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# taz.de -- taz-Serie Inklusion (9): Kleine Sternstunden
> Die Martinschule wurde für geistig behinderte Kinder gegründet und nimmt
> auch Kinder ohne Förderbedarf auf. Das Konzept ist mutig.
Bild: Keinen zurücklassen: Am Evangelischen Schulzentrum Martinschule werden a…
Greifswald taz | Im Morgenkreis sitzen 18 Kinder auf dem Teppichboden und
zählen:. „One, two, three, four, five, six.“ Das Kind, das „seven“ sag…
müsste, sagt nichts. Der Junge schaut ins Leere und schweigt. In die Klasse
1a der evangelischen Martinschule Greifswald gehen 18 Kinder, zwei von
ihnen haben eine geistige Behinderung, eines eine Körperbehinderung.
Die Martinschule liegt mitten in der vorpommerschen Provinz und ist etwas
Besonderes. Der Anteil an Kindern mit Förderbedarf liegt bei
schwindelerregenden 41 Prozent. Die Grund- und Gesamtschule ist aus einer
Schule für Kinder mit geistiger Behinderung hervorgegangen. Man hat hier
also den Spieß umgedreht und sich auch für Kinder ohne Förderbedarf
geöffnet.
Die Inklusionspädagogin Ines Boban unterrichtet an der Universität
Halle-Wittenberg und weiß von einigen konfessionellen Schulen, die einen
ähnlichen Weg genommen haben. „Dort sind die, die integriert werden sollen,
die ‚normalen‚„, sagt sie, „das ist auf jeden Fall ein interessanter
Ansatz.“
Die Klassenlehrerin der 1a, Katja Danter, 50 Jahre alt, hält sich erst mal
im Hintergrund. Der Morgenkreis und die Zeit danach sind ritualisiert, die
Kinder gestalten den Tagesanfang über 15 Minuten lang selber. Sie
besprechen, welcher Tag heute ist, welche Jahreszeit, welcher Stundenplan
vor ihnen liegt, sie singen ein Morgenlied, sprechen ein Gebet, fragen
dann, wer hat was Spannendes zu erzählen?
## Ein inspirierender Begriff
Danach beginnt Katja Danter mit ihrer Klasse ein Versteckspiel auf
Englisch. „Wollen wir nach nebenan gehen?“ fragt Meik Grabow Sarah, die
jünger wirkt als die anderen Erstklässler. Grabow arbeitet als pädagogische
Unterrichtshilfe. Im Nebenraum spielt er das Spiel mit Sarah auf Deutsch.
Ines Boban erinnert gerne daran, dass Inklusion mehr ist, als Kinder mit
Behinderung in den Unterricht einer Regelschule zu integrieren. „Es ist gut
und ehrenwert, Kinder zusammen zu unterrichten. Aber Inklusion ist ein
inspirierender Begriff und meint etwas anderes, nämlich Weitergehendes:
eine Schule, die für niemanden, auch nicht für jemanden mit
Migrationshintergrund oder Armutserfahrung, ein Hindernis darstellt.“ Die
2006 verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention wertet Inklusion als
Menschenrecht.
Schulleiter der Martinschule ist Benjamin Skladny, 53 Jahre alt und
Sonderschullehrer. Die Schule ist sein Lebenswerk. Sie war vor der Wende
eine Fördertagesstätte, bis 2002 eine Sonderschule, anschließend
kooperative Grund- und Gesamtschule. Bis 2011 hatten die „normalen“ Klassen
mit „Sonderklassen“ lediglich kooperiert. „Dann haben wir das radikal
aufgelöst“, sagt Skladny. Statt getrennten Klassen für Schüler mit und
Behinderung, werden seitdem nur noch erste Klassen für alle Kinder
gebildet. Inklusion also.
Und die funktioniert, der Bekanntheitsgrad der Schule wächst. Mittlerweile
pilgern Schulleiter aus ganz Deutschland nach Greifswald. 520 Kinder
besuchen die Schule, sie werden von 100 Lehrerinnen und Lehrern
unterrichtet. 2014 hat der erste Jahrgang Abitur gemacht.
## Nicht unumstritten
Das Motto, das Schulleiter Skladny vor sich herträgt, mantraartig
wiederholt und hinter dem er nicht zurückweicht ist: „Keinen zurücklassen!�…
Das hört sich gut an. Das heißt aber auch, dass an dieser Schule jedes Kind
mit geistiger Behinderung angenommen wird, darunter auch solche mit
schwersten und mehrfachen Behinderungen. Das ist nicht unumstritten, auch
nicht unter seinen Mitarbeitern.
In einer dritten Klasse ein paar Räume weiter ist wie jeden Donnerstag
„Selbstbestimmertag“. Die Lehrerin bespricht in der Kreisrunde mit den
Schülern, wer was als Nächstes macht. Ein Junge hebt währenddessen die Arme
wie zum Ententanz und singt dazu laut und hoch. Weil seine
Integrationshelferin, die ihn normalerweise den Tag über begleitet, krank
ist, kümmert sich die Klassenlehrerin um ihn.
Auf dem Boden vor ihm liegen laminierte Bilder. „Vom Laich zum Frosch“
lautet die Überschrift, der Junge soll sie für seine Jahresarbeit in die
richtige Reihenfolge bringen. „Ich mag nicht“, sagt er, legt sich neben die
Karten auf den Boden und beginnt wieder zu singen. Situationen wie diese
lassen erahnen, in welchem Spannungsfeld sich die Lehrkräfte an der
Martinschule jeden Tag bewegen. Und woran sie sich abarbeiten. „Komm schon,
das kannst du“, sagt seine Lehrerin, vielleicht eine Spur barscher als
gewollt.
Die Schule verfolgt zwei Ziele, beide mit großem Einsatz. Sie will eine
moderne reformpädagogische Regelschule sein. Und eine gute Schule für
Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Zwei gleichrangige
Ansprüche, die möglichst gut miteinander verschmelzen sollen. Das bedeutet,
Kategorien wie „die“ und „wir“ gar nicht erst aufzumachen.
„Das ist die große Herausforderung“, sagt Katja Danter. In ihrer ersten
Klasse schneiden die Kinder jetzt englische Begriffe und dazugehörige
Bilder aus, ordnen sie zu und kleben sie auf ein Blatt Papier. Sarah
schneidet mit einer Schere mit vier Fingerlöchern. Grabow hilft ihr.
## Improvisation und Mut zur Lücke
Die Räume in der Martinschule sind großzügig, mehrere Zimmer sind
zusammengefasst. Jede Klasse hat ihren Garderoben- und Sanitärbereich. Es
gibt eine Kuschelecke und eine Küchenzeile, eine Leseecke mit Sofa. Böden
und Wände sind in warmen Farben gehalten. Und zu jeder Klasse gehören drei
bis vier Personen: neben der LehrerIn auch pädagogische
UnterrichtshelferInnen, IntegrationshelferInnen und eine SonderpädagogIn.
Der Unterricht ist Teamarbeit. Das erfordert dauernde Absprachen und
Debatten, auch Improvisation und Mut zur Lücke. Die Klassenleiterin, Katja
Danter, macht nicht alles selbst, eher ist sie die Koordinatorin, bei der
die Fäden zusammenlaufen. Auch die Schüler sind Teil der
Unterrichtschoreografie, sie organisieren selbstständig den Morgenkreis,
die Mahlzeiten und andere Aufgaben in den Räumen.
Viele Eltern schätzen die Martinschule vor allem wegen der vielen
Möglichkeiten, die sie bietet. Sie habe ihr Kind hier angemeldet, weil dies
eine gut ausgestattete reformpädagogische Schule sei, sagt eine Mutter. Wie
viele Eltern wünscht sich die Frau in erster Linie, dass ihr Kind gut
gefördert wird, möglichst bis zum Abitur. Inklusion soll dabei nicht
stören.
Hochschullehrerin Boban glaubt, dass es grundsätzlicher Veränderungen im
Schulsystem bedarf, um Inklusion an allen Schulen zu ermöglichen. Sie
träumt von demokratischen Schulen, freien Orten, an denen Kinder und
Jugendliche das lernen können, was sie wollen. Sie plädiert dafür Leistung
und Wertschätzung zu entkoppeln und Schulabschlüsse weniger wichtig zu
nehmen.
## Kann es klappen?
Die Schere zwischen dem Klassendurchschnitt und Kindern wie Sarah wird im
Laufe der Zeit weiter auseinandergehen. Funktioniert das Modell auch noch
in der 5., 7., 10. Klasse? Oder wird für die Kinder mit geistiger
Behinderung künftig das Gefühl des Versagens im Zentrum stehen, werden die
anderen genervt sein von den Störungen? Im nächsten Schuljahr kommt der
erste Inklusionsjahrgang in die 5. Klasse. Im Kollegium gibt es Lehrer, die
in der Sekundarstufe keine Inklusion mehr wollen.
Für Benjamin Skladny kommt nichts anderes infrage. „Es geht nicht darum, ob
wir es schaffen oder nicht“, sagt er, „es geht nur darum, was wir brauchen,
um es zu schaffen.“ Alles andere wäre für ihn ein Schritt zurück. „Wir
haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ steht
auf einem Plakat in seinem Arbeitszimmer. Ein Zitat aus der Bibel, die
Jahreslosung 2013.
Mit der zukünftigen Stadt ist das Jenseits gemeint. Trotzdem ist es ein
Bild, das passt, auch für diese Schule. Die hat sich von einer
Aufbewahrungsanstalt zu DDR-Zeiten, in der Kinder zwischen 0 und 18 Jahren
abgegeben und betreut wurden, zu einer wegweisenden Institution entwickelt.
Ein Experimentierfeld dafür, wie viel Gemeinschaft möglich ist, wie und ob
eine Schule für alle funktionieren kann.
Katja Danter erzählt von Kindern mit Förderbedarf, die gerade durch das
inklusive Modell über sich hinaus gewachsen sind. Schneller als im alten
System Lernfortschritte erzielt haben. Und dass für ihre Kinder
Verschiedenheit selbstverständlich ist. „Für die Kinder gibt es keine
Kategorien ‚behindert‚ oder ‚nicht behindert‚, sondern verschiedene Art…
und Tempi zu lernen.“ Sie erzählt, dass ihre Schüler gelernt haben,
einander einzuschätzen, Toleranz zu üben, aber auch zu sagen und zu zeigen,
wann sie sich gestört fühlen. Am Ende, glaubt sie, profitieren alle.
Und es gibt Momente die nahelegen, dass sich die ganze Mühe lohnen könnte.
Kleine Sternstunden. Dem Jungen, der im Morgenkreis nichts sagen wollte,
flüsterten die anderen Kinder das Wort zu. Er schwieg weiterhin. Dann sagte
seine Sitznachbarin „eight“. Machte einfach weiter. Ohne Irritation, ohne
Kommentar, und ohne dass die Klassenlehrerin sich einmischen musste.
11 Jul 2015
## AUTOREN
Anke Lübbert
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