# taz.de -- 70 Jahre Pippi Langstumpf: Supermans schwedische Schwester | |
> Im November 1945 erschien „Das Buch über Pippi Langstrumpf“. Sie war die | |
> Grundgute, die man sich im Kampf gegen Hitler gewünscht hätte. | |
Bild: Die Ur-Pippi: Zeichnung aus der 1945 erschienenen schwedischen Erstausgab… | |
BERLIN taz | Wie Pippi entstand, ist schon oft beschrieben worden. Es war | |
ungefähr so: Die junge Mutter Astrid Lindgren, eine kluge, fantasiebegabte | |
und belesene Stockholmer Sekretärin, erzählte ihren Kindern gern | |
selbsterdachte Geschichten. Worüber sie denn heute etwas hören wolle, | |
fragte sie einmal ihre siebenjährige Tochter Karin, als die krank im Bett | |
lag. „Erzähl mir von Pippi Langstrumpf!“, bat die Kleine – und erfand da… | |
spontan den Namen der bekanntesten Buchfigur der Welt. | |
Man schrieb das Jahr 1941. Draußen in der Welt herrschte der Zweite | |
Weltkrieg, von dem in Nordeuropa einzig das neutrale Schweden verschont | |
blieb. Von dort aus verfolgte Astrid Lindgren die politischen Geschehnisse | |
intensiv und mit großer Anteilnahme. In ihrem Tagebuch hielt sie eine | |
ausführliche Chronik des Krieges fest, die deutlich macht, wie sehr Gefühle | |
von Ohnmacht, Wut und Trauer angesichts der Lage der Welt ihr Leben | |
mitbestimmten. | |
Dagegen hilft manchmal nur die Fantasie. Eine Person, die stärker ist als | |
alle anderen, ein Mensch, der grundgut ist und dabei gänzlich unbesiegbar | |
und der alle Doofen, Gewalttätigen und Engstirnigen ein für alle Mal in | |
ihre Schranken weist. So eine Person hätte man gebraucht gegen Hitler und | |
die anderen Übel der Welt. So einen wie Superman! | |
Den gab es damals schon. In den frühen Vierzigern schwappte die Supermania | |
von den USA aus über viele Länder der Welt. Auch in Schweden wurde Superman | |
als „Der Titan von Krypton“ begeistert rezipiert. Dass Astrid Lindgren mehr | |
als nur zu seinen Bewunderinnen zählte, ja, dass der Comic-Titan als | |
wahrscheinlich wichtigste Inspirationsquelle für ihre Pippi diente, belegt | |
eine von der Autorin eigenhändig angefertigte Superman-Zeichnung in jenem | |
Stenogrammblock, auf den sie 1944 die „Ur-Pippi“ niederschrieb. | |
## Stark und unabhängig | |
Zum Beleg der starken inhaltlichen Verbindung zitiert der Lindgren-Biograf | |
Jens Andersen außerdem ein Interview, das Lindgren 1967 dem Svenska | |
Dagbladet gab: „Pippi ist ein Einfall, keine von Anfang an durchdachte | |
Figur. Freilich war sie von Anfang an bereits ein kleiner Superman – stark, | |
reich und unabhängig.“ | |
Es sollte allerdings vom ersten Einfall an einige Jahre dauern, bis Astrid | |
Lindgren sich hinsetzte und ihre Pippi-Geschichten aufschrieb. Wer weiß, | |
wann es überhaupt dazu gekommen wäre, wenn sie nicht im Frühjahr 1944 zwei | |
Wochen lang mit verstauchtem Knöchel die Wohnung hätte hüten müssen. Das | |
fertige Manuskript bot sie Bonnier an, dem größten schwedischen Verlag. Im | |
Begleitschreiben bezeichnet Lindgren ihre Heldin als “Übermensch [im | |
Original deutsch] in Kindergestalt“. | |
Und sie zitiert Bertrand Russell, der geschrieben habe, „der wichtigste | |
instinktive Zug in der Kindheit sei der Wunsch, erwachsen zu werden, oder | |
genauer gesagt, der Wille zur Macht“. Sie wisse ja nun nicht, ob Russell | |
recht habe, erklärt sie weiter, „aber ich bin geneigt, es zu glauben, der | |
geradezu krankhaften Beliebtheit nach zu urteilen, die Pippi Langstrumpf | |
jetzt seit einigen Jahren bei meinen eigenen Kindern und deren | |
gleichaltrigen Freunden genießt.“ | |
## Vorbild für niemanden | |
Abschließend gibt die Autorin ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die Empfänger | |
des Manuskripts sich nicht veranlasst fühlten, nach Lektüre das Jugendamt | |
zu verständigen, und fügt sicherheitshalber hinzu, ihre Kinder hätten | |
offenbar keinen Schaden erlitten und sich in der Lage gezeigt zu begreifen, | |
„dass Pippi ein Unikum ist, das normalen Kindern keinesfalls als Vorbild | |
dienen kann.“ | |
Dieser Brief an Bonnier sowie das Antwortschreiben des Verlags sind als | |
Faksimile in der deutschen Ausgabe von Lindgrens Kriegstagebüchern | |
abgedruckt. Beides zusammen dokumentiert den größten Verlegerirrtum der | |
Literaturgeschichte. Denn die Antwort von Bonnier lautete, zusammengefasst, | |
„Danke, aber nein“. Stattdessen rettete Pippi den kleinen Verlag Rabén & | |
Sjögren, der damals gerade kurz vor der Insolvenz stand. Und so passte es | |
ja eigentlich auch besser. | |
Wir alle, jedenfalls die Nachkriegsgeborenen unter uns, haben Pippi, die | |
selbstbewusst wie keine andere literarische Figur den Austritt des Kindes | |
aus seiner nicht selbst verschuldeten Ohnmacht behauptet, viel zu verdanken | |
– auch wenn die Rezeption in Deutschland und anderen Ländern viel später | |
einsetzte als im unzerstört und unbesetzt gebliebenen Schweden. | |
Möglicherweise konnte eine wie Pippi nur damals und dort entstehen – in der | |
friedlichen Atmosphäre eines freien Landes, in dem man noch die Möglichkeit | |
und Muße hatte, frühere reformpädagogische Ansätze weiterzudenken und zu | |
leben. | |
## Süßigkeiten für alle | |
Pippi selbst mag ja keine wirklich große Denkerin sein, doch was ihre Taten | |
betrifft, ist sie wahrscheinlich eine der wichtigsten Vertreterinnen des | |
europäischen Aufklärungsgedankens. Schon den Kleinsten erklärt sie | |
überzeugend, was die Freiheit des Individuums bedeutet. Nämlich nicht, dass | |
man andere verprügeln darf, nur weil man zufällig stärker ist. | |
Aber es spricht überhaupt gar nichts dagegen, mit den Füßen auf dem | |
Kopfkissen zu schlafen. Und wenn man eine Kiste voller Goldstücke hat, ist | |
es selbstverständlich, Süßigkeiten für alle zu kaufen. | |
25 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## TAGS | |
Pippi Langstrumpf | |
Adolf Hitler | |
Superman | |
Astrid Lindgren | |
Astrid Lindgren | |
Reformpädagogik | |
Adolf Hitler | |
Pippi Langstrumpf | |
Tagebücher | |
Kinderbuch | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Hamburg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Astrid Lindgrens Tochter über ihre Mutter: „Sie war nicht nur Pazifistin“ | |
Karin Nyman ist froh, dass Astrid Lindgren den Rechtsruck in Europa nicht | |
mehr mitbekam. Ein Gespräch über Politik, Pazifismus und Pippi in China. | |
Reformpädagogik in Neumünster: Die klassenlose Schule | |
20 Prozent Arbeitslosigkeit, sozialer Brennpunkt? Trotzdem! Eine | |
Gemeinschaftsschule in Neumünster zeigt, wie Inklusion gelingt. | |
„Mein Kampf“ in neuer Ausgabe: Hitlers böses Buch kehrt zurück | |
Historiker in Deutschland geben erstmals wieder Hitlers „Mein Kampf“ | |
heraus. Das Projekt ist umstritten, das Interesse groß. | |
70 Jahre Pippi Langstrumpf: Ist sie das wirklich? | |
Anfang der 70er zog Pippi Langstrumpf einen Zug aus dem Watt. Augenzeugen | |
fragten sich, wie das eine Figur tun konnte, die gar nicht echt war. | |
Was fehlt ...: ... das N-Wort | |
Kriegstagebuch von Astrid Lindgren: „Niemand wollte es glauben“ | |
Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen. Am selben Tag begann die | |
Sekretärin Astrid Lindgren in Stockholm ein Tagebuch. | |
Nachruf auf Max Kruse: Urmel lebt weiter! | |
Max Kruse ist der Vater der Geschichte vom Urmel aus dem Eis. Mit 93 Jahren | |
ist er im bayerischen Penzberg verstorben. Uns bleibt die Mupfel. | |
Bachmann-Preis 2015, 3. Tag: Pippi wird erwachsen | |
Michael Jackson, Märchen, Affen: alles dabei. Auch am letzten Tag vor der | |
Preisverleihung gibt es Absurdes zu lesen – und zwei neue Favoritinnen. | |
Nordische Literaturtage: Jenseits von Bullerbü | |
Die Deutschen sind Europas hartnäckigste Skandinavien-Fans – und sie | |
pflegen die meisten Klischees. Dabei sind die Autoren, die zu den | |
Literaturtagen nach Hamburg kommen, kantig und postmodern. |