# taz.de -- taz-Serie Inklusion (8): Helikopter-Eltern, notgedrungen | |
> Kommt ein Kind mit einer Behinderung zur Welt, verändert es den Alltag | |
> seiner Eltern radikal. Ihr Leben kreist um dieses eine Kind. | |
Bild: Die Kinder immer im Blick | |
BERLIN taz | Max, 15 Jahre alt, spielt mit seinen Freunden Fußball, unten | |
auf dem Sportplatz, zwischen den Plattenbauten im Berliner Bezirk | |
Lichtenberg. Das ist keine Selbstverständlichkeit. | |
Max kam viel zu früh zur Welt, die Hirnschädigungen durch die Frühgeburt | |
hat seine Mutter versucht auszugleichen. Doreen Kröber trug ihren Sohn die | |
ersten zwei Jahre seines Lebens. Sie trug ihn tagsüber, sie trug ihn | |
nachts. „Nur so konnten sich seine Synapsen wieder miteinander verknüpfen“, | |
erklärt Kröber. | |
Sie sitzt am Küchentisch ihrer spärlich eingerichteten Lichtenberger | |
Wohnung, eine Frau Mitte 40, mit trockenem Humor, die Gesprächspausen | |
zulässt, während sie nach den passenden Worten sucht. Ihr Laptop, das | |
wichtigste Kommunikationsmittel, steht ein paar Zentimeter entfernt auf dem | |
Tisch. | |
Auf den Küchenschränken hinter ihr zeigen Aufkleber den Inhalt an: Brot, | |
Obst, Gemüse. Früher dienten sie Max zur Orientierung, heute benötigt er | |
sie nicht mehr. Änderungen im System sind für ihn als Autisten bedrohlich; | |
er braucht Rituale, gewohnte Plätze, immer die gleichen Abläufe – und so | |
wenig Dekor in der Wohnung wie möglich. Auf dem Regal im Wohnzimmer steht | |
ein Bild von Max, „Und hier ist auch seine Schwester drauf“, sagt Kröber | |
und zeigt auf eine weiteres Foto an der Wand. Ihre Tochter ist schon | |
ausgezogen. | |
## Max benötigt ein System – seine Mutter sorgt dafür | |
Die Geburt eines behinderten Kindes ist für die Eltern eine Zäsur. Mit | |
einer Mischung aus gesellschaftlichem Druck und eigenem Anspruch geraten | |
sie oft in eine Spirale aus Förderung der Kinder und dem Abarbeiten der | |
Bürokratie rund um das behinderte Kind. Zeit für sich selbst, die | |
Partnerschaft oder Geschwisterkinder ist rar. | |
Eltern behinderter Kinder werden zu Helikopter-Eltern, notgedrungen. | |
Während sie sich vom sozialen Umfeld oft alleingelassen fühlen, kreisen sie | |
um ihre behinderten Kinder. Sie fördern ihre Kinder, sie organisieren den | |
Alltag ihrer Kinder, die viele Bürokratie – und vergessen sich dabei | |
manchmal selbst. | |
Fußball spielen mit seinen Freunden kann Max, weil er den Platz kennt, weil | |
seine Mutter mit ihm viele Jahre jeden Tag die immer gleichen Wege | |
abgeschritten ist. Durch den unermüdlichen Einsatz seiner Mutter kann Max | |
sich alleine durch den gewohnten Kiez bewegen. Max benötigt ein System, | |
Doreen Kröber hat es für ihn erschaffen und sorgt dafür, dass es erhalten | |
bleibt. Das hinterlässt Spuren: „Die letzten Jahre haben für einige Kilos | |
gesorgt – mehr, nicht weniger, leider“, sagt sie mit einem Anflug von | |
Stolz. | |
## Einfach abgehauen | |
Max’ Vater konnte die Fürsorge seiner Frau für den gemeinsamen Sohn nicht | |
verstehen, er ging „mal kurz Zigaretten holen“ und kam nicht wieder. | |
Seitdem sind Max und seine Mutter ein Team. „Er ist halt mein Prinz“, sagt | |
Doreen Kröber über ihren Sohn. | |
Petra Winkler berät seit über zwanzig Jahren für den Verband „profamilia“ | |
Eltern behinderter und nicht behinderter Kinder. Sie beobachtet dabei oft | |
Eltern, die für ihr behindertes Kind anderen Dingen entsagen. | |
„Wir fügen uns unseren Kinder“ sagt Robert Stöver gelassen. Der junge Vat… | |
aus Hamburg streicht seiner Tochter liebevoll eine blonde Haarsträhne aus | |
dem Gesicht. Stöver hat seinen Beruf als Fotograf aufgegeben, um sich ganz | |
der Pflege und Erziehung seiner Zwillingstöchter zu widmen. „Ich bin total | |
glücklich damit, mich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern“, erzählt | |
Stöver. Seine Frau arbeitet mittlerweile wieder an drei Tagen pro Woche | |
freiberuflich als Fotografin. | |
Er sei Vater mit Leib und Seele. „Ja, ich bin ein Helikopter-Vater“ sagt | |
er, lächelt, und fügt bestimmt hinzu: „Ja, auch wider Willen!“ | |
## Alltag als Ausnahmezustand | |
Enie und Luna sind vier Jahre alt, sie wurden beide in der 24. | |
Schwangerschaftswoche geboren und sind durch die Folgen ihrer Hirnblutungen | |
mehrfach behindert. „Als die Ärzte kurz nach der Geburt sagten, dass beide | |
Mädchen auf die Intensivstation kommen, ging für uns das Fighten los“, | |
erzählt ihre Mutter Maren Stöver. | |
Bis heute ist der Ausnahmezustand bei den Stövers Alltag. Beide Mädchen | |
haben einen Shunt im Gehirn, einen Schlauch, über den das überschüssige | |
Gehirnwasser abläuft. Funktioniert das nicht, wird der Hirndruck | |
lebensbedrohlich groß. Erst vor wenigen Wochen musste eine Tochter deswegen | |
notoperiert werden. Inzwischen geht sie wieder in den Kindergarten – ihre | |
Eltern müssen die überstandene Gefahr erst noch verarbeiten. „Um von Panik | |
auf Alltag umzuschalten, brauchen wir noch ein paar Tage – die Kinder sind | |
da schneller“, sagt Maren Stöver. | |
Die Stövers leben in 24-Stunden-Bereitschaft für ihre Töchter – weil sie es | |
müssen. „Mama“, sagt Enie und kuschelt sich an Maren Stöver. Enies | |
Schwester Luna kann nicht sprechen. „Wer soll für unsere Töchter sprechen, | |
wenn wir es nicht tun?“ fragt Maren Stöver. | |
„Gerade bei Kindern mit Behinderung ist eine bestimmte Fürsorge nötig“, | |
bestätigt Anke Fricke. Sie arbeitet als Psychologin bei der | |
Schwangerschaftsberatung „Lydia“. Ihr Büro befindet sich in einer Wohnung | |
im Berliner Bezirk Neukölln. In der Gesprächsecke stehen drei Bastsessel um | |
einen Tisch, hier berät Fricke Eltern behinderter Kinder schon während der | |
Schwangerschaft bei auffälligen Diagnosen und auch bis zum dritten | |
Lebensjahr der Kinder. | |
## Bisweilen ersetzt das Kind den Partner | |
Behinderte Kinder benötigen oft mehr Pflege und Unterstützung durch ihre | |
Eltern. Fricke beobachtet dabei oft, dass die Eltern Passion und Engagement | |
in die Kinder legen – und sich dabei selbst vergessen. „Bei | |
alleinerziehenden Mütter ersetzen die behinderten Kinder auch manchmal die | |
Partnerrolle“, berichtet die Psychologin. | |
Oft sagen die Eltern Termine bei ihr auch ab oder kommen nicht. Sie | |
schaffen es nicht, auch nur eine Stunde von ihren Kindern wegzukommen oder | |
finden niemanden, der sie betreut. | |
„Die Behinderung meines Sohnes hält mich nicht davon ab, mein Leben | |
selbstbestimmt zu leben“, sagt Yasemin Beyaz trotzig. Sie spricht zu den | |
anderen zwölf Frauen, die bei Kartoffelsalat, Sesamtaschen und Tee in den | |
Räumen des Berliner Vereins „Interaktiv“ zusammensitzen. Ihnen allen gemein | |
ist: Sie haben Migrationshintergrund und ihre Kinder sind behindert. Einmal | |
im Monat tauschen sie sich hier aus. | |
Eine der jüngeren Frauen erzählt, dass sie noch keinen Behindertenausweis | |
für ihr Kind beantragt hat. Sie möchte kein amtliches Dokument, das | |
bescheinigt, dass ihr Kind behindert ist. | |
Beyaz, sorgfältig geschminkt, in Jeans und mit strengem Pferdeschwanz, | |
reagiert verständnislos. Sie kann einfach nicht verstehen, warum nicht alle | |
die Angebote, die Familien mit behinderten Kindern zustehen, suchen und | |
annehmen: umsonst Bus- und Zugfahren, Ausflüge in den Zoo oder ins | |
Aquarium. | |
Die 39-jährige Beyaz ist bei diesem Thema ganz klar: „Efe-tan ist behindert | |
und gut so, wie er ist“. Seit seinem zweiten Lebensjahr erzieht sie ihren | |
heute sechsjährigen Sohn allein. | |
## Der Druck zum Perfektionismus wächst | |
Der Kinderwunsch ging ursprünglich von Efe-tans Vater aus. Beyaz wollte | |
eigentlich gar keine Kinder, doch schon während der Schwangerschaft spürte | |
sie die Liebe zu ihrem Sohn wachsen. Mein Leben ist mit Efe-tan erfüllter | |
geworden“, sagt sie. Daneben versucht sie ihr eigenes Leben weiterzuführen: | |
Sie geht ins Fitnessstudio und verreist auch mal ohne ihren Sohn. | |
An diesem Tag ist sie das erste Mal bei einem Interaktiv-Frühstück. | |
Normalerweise arbeitet sie um diese Zeit als Praxismanagerin, 30 Stunden | |
pro Woche, doch heute hat sie frei. Wenn sie nicht Termine für | |
Zahnreinigungen vergibt oder sich um die Personalplanung innerhalb der | |
Praxis kümmert, koordiniert sie die Termine ihres Sohnes. | |
Und Efe-tan hat viele Termine: Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie. | |
„Was möglich ist, mache ich für Efe-tan möglich“, sagt Beyaz stolz. | |
Alle Eltern wollen gute Eltern sein. „Mit einem Kind mit | |
Entwicklungsverzögerung wächst aber der Druck zum Perfektionismus“, sagt | |
die Sozialpädagogin Winkler. Ziel der selbstlosen Förderung sei oft, das | |
Kind so „normal“ wie möglich zu machen, also so wenig behindert wie | |
möglich. | |
Bis Eltern die Behinderung ihrer Kinder akzeptieren können, braucht es | |
manchmal Jahre. Bis dahin heißt es oft: Physio statt Freizeit. | |
## Eingeschränkte Kritikfähigkeit | |
Problematisch wird es, wenn die Kinder durch die Fürsorge keine Möglichkeit | |
haben, sich weiterzuentwickeln oder von ihren Eltern abzulösen, berichtet | |
Familienberaterin Fricke. Ein Kind, das sich schlecht mitteilen kann, könne | |
auch nicht sagen: „Mama, lass mich mal in Ruhe, ich will selbst die Welt | |
mit den mir gegebenen Mitteln entdecken.“ | |
In Winklers Beratungen kommen auch junge Erwachsene mit Behinderung. Die | |
berichten dann aus dem Leben eines Kindes mit Helikopter-Eltern und sind | |
oft nicht in der Lage, ihre Eltern zu kritisieren. Die Bindung sei so eng, | |
dass keine Kritik möglich sei – geschweige denn eine Ablösung von den | |
Eltern. „Manchmal wird es behinderten Kindern erst mit dem Tod der Eltern | |
möglich, ein eigenständiges Leben zu führen“, erzählt Winkler. | |
Doreen Kröber muss an diesem Tag noch zu einer Sitzung des | |
Landeseltelternausschusses. Seit es Max gibt, ist sie die Expertin für | |
schulische Inklusion geworden. Schulhelferinnenstunden für ein behindertes | |
Kind sollen gestrichen werden? Eine inklusive Klasse hat zu wenig | |
Lehrerinnen? Auf welche Schule kann meine blinde Tochter gehen? Doreen | |
Kröber weiß Rat. Auf ihrem Blog „Politgirl“ informiert sie andere Eltern | |
über ihre ehrenamtliche Arbeit in den Gremien der Elternvertretung. | |
Im Sommer würde sie gern mit Max verreisen. „Eine Woche Ostsee, das wäre | |
schön“, seufzt sie. Aber schon formuliert sie Einwände. Das komme für ihren | |
Sohn nicht in Frage. Ein Urlaub würde für Max zu viele neue Impulse | |
bedeuten, als Autist brauche er feste Rituale, Gewohnheiten und | |
Umgebungen.“Also bleiben wir hier“, sagt Kröber. | |
5 Apr 2015 | |
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