# taz.de -- Kriegstagebuch von Astrid Lindgren: „Niemand wollte es glauben“ | |
> Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen. Am selben Tag begann die | |
> Sekretärin Astrid Lindgren in Stockholm ein Tagebuch. | |
Bild: Astrid Lindgren im März 1988. | |
Für Astrid Lindgrens Tochter Karin, 1934 geboren, war das in ihrer Kindheit | |
alles normal, wie sie im Nachwort zu den Kriegstagebüchern ihrer Mutter | |
schreibt. Die schwedischen Kinder ihrer Generation seien daran gewöhnt | |
gewesen, dass ringsumher überall Krieg herrschte, und ebenso daran, dass | |
ausgerechnet Schweden davon verschont blieb. „Es war auch nichts | |
Besonderes, dass meine Mutter Zeitungsartikel ausschnitt und in Tagebücher | |
klebte, ich dachte, das täten Eltern nun mal.“ | |
In Wirklichkeit dürfte Karins Mutter darin ziemlich außergewöhnlich gewesen | |
sein. Als der Krieg begann, war Astrid Lindgren eine 32-jährige Sekretärin, | |
verheiratete Mutter zweier Kinder und gewissenhafte Hausfrau. Mit dem | |
Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 begann sie ein | |
Tagebuch, das sie bis zum Ende des Jahres 1945 führte. | |
Sie dokumentierte und kommentierte die Entwicklungen in Europa, klebte | |
Zeitungsausschnitte ein und ergänzte die Dokumentation mit Anmerkungen zum | |
eigenen Alltagsleben. Damals war die später Weltberühmte noch weit davon | |
entfernt, Schriftstellerin zu sein. Allerdings hatte sie an einem frühen | |
Punkt ihres Lebens eine beginnende journalistische Laufbahn abbrechen | |
müssen, als sie als 18-jährige Volontärin schwanger vom Chefredakteur der | |
Vimmerbyer Lokalzeitung wurde. | |
Sie entschied sich damals, nicht zu heiraten, zog nach Stockholm, bekam das | |
Kind allein und wurde Sekretärin. So bricht sich in Lindgrens | |
Kriegstagebüchern vermutlich schlicht ein journalistischer oder auch | |
schriftstellerischer Instinkt Bahn – das Bedürfnis, sich einem aufwühlenden | |
Geschehen schreibend zu nähern, um es begreifen zu können. | |
## Sorgfältige Dokumentation | |
„Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben“, beginnt der | |
erste Eintrag. „Über allem und allen liegt eine furchtbare Beklemmung.“ Und | |
Astrid Lindgren ging das erste der zahlreichen ledergebundenen Notizbücher | |
kaufen, die in den folgenden Jahren zu einem kleinen Stapel wuchsen. | |
Auch in Schweden erschienen die Aufzeichnungen erst im Frühjahr dieses | |
Jahres als Buch – und wurden sogleich Gegenstand einer kleinen öffentlichen | |
Kontroverse zwischen den Autoren Kerstin Ekman und Jan Guillou darüber, was | |
man in Schweden über den Holocaust habe wissen oder nicht wissen können. | |
Das Vorwort, das Ekman für die schwedische Ausgabe schrieb und in dem sie | |
Guillou direkt angreift, wurde für die deutsche Ausgabe nicht übernommen. | |
Ansonsten folgt die Edition dem Original in der auch visuell sehr | |
sorgfältigen dokumentarischen Aufbereitung von Lindgrens Aufzeichnungen. | |
Zahlreiche Fotos ergänzen den Text, und viele Faksimile-Abbildungen der | |
originalen Tagebuchseiten sind mit aufgenommen worden, komplett mit | |
handschriftlichen Einträgen, eingeklebten Zeitungsausschnitten sowie einer | |
vollständigen Übersetzung. Das ist sehr gut gemacht und vermittelt ein | |
lebendiges Bild dessen, wie aufmerksame Beobachter damals von Schweden aus | |
das Kriegsgeschehen wahrnehmen konnten. | |
## Sorge um die Kinder | |
Ihre eigene Befindlichkeit ist nur ein Nebenthema in Astrid Lindgrens | |
Kriegstagebuch und betrifft vor allem ihre häufig geäußerte Verzweiflung | |
über den Zustand der Welt. Private Sorgen kommen zwar vor, doch scheinen | |
sie nur aufgenommen zu werden, wenn sie zu groß werden. Eine außereheliche | |
Eskapade ihres Mannes stürzt die Autorin in tiefe Verzweiflung, die sie | |
auch schriftlich äußert, aber bemerkenswert kurz – und andeutungsweise – | |
abhandelt. | |
Weit mehr Raum nimmt die Sorge um die Kinder ein, deren Erfolge und | |
Misserfolge in der Schule ebenso thematisiert werden wie | |
besorgniserregendere Vorkommnisse. Die kleine Karin etwa entwickelt | |
irgendwann eine Angststörung, die sich in übergroßer Sorge um die Mutter | |
äußert. Der große Sohn Lars (den Astrid einst unehelich zur Welt gebracht | |
hatte) wird im Laufe der Kriegsjahre allmählich erwachsen, und seine Mutter | |
verzeichnet wiederholt schmerzliche Anzeichen wachsender Entfremdung. | |
## Wissen um den Holocaust | |
Das Schicksal der verfolgten Juden Europas geht der Tagebuchautorin sehr | |
nahe; sie nimmt häufig auf Repressalien gegen Juden Bezug, die sie den | |
Zeitungen entnimmt. 1941 dokumentiert Lindgren mit eingeklebten | |
Zeitungsausschnitten die Errichtung jüdischer Ghettos in Polen und den | |
Zwang zum Tragen des Sterns. Und spätestens zum Ende des Jahres 1943 konnte | |
allen Einwohnern Schwedens, die es wissen wollten, klar sein, dass die | |
Deutschen es auf die endgültige Auslöschung der europäischen Juden | |
abgesehen hatten. | |
Das belegt ein eingeklebter Artikel aus Dagens Nyheter vom 28. 12. 1943, | |
dessen Verfasser deutlich macht, dass das Ziel der deutschen | |
Judenverfolgung in deren „physischer Ausrottung“ liege, und sich dazu auf | |
zwei Bücher beruft, die zu dem Zeitpunkt schon erschienen sind und in denen | |
von mehreren Millionen bereits Getöteter die Rede ist. | |
Astrid Lindgrens besondere Anteilnahme gilt den Geschehnissen in den | |
besetzten Nachbarländern Norwegen und Dänemark, und der längste eingeklebte | |
Zeitungsausschnitt des ganzen Tagebuchs dokumentiert nach Kriegsende den | |
Prozess gegen den norwegischen Nazi-Statthalter Quisling. Was die | |
politische Haltung der Autorin betrifft, schlägt sich eine gewisse | |
Schizophrenie, die den Umgang des neutralen Schwedens im Umgang mit den | |
Kriegsgegnern Nazideutschland und Sowjetunion auszeichnete, auch in | |
Lindgrens Tagebuch nieder. | |
In Schweden wurde ein traditionell kräftiger, aus geopolitischen | |
Befürchtungen erwachsender Antisowjetismus gepflegt. Durch den | |
sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/49 (in dem Finnland Karelien verlor) | |
wuchs in Schweden das Gefühl der Bedrohung durch potenzielle sowjetische | |
Expansionsbestrebungen noch mehr. So ist es zu erklären, dass auch Astrid | |
Lindgren, wie vermutlich die meisten Schweden, lange Zeit die Deutschen für | |
das kleinere Übel hält. | |
## Keine anständigen Russen | |
Noch 1943 notiert sie: „Was mir nicht gefällt, ist die Tendenz der | |
Anglophilen, die Russen zu kleinen Friesenstauben zu stilisieren.“ Und | |
sucht fast verzweifelt nach Resten von Menschlichkeit in Deutschland: „Die | |
Gestapo sollte ausgerottet werden [. . .], aber es gibt bestimmt auch viele | |
anständige Deutsche, das kann gar nicht anders sein.“ Ähnliche Bemerkungen | |
finden sich häufig; der Gedanke, dass es auch anständige Russen geben | |
könne, taucht dagegen gar nicht auf. | |
Astrid Lindgren konnte ganz gut Deutsch und war auch deswegen während des | |
Krieges von der eigens eingerichteten Behörde für Briefzensur eingestellt | |
worden, wo es ihre Aufgabe war, private deutsch- und schwedischsprachige | |
Briefe nach wichtigen Informationen zu scannen. Allen | |
Sicherheitsbestimmungen zum Trotz nimmt sie von ihrem „Schmuddeljob“, wie | |
sie ihn nennt, immer wieder Briefe, die sie stark bewegen, mit nach Hause, | |
um Übersetzungen davon in ihr Tagebuch zu kleben. | |
Interessanterweise fällt das Kriegsende mehr oder weniger zusammen mit der | |
Phase, in der die Tagebuchautorin erste Erfolge als Schriftstellerin | |
erlebt. Unter anderem erscheint 1945 das erste Pippi-Langstrumpf-Buch, was | |
Pippi zu einem echten Kind des Friedens macht. Ihre Erfinderin notiert | |
dazu: „Meine ‚literarische‘ Laufbahn ist in diesem Jahr in Schwung | |
gekommen, in Zukunft geht’s sicher wieder abwärts.“ | |
20 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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