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# taz.de -- Reformpädagogik in Neumünster: Die klassenlose Schule
> 20 Prozent Arbeitslosigkeit, sozialer Brennpunkt? Trotzdem! Eine
> Gemeinschaftsschule in Neumünster zeigt, wie Inklusion gelingt.
Bild: Die Schüler lernen selbstorganisiert ohne Klassen oder Jahrgangsstufen.
Neumünster taz | Die Laptops sind aufgeklappt, die Smartphones liegen auf
dem Tisch. Max und Miles interessieren sich nicht dafür, was die Lehrerin
macht, die 17-jährigen Jungs sind mit einem eigenen Projekt beschäftigt. In
Miles’ Ohr stecken weiße Kopfhörer, auf seinem Bildschirm sammelt er Fakten
über Medien – Lernen funktioniert hier nicht mit Frontalunterricht, sondern
selbstständig.
Und die Freiherr-vom-Stein-Schule ist auch keine Privatschule Blankeneses,
sondern steht im Vicelin-Viertel in Neumünster in Schleswig-Holstein. 20
Prozent der BewohnerInnen sind hier ohne Arbeit, jedeR fünfte hat eine
Migrationshintergeschichte, graue Nachkriegsbauten bestimmen das Stadtbild.
Von hier kommen auch die Schüler, und trotzdem läuft einiges rund, was in
anderen Teilen der Republik Wunschvorstellung bleibt. Ein Grund dafür ist
Maike Schubert, die Direktorin.
Während das nördlichste Bundesland nach Lösungen für Bildungsprobleme
sucht, hat die blonde 51-Jährige etwas Besonderes geschafft: Innerhalb von
acht Jahren wurde aus einer normalen Realschule mit knapp 600 SchülerInnen
eine mehrfach ausgezeichnete Gemeinschaftsschule. Kinder werden ganztags
betreut, 70 Prozent der SchülerInnen schaffen am Ende die Zulassung für
weiterführende Schulen. Nun nominierten Experten die Schule für den
deutschen Schulpreis 2016.
An diesem Morgen pendelt Maike Schubert immer wieder zwischen Klassenzimmer
und Direktorinnenbüro. Die große Frau mit dem freundlichen Lächeln ist
trotzdem präsent zwischen den gelben Wänden ihres „Farbteams“. Drei
verschiedene „Farbteams“ teilen die Schule auf und ersetzen Klassen und
Jahrgänge. Während sie eine Schülerin bei ihrem Projekt berät, sitzen die
anderen in kleinen Lerngruppen verteilt im Raum, die Türen sind ständig
offen, wer gehen will, steht auf. Trotzdem wird es hier nicht laut.
Die Geschichte der etwas anderen Schule beginnt 2007: Durch den Druck
schlechter Pisa-Ergebnisse beschließt die rot-grüne Regierung eine
Zusammenlegung der Haupt- und Realschulen. Das Kollegium der damaligen
Vom-Stein-Realschule fährt deshalb für ein Wochenende an den nahe gelegenen
Westensee. Eigentlich wollen sie nur über nötige Umbauten sprechen, aber
dann zeigt jemand am ersten Abend diese Dokumentation: „Treibhäuser der
Zukunft“, ein Filmprojekt, das reformpädagogische Schulen vorstellt. „Auf
einmal haben wir dann über unsere Vorstellung von einer perfekten Schule
diskutiert“, erinnert sich die heutige Direktorin.
## Lernen muss gelernt werden
Ideen werden gesammelt, Visionen auf einer weißen Tafel notiert. Klar ist
nach dem Abend: Frontalunterricht will niemand mehr. Zurück in der Schule
beginnt die Lehrerschaft, Tafeln zu entfernen und Tische umzuschieben. „Am
Anfang haben wir uns wie Versuchskaninchen gefühlt“, erinnert sich der
17-Jährige Max. Er trägt eine Baseballmütze auf dem Kopf und sitzt in der
letzten Reihe. „Mir war es manchmal auch zu chaotisch.“
Die LehrerInnen besuchen reformpädagogische Schulen in Hamburg und am
Bodensee, sie schauen sich Lehrkonzepte an, probieren Unterrichtsmethoden
aus. „Lehrer müssen eben auch lernen“, sagt die Direktorin. Vor allem
müssen sie eine Menge Arbeit investieren: Für das selbstbestimmte Lernen
entwickeln die LehrerInnen neue Materialien, am Ende ist das Handarbeit.
Nach und nach schafft die Schule ihr eigenes Lehrkonzept: Kinder der
Unterstufe lernen in Lernphasen, die „KULT“ und „Werkstatt“ heißen,
anstelle von klassischen Fächern werden in den Phasen Projekte aus einem
Themenbereich zur Verfügung gestellt.
Das Farbteam Gelb beschäftigt sich gerade mit Medien. Die 15-jährige Vivien
hat sich dafür im Bereich Gesellschaft das Thema Verbraucherbildung
herausgesucht und recherchiert zu bestehenden Gesetzen. „Ich suche mir das,
was ich noch nicht kenne“, sagt sie zu ihrer Themenfindung. Aus drei großen
Säulen, die im gelben Flur an die Wand geklebt sind, können sich die
SchülerInnen Projekte aussuchen. Haben sie Fragen, wenden sie sich an die
LehrerInnen. Am Ende müssen alle Fachbereiche abgedeckt werden, denn die
Freiherr-vom-Stein-Schule ist noch immer eine staatliche Institution und
die Abschlussprüfung in der Mittelstufe ist zentral.
Obwohl es kein normales Notensystem gibt, bemühen sich auch Miles und Max,
mit ihrem Projekt fertig zu werden. In der Reflexionsstunde am Ende des
Tages besprechen sie mit einer Lehrperson ihre Fortschritte. Ihrem
Tischnachbarn Fabian, 15, der eine Stufe unter ihnen ist, helfen sie
trotzdem.
## Lehrer verlassen die Schule
Auf den Schulfluren wird Schubert oft angesprochen. Sie scherzt mit den
jungen KollegInnen. Später in ihrem Büro spricht sie von den
Schwierigkeiten der Schulreform. An den Wänden hängen Plakate mit
Lehrkonzepten, ein Banksy-Motiv am Eingang zeigt ein Mädchen, das einem
roten Herzluftballon hinterhersieht.
Schubert sagt, dass man gerade am Anfang zu wenig von diesen Lehrmethoden
wusste und dass es LehrerInnen gab, die gar kein Interesse an Veränderungen
hatten – oder an Reformpädagogik. Damals bekommt sie die didaktische
Leitung zugeteilt. Sie liest sich in die Materie ein, vernetzt sich mit
anderen Projekten und baut eine neue Schulstruktur auf. Heute sagt sie:
„Ich habe von Anfang erklärt: Wenn wir damit anfangen, dann gehen wir nicht
mehr zurück.“
Einige Lehrkräfte verlassen die Schule. Ständige Reformen, kritisieren sie,
führten nicht zu besserer Bildung. Über den neuen Ideen gehen sogar
Freundschaften zu Bruch. Auch bei den Eltern stößt der Reformeifer am
Anfang auf wenig Verständnis: „Als mein Sohn unbedingt auf diese Schule
wollte, war ich ganz schön verunsichert. Ich habe das Schulkonzept nicht
verstanden“, sagt Jörg Asmus-Wieben. Der Elternvertreter beschreibt damit
die Stimmung in der 78.000-Einwohner-Stadt. Für viele Eltern sind die neuen
Lernkonzepte bis heute etwas sehr Fremdes.
Schon in den ersten Jahren der Umstrukturierung kommt es zu Konflikten:
LehrerInnen an Grundschulen empfehlen ihren SchülerInnen, lieber nicht an
die Vom-Stein-Schule zu wechseln, unter den Eltern entstehen Gerüchte über
die „neue Schule“. Keine Struktur gebe es da, die Kindern könnten machen,
was sie wollen. Schubert glaubt: „Die anderen Schulen fühlen sich von uns
unter Reformdruck gesetzt.“
## Unterricht mit YouTube
In den 1990er Jahren kämpft Neumünster mit hohen Arbeitslosenzahlen.
Jahrelang bemüht sich die Stadt, ausgelagerte Bereiche von Universitäten in
den Ort zu holen. Vergebens. Obwohl die Gemeinschaftsschule in den
folgenden Jahren mehrmals für den Deutschen Schulpreis nominiert wird,
kämpft sie bis heute um steigende Schülerzahlen.
Vivien hat sich mittlerweile dem Satz des Pythagoras zugewandt. Trotz der
Zettelberge auf ihrem Tisch wirkt sie entspannt. Das war nicht immer so.
Auf ihrem früheren Gymnasium kam sie mit dem Druck nicht klar, musste sogar
zum Psychologen. Von einer Freundin hört sie von dem anderen Schulmodell
und bittet ihre Eltern darum, versetzt zu werden. Viele erzählen eine
ähnliche Geschichte, wenige Eltern entscheiden sich bewusst für die etwas
andere Schule.
Auf dem Gang sitzt eine kleine Gruppe um einen Laptop. YouTube-Videos
laufen. „Wir arbeiten gerade an einem Filmprojekt“, sagt ein Schüler.
Smartphones und Laptops sind erwünscht in der digitalen Modellschule.
Selbstbestimmtes Lernen funktioniert nicht über Druck, sondern über
Interesse.
Kinder wollen lernen, glauben Reformpädagogen, und jedes Kind lernt anders.
Anstelle eines starren Lehrplans bekommen die SchülerInnen die
Möglichkeiten, einen eigenen Lernrhythmus zu entwickeln, LehrerInnen sollen
diesen nur unterstützen. Die große Chance: Kein Kind wird abgehängt, und
trotzdem werden schnellere LernerInnen nicht zurückgehalten. Klappt das?
„Na ja“, meint Max und tauscht Blicke mit seinen Sitznachbarn, „ein wenig
mehr Druck würde mir manchmal guttun.“
## Inklusion dank Reformpädagogik
Direktorin Maike Schubert sagt: „Ich musste diese Sicht auch erst einmal
lernen.“ Die gebürtige Neumünsteranerin wächst in einem behüteten Umfeld
auf. Im Tennisverein, der den Großteil ihrer Zeit einnimmt, bekommt sie
wenig von sozialen Problemen mit. Leistung bestimmt ihr Aufwachsen. Erst
die Notwendigkeit schafft den Blickwechsel: Weil sie nach der Universität
keinen Job an einer Realschule bekommt, landet sie als Vertreterin auf
einer Förderschule für Kinder mit schweren geistigen Behinderungen. „Ein
Sozialschock, der mir gutgetan hat“, sagt sie heute. Reformpädagogik, davon
ist sie überzeugt, kann wirkliche Inklusion leisten.
Freiwillige bieten nachmittags Fotokurse an, das neue Gartenprojekt wird
von Überstunden getragen, LehrerInnen sind für ihre SchülerInnen fast immer
online erreichbar. Wie die meisten hier brennt Schubert für dieses Projekt,
ständig hat sie neue Ideen: „Ich will eine Kita und eine Oberstufe, Eltern
sollen sich hier engagieren. Schule ist ein Prozess, von dem alle lernen.“
Mittlerweile kommen Studierende aus der ganzen Deutschland, um das Projekt
kennenzulernen. Vergangene Woche war die Jury des Deutsches Schulpreises
vor Ort. Bis Juni entscheiden sie, ob die Freiherr-vom-Stein-Schule
ausgezeichnet wird. Die Schule ist gut vernetzt mit anderen
Schulinitiativen – Anerkennung kommt noch immer vor allem von außen. „Ein
wenig mehr Interesse wäre schön“, meint Schubert, wenn sie nach ihrem
Verhältnis zu Neumünster gefragt wird. „Aber“, ergänzt sie dann, „manc…
muss man Dinge auch einfach erst mal machen.“
5 Feb 2016
## AUTOREN
Paul Hildebrandt
## TAGS
Reformpädagogik
Inklusion
Privatschule
Sozialarbeit
Verbrechen
Inklusion
Pippi Langstrumpf
Ausstellung
Inklusion
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