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# taz.de -- „Mein Kampf“ in neuer Ausgabe: Hitlers böses Buch kehrt zurück
> Historiker in Deutschland geben erstmals wieder Hitlers „Mein Kampf“
> heraus. Das Projekt ist umstritten, das Interesse groß.
Bild: Zwischen 1925 und 1945 wurden in Deutschland rund 12 Millionen Exemplare …
Berlin taz | Wer will so etwas lesen? „Es bedurfte auch hier erst der Faust
des Schicksals, um mir das Auge über diesen unerhörtesten Völkerbetrug zu
öffnen.“ Oder: „Wer nicht selbst in den Klammern dieser würgenden Natter
sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.“ …„Es liegen die Eier
des Kolumbus zu Hunderttausenden herum, nur die Kolumbusse sind eben
seltener zu finden.“
Die Stilblüten sind wörtliche Zitate aus einem Buch, dass in Deutschland 70
Jahre lang nicht neu erscheinen durfte. Die Rechte an Adolf Hitlers
zweibändiger Bekenntnisschrift „Mein Kampf“ gingen 1945/46 – ebenso wie
sein sonstiges Eigentum – an den Freistaat Bayern, weil der „Führer“ bis
zuletzt mit seinem Hauptwohnsitz in München gemeldet war. Die folgenden
sieben Jahrzehnte hat es das Finanzministerium in München verstanden, alle
Versuche einer Wiederveröffentlichung zu verhindern. Bis jetzt.
Am 1. Januar 2016 endet – über 70 Jahre nach den Tod des Autors – diese
Schutzfrist, die allen Schriftstellern und ihren Rechtsnachfolgern zusteht,
heißen sie nun Kurt Tucholsky, Joseph Roth oder Adolf Hitler.
Diese Frist spielt unter Verlegern ein große Rolle, denn von diesem
Zeitpunkt an besitzt jedermann die Möglichkeit, ohne Vertrag mit dem Autor
oder dessen Erben und ohne Beachtung anderer Verlegerrechte zu produzieren,
was die Druckwalzen hergeben. So wimmelt es seit einigen Jahren von
Neuveröffentlichungen der Werke von Tucholsky oder Roth. Nun auch von
Hitler?
## 1.950 Seiten und rund 3.500 Fußnoten
Am 8. Januar wird das renommierte Münchner Institut für Zeitgeschichte
(IfZ) die erste vollständige Fassung von „Mein Kampf“ der Öffentlichkeit
vorstellen – nach jahrzehntelangem Widerstand und mehr als dreijähriger
Arbeit.
In zwei Bänden, gut doppelt so dick als die Ursprungsfassung, auf 1.950
Seiten und versehen mit etwa 3.500 Fußnoten, wollen die Wissenschaftler um
den Projektleiter Christian Hartmann die Inhalte des Buchs knacken. „Wir
drehen den Zünder raus“, so hat Hartmann das Ziel der wissenschaftlichen
Edition gegenüber der Zeit umschrieben. Er gibt zu: „So ein irres Gebräu zu
widerlegen, das ist schwierig.“ Grundproblem sei es gewesen, dass Hitler
von einem ganz anderen Weltbild ausging. „Wir mussten im Grunde beweisen,
dass die Erde nicht flach ist.“
Als Quelle für die Person Hitler ist „Mein Kampf“ so gut wie untauglich.
Den autobiografischen Teil hat der Autor in weiten Teilen gefälscht:
Hitlers angebliche Armut nach dem Tod des Vaters? Seine Hinwendung zum
Antisemitismus als Postkartenmaler in Wien? Sein Mitgliedsschein Nummer
sieben bei der Deutschen Arbeiterpartei, dem Vorgänger der NSDAP? Alles
erfunden. Das Buch sei vielmehr „eine Quelle darüber, was Hitler gewollt
habe, wie man über ihn denkt“, sagt der Historiker Sven Felix Kellerhoff.
## Bemerkenswert offen
Grundzüge seiner Politik hat der spätere Diktator in seinem Frühwerk
bemerkenswert offen behandelt: Frankreich als „Erbfeind“, den es zu
bekämpfen gelte, die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten, seine Vorstellung
einer rassistischen „Volksgemeinschaft“ im Führerstaat – all dies legte
Hitler schon Mitte der 1920er Jahre dar.
Vor allem aber zeigt sein Pamphlet, geschrieben in der Landsberger
Festungshaft nach dem gescheiterten Putsch von 1923, seinen unbändigen Hass
auf die Juden. Denen dichtet er die Verantwortung am Bolschewismus, am
verlorenen Ersten Weltkrieg wie dem „Niedergang des deutschen Volkes“
gleichermaßen an, und er prophezeit das „Ende dieser Völkerparasiten“. Fa…
600 antisemitische Bezeichnungen hat Kellerhoff auf den 780 Seiten der
Urfassung des Buchs gezählt. Eine direkte Ankündigung des Holocaust findet
sich in „Mein Kampf“ freilich nicht.
„Mein Kampf“ gilt als wichtigste Quelle für die Ideologie des
Nationalsozialismus. Woraus sich dieses „Gebräu“ im Einzelnen
zusammensetzte, mit welchen Versatzstücken Hitler seine Thesen begründete
und auf welche rassistischen und antisemitischen Vorgänger sein Werk fußt,
all diese Fragen, so die hoch gesteckten Erwartungen, soll die kritische
Edition aus München beantworten.
## Propaganda Stück für Stück widerlegen
Zugleich können wir auf eine Darlegung hoffen, die die sachlichen Fehler,
Verdrehungen und blanken Lügen en détail entlarvt. „Aus unserer Sicht ist
es die wirkungsvollste Art, Hitlers Propaganda dadurch unschädlich zu
machen, dass man sie Stück für Stück widerlegt“, sagt dazu
Institutssprecherin Simone Paulmichl.
Es geht also um ein wichtiges Kapitel für die Wissenschaft – aber worauf
gründet sich der Hype um dieses Buch und seine Veröffentlichung? Es ist ja
nicht so, als warteten nur ein paar hundert Historiker gespannt darauf.
Halb Deutschland scheint ein neues, wenn auch sehr altes Thema wieder
entdeckt zu haben: Da setzt sich der Deutsche Lehrerverband dafür ein, die
kritische Edition bundesweit im Unterricht zu verwenden. Bei Amazon steht
die noch gar nicht erschienene Ausgabe schon auf Platz zwei aller Werke zum
Thema Hitler. Thalia versichert, das Buch nur „auf expliziten Kundenwunsch“
bestellen zu wollen.
„Mein Kampf“ ist offenbar ein Faszinosum geworden, gerade deswegen, weil es
von diesem einstigen Bestseller so lange keine Veröffentlichung gegeben
hat. Dabei kann von einem generellen Verbot des Buchs keine Rede sein. In
Antiquariaten war das Werk schon immer legal erhältlich, und wer will, kann
es jederzeit und kostenlos im Internet herunterladen. Nach geistigem
Rüstzeug dürstende Neonazis mussten niemals verzweifelt auf das Werk ihres
Idols warten. Nur der Neudruck blieb untersagt.
## Kein Wunder
Über Jahrzehnte ist vor diesem „bösen Buch“ gewarnt worden, wurde eine
Veröffentlichung immer wieder wegen seiner vermeintlichen Gefährlichkeit
unmöglich gemacht. Wenn aber Hitler der böse Mann in der deutschen
Geschichte gewesen ist, so nimmt es kein Wunder, dass viele Deutsche seine
abgrundtief böse Schrift lesen möchten.
Das dürften keineswegs nur die sogenannten Ewiggestrigen sein. Man kann das
Interesse an „Mein Kampf“ auch als Zeichen dafür deuten, wie stark das
Erkenntnisinteresse der Nachkommen der Täter dafür ist, was einst eine
ideologische Grundlage für den Weg in die Katastrophe des europäischen
Kontinents darstellte. Dass die kritische Edition von „Mein Kampf“
Rassismus und Antisemitismus bei den Lesern erst erwecken könnten, halten
Experten für abwegig. In diese Richtung will auch Christian Hartmann sein
Projekt verstanden wissen: „Wir sind eine Art Kampfmittelräumdienst, der
Relikte aus der Nazi-Zeit unschädlich macht“, sagte er.
Denn dass „Mein Kampf“ in der NS-Zeit wirkungsmächtig war, steht außer
Zweifel. Mehr als zwölf Millionen Exemplare gingen über den Ladentisch. Es
ist eine Mär aus den Nachkriegsjahren, dass kaum einer das Buch auch
gelesen habe – dies war Teil einer Strategie, in der sich die einstigen
Volksgenossen ihrer eigenen Unschuld versicherten. Tatsächlich, das hat
Kellerhoff in seinem Buch „Mein Kampf. Die Karriere eines deutschen Buchs“
nachgewiesen, hat ein erheblicher Teil der Käufer das in der Regel teuer
erstandene Werk auch konsumiert.
## Gegen Rassismus, für Freiheit der Wissenschaften
Der Streit um das schwer lesbare Gebrabbel eines Massenmörders hat seit
Jahrzehnten scharfe Kontroversen hervorgebracht. Immer wieder drängten
ernsthafte Wissenschaftler, aber auch windige Verleger auf einen Neudruck.
Doch die Beamten des bayerischen Finanzministeriums stoppten alle Versuche.
Zuletzt zog sich der Freistaat Bayern aus der Förderung der ursprünglich
von ihm selbst initiierten kritischen Edition zurück: „Ich kann nicht einen
NPD-Verbotsantrag stellen und anschließend geben wir sogar noch unser
Staatswappen her für die Verbreitung von ‚Mein Kampf‘“, erklärte
Ministerpräsident Horst Seehofer die Kehrtwendung. Die Freiheit der
Wissenschaften werde man aber achten und daher nichts gegen die
Veröffentlichung der kritischen Edition unternehmen, hieß es anschließend.
Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde München
und Oberbayern, wandte sich wiederholt gegen die Edition: „Die
menschenverachtende und demokratiefeindliche, radikale Rhetorik kann immer
noch eine verheerende Wirkungskraft entfalten“, befürchtet sie und spricht
dabei für viele Holocaust-Überlebende, denen es unfassbar erscheint, dass
es dieses Buch in Deutschland wieder geben soll.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, lehnt
eine Verbreitung des Originals ab, hat aber keine Einwände gegen die
kommentierte Ausgabe. Schließlich wäre dies eine Chance, „die rassistischen
und antisemitischen Behauptungen des Machwerks zu entkräften“. Die
allermeisten auf den Nationalsozialismus spezialisierten Historiker
unterstützten die Edition des Instituts für Zeitgeschichte.
## Möglicherweise auch andere Ausgaben
Noch ist nicht sicher, ob die kommentierte Ausgabe die einzige
Wiederveröffentlichung bleibt. Mag sein, dass ein rechtslastiger Verleger
jetzt die Chance gekommen sieht, „Mein Kampf“, versehen mit einem lauen
Vorwort, auf den Markt zu werfen. Allerdings haben die Justizminister der
Länder deutlich gemacht, dass dies den Straftatbestand der Volksverhetzung
erfüllt, mithin verboten bleibt. Ob diese Sichtweise im Zweifelsfall von
der Justiz auch geteilt wird, bleibt abzuwarten.
So hat die Münchner Edition auch die Funktion, rechtsradikalen Verlagen das
Wasser abzugraben. Allerdings werden sich die meisten potenziellen Leser
noch über den 8. Januar hinaus mit der Lektüre gedulden müssen. Die erste
Auflage beträgt 4.000 Exemplare – viel für ein wissenschaftliches Werk,
viel zu wenig angesichts des allgemeinen Interesses. „Aufgrund der
limitierten Auflage ist der Titel derzeit nicht verfügbar“, heißt es beim
Buchversender Amazon für Interessenten, die das Werk vorbestellen möchten.
29 Dec 2015
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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