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# taz.de -- Autor über deutsch-jüdisches Verhältnis: „Auf beiden Seiten he…
> Yascha Mounk ist in Deutschland aufgewachsen und lebt in den USA. Ein
> Gespräch über Philosemitismus, „Kontextjuden“ und doppelte Freiheit.
Bild: Rabbi Shmuel Havlin beim Chanukka-Fest in der Hamburger Joseph-Carlebach-…
taz: Herr Mounk, was an Ihnen ist jüdisch?
Yascha Mounk: Die Religion spielt in meinem Leben keine Rolle, als Kind
hatte ich nicht einmal eine Bar Mitzwa. Auch das jüdische Brauchtum ist für
mich nicht wichtig: Channukah oder Pessach feiere ich fast nie. Dennoch
habe ich im Laufe meiner Kindheit festgestellt, dass ich oft von anderen
Deutschen als Jude definiert werde.
Sie bezeichnen sich als „Kontextjude“. Was heißt das?
Ich habe ein Privileg, das viele Menschen mit Migrationshintergrund nicht
haben: Man sieht mir nicht an, dass ich nicht biodeutsch bin. Gehe ich zum
Beispiel in die Bäckerei, dann spielt es keine Rolle, dass ich Jude bin.
Wenn ich aber in einem Gespräch erwähne, dass meine Vorfahren Juden waren,
wird es für die Leute auf einmal sehr wichtig. Dann bin ich für sie in
erster Linie ein Jude.
Wieso ist das noch immer so?
Weil der Holocaust für die deutsche Identität noch immer prägend ist.
Deswegen werden auch so viele Leute nervös, wenn sie einen „echten Juden”
vor sich haben. Manche heben mich dann förmlich in den Himmel, angetrieben
von einem übermäßigen Philosemitismus. Sie fragen mich etwa, ob ich das
Wort Jude als Schimpfwort empfände und ob man über Juden Witze machen
dürfe. Dazu gehört auch, dass viele Menschen aus Angst, etwas Falsches zu
sagen, übertrieben korrekt sein wollen.
Und, darf man über Juden Witze erzählen?
Klar, wenn man es auf lockere Weise macht. Einer meiner engsten deutschen
Freunde macht die übelsten Judenwitze. Bei ihm ist mir klar, dass wir uns
zusammen über diese absurden Klischees lustig machen. Aber ich erlebe auch,
dass Leute Judenwitze mit einer passiv-aggressiven Trotzhaltung verbinden.
Wie zum Beispiel ihre Bekannte Steffi. Sie schreiben, wie Sie mit ihr auf
dem Oktoberfest waren und sie einen üblen Witz über das Vergasen von Juden
gemacht hat. Trotzdem sagen sie, Steffi sei keine Antisemitin.
Steffi hasst nicht die Juden, sondern die Rolle, die Deutschlands
Vergangenheit im deutschen Selbstverständnis auch heute noch spielt. Mit
ihrem Witz verbindet sie deshalb ein ernstes politisches Anliegen: „Ich
hasse es, dass wir uns den Juden gegenüber immer noch schuldig fühlen
sollen. Davon will ich mich loseisen, und deswegen mache ich diesen Witz.“
Letztlich geht es ihr also darum, einen Schlussstrich unter die
Vergangenheit zu ziehen—und ihr Witz ist ihr vorgeblicher Beweis, diesen
Schlussstrich für sich schon vollzogen zu haben.
Sie sind nicht der Einzige, der zurzeit sein Jüdischsein thematisiert. Der
Komiker Oliver Polak hat daraus ein Bühnenprogramm gemacht, die Autorin
Mira Funk hat vor einigen Monaten in der Zeit einen Artikel über
Antisemitismus und Jüdischsein in Berlin geschrieben. Woher kommt die
Besessenheit mit dem Thema?
Weil es als Jude in Deutschland schwer ist, dem Thema zu entkommen — wie
ich ja selbst als Kind erlebt habe. Das sieht man insbesondere auch an den
prominentesten und erfolgreichsten deutschen Juden. Peter Zadek oder Marcel
Reich-Ranicki zum Beispiel haben sich am Ende ihres Lebens immer noch
gefragt: Bin ich ausgegrenzt worden, weil ich Jude bin — oder hatte ich
etwa nur deshalb so viel Erfolg?
Aber Zadek und Reich-Ranicki sind eine andere Generation: Als die beiden
als Regisseur beziehungsweise Literaturkritiker begannen, in den späten
50ern, war das Thema noch anders besetzt. Hat sich seitdem nichts getan?
Doch. Aber auch heute noch sieht man den bekanntesten deutschen Juden an,
wie unsicher sie sich ihrer Rolle in der Gesellschaft sind. Michel
Friedman, Henryk M. Broder, Maxim Biller – bei all ihren Verdiensten sieht
die deutsche Öffentlichkeit sie in erster Linie als „die Juden.” Und es ist
wohl kein Zufall, dass so viele jüdische Prominente in Deutschland in das
alte — halb philosemitische, halb antisemitische — Klischee des
provokanten, streitsüchtigen Juden passen. In den USA gibt es dagegen viele
jüdische Prominente, die ganz anders auftreten und wahrgenommen werden.
John Stewart oder Ben Stiller zum Beispiel sind eher der Schwiegersohntyp.
An wem liegt es, dass das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden so
angespannt ist?
An beiden Seiten — ohne dass daran unbedingt jemand die Schuld haben muss.
Ganz persönlich weiß ich zum Beispiel, dass die meisten Begegnungen mit
Nichtjuden ganz normal ablaufen. Aber manchmal wird es eben doch seltsam,
und im Voraus ist leider schwer zu wissen, wer plötzlich verkrampft, wenn
ich erwähne, dass ich Jude bin. Deshalb finde ich es oft einfacher zu
verschweigen, dass ich Jude bin — was seltsam anmuten kann. Ähnlich
kompliziert ist der verbale Umgang miteinander. In unserer Gesellschaft
sind antisemitische Aussagen tabu. Manche Antisemiten drücken ihren Hass
also mit Anspielungen aus. Viele Nichtjuden sind deshalb paranoid, aus
Versehen etwas zu sagen, das irgendwie antisemitisch klingen könnte. Aber
genauso sind viele Juden paranoid, ob eine ganz normal gemeinte Aussage
nicht vielleicht doch einen antisemitischen Subtext haben könnte. Letztlich
sind deshalb beide Seiten Opfer derselben gesellschaftlichen Verhältnisse.
In den USA ist das zum Glück anders. Seit ich dort lebe, hat das
Jüdischsein für mich an Bedeutung verloren.
Inwiefern?
In den USA sind die Leute es gewöhnt, dass ein Amerikaner aus Europa, Asien
oder Afrika stammen kann und christlich, jüdisch oder muslimisch sein mag.
Wenn ich erwähne, dass ich Jude bin, ist den Leuten das deshalb egal. Sie
definieren mich nicht als Juden — und da ich mich in Deutschland ja nur
deshalb so sehr als Jude identifiziere, weil andere mich als Jude
wahrnehmen, fühle ich mich selber dann auch viel weniger jüdisch. Von
dieser Einstellung können wir in Deutschland—und ganz Europa—viel lernen,
auch im Umgang mit Muslimen. Denn viele Menschen hier haben leider noch
immer eine stark monoethische, monokulturelle Vorstellung von Identität.
Sie müssen noch lernen, dass ein „echter Deutscher” christlich, jüdisch
oder muslimisch sein kann — und weiß, oder asiatisch oder schwarz aussehen
mag.
Der Zentralrat der Juden hat in letzter Zeit nicht gerade dazu beigetragen,
Empathie für muslimische Flüchtlinge zu schaffen. Dessen Vorsitzender,
Josef Schuster, warnte mehrfach vor Antisemitismus unter den Einwanderern
und sprach sich für Obergrenzen aus.
Seine Forderung nach Obergrenzen teile ich weder persönlich, noch finde ich
sie strategisch klug. Manchmal wäre es sicher am besten, wenn sich das
institutionelle Sprachrohr der Juden in Deutschland aus bestimmten Debatten
heraushalten würde. Gleichzeitig müssen wir die Dinge aber auch beim Namen
nennen. Wir sind moralisch verpflichtet, den Flüchtlingen zu helfen — aber
leider stimmt trotzdem, dass es unter ihnen ein beträchtliches Ausmaß an
Antisemitismus gibt.
Aber der Großteil der antisemitischen Straftaten geht immer noch von
deutschen Rechtsextremen aus, laut aktuellen Statistiken mehr als 90
Prozent.
Beides ist wahr. Studien zeigen, dass Muslime in Deutschland im
Durchschnitt antisemitischer eingestellt sind als zum Beispiel Christen.
Aber weil Menschen ohne Migrationshintergrund ja immer noch in der Mehrzahl
sind, gilt gleichzeitig, dass der „durchschnittliche Antisemit” in
Deutschland noch immer ein „Biodeutscher” ist.
Dennoch schreiben Sie, dass Sie optimistisch sind. Warum?
Juden waren einmal so etwas wie der Rorschachtest für die deutsche
Identität. So wie du es mit der Vergangenheit – und damit auch mit den
Juden – hältst, so hältst du es auch mit dem Nationalstolz. Das ist zum
Glück nicht mehr der Fall. Andere Fragen sind für die deutsche Identität
mittlerweile ebenso wichtig. Wie sollen wir es in Zeiten der Eurokrise mit
Europa halten? Wie sollen wir es in Zeiten der Flüchtlingskrise mit der
deutschen Identität halten? Das enthemmt die Beziehung zwischen Juden und
Nichtjuden.
Wie sollte die deutsche Identität Ihrer Meinung nach denn aussehen?
Ich hoffe auf ein Land, in dem ich eine doppelte Freiheit habe. Ich muss
erwähnen können, dass meine Vorfahren Juden waren, ohne deshalb immer nur
als Jude gesehen zu werden. Und gleichzeitig muss ich auch stark religiös
sein und eine Kippa tragen können und trotzdem als ganzer Deutscher gelten.
Dasselbe gilt für andere Gruppen selbstredend auch. Die Kinder und
Kindeskinder der Gastarbeiter zum Beispiel müssen endlich als volle
Deutsche gesehen werden — unabhängig davon, ob Religion für sie eine Rolle
spielt oder ob sie ein Kopftuch tragen.
5 Jan 2016
## AUTOREN
Anne Fromm
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