nuschelt etwas vor sich hin. „Das kannst du auch laut für alle sagen“,
fordert Arndt ihn auf. „War halt ein Kampfname“, sagt Krause, mehr zu Arndt
als zu den Zuhörer*innen. „Wie jetzt ‚Palästinenser‘.“
Besonders die älteren Frauen und Männer in dem durchmischten Publikum
können sich mit ihrem Wissen oft nicht zurückhalten – und murmeln Worte vor
sich hin, schon bevor Arndt oder Krause sie zu Ende aussprechen können. Als
es um die Menora geht, die klassische siebenarmige Lampe, die sich auch im
Wappen Israels findet, ruft einer: „Und demonstrativ vor der Knesset steht
sie auch!“ Dass sie vorlaut sein sollen, wie Arndt es ihnen zu Beginn der
Veranstaltung aufgetragen hat, nimmt sich insbesondere eine Dame ganz vorne
am Tisch zu Herzen. Bald schon wandert mürrisches Gemurmel durch die Runde,
wenn sie die nächste ihrer vielen Fragen stellt.
Anders als die Menora zieren den Chanukka-Leuchter acht Arme. Damals, so
die Überlieferung, beherbergte der siebenarmige Leuchter im Tempel nur noch
Öl für einen Tag. Doch, wie durch ein Wunder, ging das Öl nicht zur Neige,
sondern reichte acht Tage, bis neues geweihtes Öl bereitstand. Um Chanukka
zu feiern, wird an jedem dieser Tage ein weiteres Licht entzündet.
Wie für alles im Judentum gibt es dafür strengstens zu befolgende Regeln.
„Wer das Wunder verkünden will, sollte das bei Einbruch der Dunkelheit tun.
Dann, wenn alle von der Arbeit kommen und es auf ihrem Weg nach Hause sehen
können“, erläutert Krause. „Um Mitternacht kann man sich das auch gleich
sparen.“ Jüdinnen und Juden sollten den Leuchter zudem sichtbar vor ihrem
Haus platzieren, allenfalls im Fenster, das möglichst nicht im zehnten
Stock liegt.
## Aus Israel eingeflogene Berliner
Eine einzige Kerze steckt nicht in den ursprünglich vorgesehenen Fassungen
an einem der acht Arme, sondern am neunten Arm, der dazu im 90-Grad-Winkel
steht. Diese Kerze, der sogenannte Diener oder Schamasch, wird innerhalb
des Judentums unterschiedlich verwendet. Die Aschkenasim, also
osteuropäische Juden, wie es sie fast ausschließlich in Leipzig gibt,
nutzen die Kerze zum Anzünden der übrigen Lichter. Als einzige der Kerzen
darf sie als Lichtquelle dienen – alle anderen sind für so etwas Profanes
nicht vorgesehen.
Im Ariowitsch-Haus werden neben den Berlinern und Reibekuchen dann noch
Hähnchen und gelber Reis serviert. Koscher sind allerdings nur die Berliner
– die sogar extra aus Israel eingeflogen wurden. Zu Chanukka werden Speisen
verzehrt, die in Öl gebraten oder gebacken wurden. Krause, der sich nur an
den Berlinern gütlich tut, erzählt von einem Sketch, der gerade im Internet
die Runde macht.
Es geht um einen amerikanischen Juden, der Weihnachten zwar liebt, aber
froh ist, dass es kein jüdisches Fest ist. „Was für ein Theater das alleine
mit dem Baum wäre“, rezitiert Krause. „Es gäbe Regeln dafür, mit welchem
Fuß man ihn zuerst über die Schwelle der Wohnung tragen dürfte.“ Unter das
Geklimper des Bestecks mischt sich mal ehrliches, mal höfliches Gelächter.
Ob es denn Bezüge zwischen Weihnachten und Chanukka gebe, möchten die
Leipziger*innen wissen. Besonders auffällig, sagt Arndt, sei der Zeitpunkt.
Beide Feste beginnen am 25. Tag des Wintermonats, Weihnachten eben am 25.
Dezember und Chanukka am 25. Kislew. Dieses Jahr fielen beide Feste sogar
genau zusammen. Und das mit den Lichtern, das vereint die Feste ja
irgendwie auch.
9 Jan 2017
## AUTOREN
Hanna Voß
## TAGS
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