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# taz.de -- Neuauflage von Hitlers „Mein Kampf“: Anmerkung über Anmerkung
> Adolf Hitlers „Mein Kampf“ ist nach 70 Jahren in einer kritischen Edition
> erschienen. Ist die Dekonstruktion des Aufrufs zu Rassenhass gelungen?
Bild: Oft genug ist „Mein Kampf“ von Kritikern als unlesbar bezeichnet word…
Man muss mit seinem Urteil vorsichtig bleiben, sehr vorsichtig sogar. Ist
dieses Buch mitsamt seinem Autor nicht schon einmal von der Kritik
zerrissen worden? Bald 90 Jahre ist das her. Hat man nicht schon damals
versucht, das Werk ins Lächerliche zu ziehen, sich über Stilblüten
hermachend, und dem Autor jegliche Wirkungsmacht abgesprochen? Es ist
bekanntlich anders gekommen. „Mein Kampf“ von Adolf Hitler war eine der
Grundlagen für die europäische Katastrophe. Das Buch erlebte eine Auflage
von mehr als 12 Millionen Exemplaren.
Zur ersten Wiederauflage dieses Buchs mangelte es nicht an warnenden
Stimmen. Ronald S. Lauder vom Jüdischen Weltkongress empfahl, das Werk „im
Giftschrank der Geschichte“ einzuschließen. Vielen überlebenden Juden ist
die Vorstellung, „Mein Kampf“ im Schaufenster einer deutschen Buchhandlung
zu finden, ein entsetzlicher Gedanke. Der Literaturwissenschaftler Jeremy
Adler hat erklärt, dass sich ein solches Machwerk durch eine Edition
grundsätzlich nicht erschließen lasse, ja, dass es der Tradition
entspreche, nur solche Texte zu edieren, die auch einen ethischen Wert
besitzen. Dazu zählt „Mein Kampf“ gewiss nicht.
Allerdings haben es die Kritiker unterlassen, einen Weg zu empfehlen, wie
mit diesem Buch denn ihrer Auffassung nach umzugehen sei. Die Entscheidung,
etwas nicht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist ein Akt der
Zensur, die einer schlagenden Begründung bedarf. Den „Giftschrank“ hat
„Mein Kampf“ dank des Internets ohnehin längst verlassen. Ist es also
ethisch nicht geradezu geboten, dieses Buch, versehen mit erklärenden
Anmerkungen, endlich wieder zu publizieren?
70 Jahre Veröffentlichungsverbot haben aus „Mein Kampf“ einen Mythos werden
lassen, ein Faszinosum, auf dessen Lektüre mit Geilheit gewartet wird. Der
Giftschrank wird geöffnet und wir alle dürfen von diesem gefährlichen Kraut
konsumieren, das einen Kontinent mit ins Verderben gestürzt hat. Wirkt das
Gift noch? Werden wir davon in gefährliche Rauschzustände versetzt? Oder
dürfen wir es unseren Schulkindern in homöopathischen Dosen verabreichen,
auf dass es deren Immunsystem stärkt? Womit wir beim Werk selbst angekommen
sind.
## Keine Reiselektüre
„Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition“ lautet sein Titel, in dem der
Urtext der „Hitler-Bibel“ auf jeder Doppelseite derartig links, unten und
rechts von Anmerkungen eingekesselt und so ergänzt ist, dass die beiden
Bände zusammen auf sechs Kilogramm Gewicht kommen und keinesfalls als
Reiselektüre empfohlen werden können. Das Ziel der Herausgeber war die
Dekonstruktion von Hitlers autobiografischer „Abrechnung“ mithilfe dieser
Erklärungen.
Der Historiker Christian Hartmann hat seine Aufgabe bisweilen mit einem
Kampfmittelräumdienst verglichen, einer Einheit also, die die Bomben im
Krieg entschärft. Soweit dieser Anspruch überhaupt einlösbar ist, ist dies
den Herausgebern gelungen. Der Verdacht, sie könnten über das Ziel
hinausgeschossen sein und etwa versucht gewesen sein, mit Polemiken gegen
„Mein Kampf“ ins Feld ziehen, entpuppt sich als gegenstandslos. Diese
besondere Art von Fußnoten sind knochentrocken.
Ein kluges Vorwort leitet den ersten Band ein, der die Hintergründe zum
Entstehen von „Mein Kampf“ erklärt, den Aufbau dieses Buchs, seine Sprache
und Funktion bespricht. Die Anmerkungen selbst gehen über alles hinaus, was
in der historischen Wissenschaft üblich ist.
## Geistiger Diebstahl
Zunächst legen sie die trüben Quellen von Hitlers angelesenen Weisheiten
offen. Es ist ein Verdienst der Ausgabe, dass damit deutlich wird, dass der
„Führer“ zu kaum einem eigenen originellen Gedanken fähig war – egal ob
Antisemitismus und Rassenhass, sein völkisches Denken und die Vorstellung
der Eroberung von „Lebensraum“ im Osten, seine Ablehnung von Demokratie und
Parteien, wirklich alles in seinem Gedankengebäude ist geklaut. Dass dieser
geistige Diebstahl dem Erfolg dieses Mannes nicht schadete, steht auf einem
anderen Blatt.
Die Anmerkungen entlarven die Schummeleien, Halbwahrheiten und Lügen, etwa
dann, wenn Hitler auf seine eigene Biografie eingeht und sich dabei zum
verkannten Genie stilisiert. „Die beiden Lieblingsfächer, in denen ich in
der Klasse vorschoß“, so behauptet der Autor, seien Geografie und
Geschichte gewesen. In Wahrheit erhielt Hitler in beiden Fächern nur ein
„genügend“.
„Dreitausendsechshundert feindliche Augen“ – bei 2.000 Teilnehmern – h�…
ihn bei Massenkundgebungen in der Frühzeit der NSDAP getroffen, denen er
„die Wahrheit eingepflanzt“ habe, schreibt Hitler. Die Realität ist banal:
Niemals sind in dieser Zeit überhaupt so viele Hitler-Gegner in seine
Versammlungen gekommen, weil kaum jemand den Agitator ernst nahm.
## Einordnung in den historischen Kontext
Darüber hinaus wird dem Leser eine Einordnung in den historischen Kontext
geboten. Das reicht von der deutschen Kolonialpolitik in den 1880er Jahren
bis zur Popularität von Boxkämpfen in der Weimarer Republik. Manch ein
Experte mag sich daran stören, für den gemeinen Leser sind diese
Anmerkungen überaus praktisch.
Das Grundproblem einer kritischen Edition haben die Herausgeber
selbstverständlich nicht lösen können. Der geneigte Leser kann Hitlers Text
mitsamt den Anmerkungen lesen, oder er entscheidet sich dafür, nur den Text
zu konsumieren. Die Anmerkungen allein – das geht natürlich nicht. Wer nun
welche Textteile lesen wird, entzieht sich auch weiterhin der Wissenschaft.
Vielleicht beruhigt sich nach der Auslieferung der ersten 15.000 Exemplare
die Aufregung über das Buch ein wenig. Dann könnten auch all die
Kultusminister und Lehrer zu der Einsicht kommen, dass die Integration der
kritischen Edition in den Schulunterricht ganz so dringlich nicht ist. Denn
schon seit Jahrzehnten liegen – etwa von Walther Hofer – Zusammenstellungen
von Dokumenten aus dem Nationalsozialismus vor, in denen auch „Mein Kampf“
zitiert wird und die erfolgreich in den Unterricht integriert worden sind.
Es sei an dieser Stelle vorsichtig daran erinnert, dass mit der Edition von
„Mein Kampf“ die NS-Geschichte keinesfalls neu geschrieben werden muss.
Oft genug ist „Mein Kampf“ von Kritikern als unlesbar bezeichnet worden.
Das mag auch als eine Selbstentlastung derjenigen gedient haben, die nach
dem Krieg behaupteten, von Judenhass und Massenmord gar nichts mitbekommen,
geschweige denn „Mein Kampf“ gelesen zu haben. Doch angesichts des
verquasten Stils Hitlers, der von endlosen Redundanzen, gequälten
Formulierungen und langatmiger Geschwätzigkeit geprägt ist, ist da schon
etwas dran.
## Zwei Tage, 1.966 Seiten
Der Autor dieses Textes bekennt, dass er sich zwei Tage lang nahezu
ununterbrochen mit den 1.966 Seiten der kritischen Edition beschäftigt hat.
Nach Lektüre mehrerer Tausend Anmerkungen und weiten Teilen von Hitlers
Text kommt er zu dem Schluss, dass „Mein Kampf“, dieser Aufruf zu
Rassenhass und Mord, jetzt noch unlesbarer geworden ist als vorher.
Es erscheint mehr als abwegig, dass „Mein Kampf“ heute noch eine
volksverhetzende Wirkung zu verbreiten vermag, zumal in dieser Ausgabe. Ob
es den Herausgebern gelungen ist, dem Buch das letzte Quantum Gift zu
entziehen? Das zu beurteilen, würde hellseherische Fähigkeiten
voraussetzen. Gelungen ist in jedem Fall, einen der zentralen Quellentexte
des Nationalsozialismus für eine breite Öffentlichkeit zu erschließen.
Wahrscheinlich aber werden viele Käufer diese Neuerscheinung niemals zu
Ende lesen. Denn der Mythos entpuppt sich als abgestandenes und
ungenießbares Gebräu.
11 Jan 2016
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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