| # taz.de -- taz-Serie Inklusion (5): „Du kannst alles schaffen“ | |
| > Fatma Sentürk ist Lehrerin. Und sie ist blind. Das Referendariat und die | |
| > Suche nach einer Stelle entpuppen sich als Härtetest für die junge Frau. | |
| Bild: Lehrerinnen sollten auch ohne Sehprothese arbeiten dürfen. | |
| FRANKFURT/MAIN taz | Neun Bewerbungen hat Fatma Sentürk an Schulen | |
| geschickt. Und sie geht davon aus, dass sie neun Einladungen zum | |
| Vorstellungsgespräch bekommen wird. Und dass es dann unverbindlich heißt: | |
| Sie hören von uns. | |
| Fatma Sentürk bangt, ob sie eine Stelle bekommt. Bereits im Juni hat die | |
| Deutsch- und Erdkundelehrerin ihr Referendariat an einer Förderschule in | |
| Nordrhein-Westfalen beendet. „Ich habe Angst, dass mich keine Schule | |
| einstellen will“, sagt die 34-Jährige. | |
| Sentürk ist von Geburt an blind. Sie selbst zweifelt nicht daran, dass sie | |
| den Schulalltag meistern kann. Das hat sie während des Referendariats | |
| bewiesen. „Man entwickelt Strategien“, sagt die junge Frau. | |
| So lernt Sentürk schnell, die Stimmen der Kinder zu unterscheiden und | |
| sicher zuzuordnen. Die Schüler sitzen während des Unterrichts im Kreis um | |
| sie herum. „So höre ich jeden Pieps.“ Und wer sich melden will, nennt | |
| einfach kurz seinen Namen. „Das klappt sehr gut“, berichtet sie. Außerdem | |
| hat die Erdkunde- und Deutschlehrerin immer eine Assistentin dabei. | |
| Diese hilft ihr bei der Vor- und Nachbereitung der Stunden, erstellt zum | |
| Beispiel die Arbeitsblätter oder liest Texte vor. Auch im Unterricht kann | |
| Sentürk sich auf sie verlassen. Die Assistentin schreibt an die Tafel, | |
| verteilt Kopien, guckt, wer sich meldet – und achtet darauf, dass niemand | |
| Unsinn anstellt. | |
| ## Diskriminierung kaum nachweisbar | |
| Seit 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland. Die | |
| Konvention garantiert behinderten Menschen das Recht, auf gleichberechtigte | |
| Teilhabe an der Gesellschaft. Für den öffentlichen Dienst – und dazu zählen | |
| auch Schulen – heißt das, dass schwerbehinderte Bewerber generell zum | |
| Vorstellungsgespräch eingeladen werden müssen und bei gleicher | |
| Qualifikation bevorzugt eingestellt werden. So steht es jedenfalls im | |
| Gesetz. | |
| „Doch in der Praxis gilt: die Einstellung ist eine große Hürde“, sagt Hei… | |
| Willi Bach vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium | |
| und Beruf (DVBS). Seiner Erfahrung nach bräuchten blinde und stark | |
| sehbehinderte Lehrer viel Energie, Mut und Glück, um eine Stelle zu finden. | |
| Die Entscheidung treffe allein die Schule als künftiger Arbeitgeber. | |
| Abgelehnte Bewerber könnten kaum nachweisen, dass sie diskriminiert wurden. | |
| Bach verweist auf einen Fall aus Bayern: Dort wurde eine blinde | |
| Lehramtsstudentin nach dem erstem Staatsexamen nicht zum Referendariat an | |
| einer Regelschule zugelassen. Die Frau musste ihr Recht 2007 vor Gericht | |
| durchsetzen. | |
| Obwohl sich seither einiges verbessert habe, seien blinde und stark | |
| sehbehinderte Lehrkräfte im Schulalltag weiterhin die Ausnahme, meint Bach: | |
| „Es sind immer Einzelfälle.“ Offizielle Zahlen gibt es nicht. | |
| Auch Sentürk hat erlebt, wie viel Skepsis es noch gibt. Ein Schulleiter | |
| fragte sie, warum sie sich nicht einen anderen Beruf aussuche. Eine blinde | |
| Lehrerin! „Die meisten Menschen haben Angst, dass das nicht klappt“, | |
| berichtet sie. Ein großes Thema sei die Aufsichtspflicht. „Ich kann | |
| vielleicht mit den Kindern nicht auf die Straße gehen“, meint Sentürk. | |
| ## „Du kannst alles schaffen“ | |
| „Aber ich bin durchaus in der Lage, eine Klasse zu beaufsichtigen.“ Nur | |
| wenn Klausuren geschrieben werden, müsse ein Kollege aushelfen. Doch sollte | |
| im Unterricht mal ein Schüler auf seinem Handy rumtippen, findet die | |
| Lehrerin das nicht so schlimm: „Normale Lehrer bekommen auch nicht mit, was | |
| unter jedem Tisch passiert.“ | |
| Fatma Sentürk hat ihr Abitur an der Blindenschule in Marburg gemacht. Dort | |
| hat man sie darin bestärkt, ihren Lieblingsberuf zu wählen: „Du kannst | |
| alles schaffen“, sagten ihre Lehrer. In der Tat: Das Studium lief sehr gut, | |
| danach arbeitete die junge Frau jahrelang als Sozialpädagogin in einem | |
| Behindertenwohnheim. „Das war super“, sagt sie. „Ich wurde richtig | |
| unterstützt.“ | |
| Trotzdem wollte sie noch einmal studieren. „Es war schon immer mein Traum, | |
| Lehrerin zu werden“, sagt die 34-Jährige. Und studierte | |
| Sonderschulpädagogik. Doch im Vorbereitungsdienst fingen die Probleme an: | |
| Das zuständige Schulamt berücksichtigte keine ihrer Wunschstädte für das | |
| Referendariat. | |
| Stattdessen wies die Behörde Sentürk eine Schule für geistig Behinderte zu. | |
| Zwei Stunden brauchte sich täglich für den Schulweg. In eine Richtung. | |
| Indirekt habe man ihr zu verstehen gegeben, dass sie keine Schule | |
| freiwillig ausbilden wolle, sagt sie. „Das war nicht schön.“ | |
| ## Viele brechen aus Frust ab | |
| Auch im Unterricht mangelte es an Unterstützung, berichtet die | |
| Förderschullehrerin. Nicht von Seiten der Schüler. „Die Kinder waren total | |
| lieb.“ Doch ihre Mentorin habe sich geweigert, ihr mehr zu helfen als | |
| anderen Referendaren. Da Sentürk zunächst keine Assistentin hatte, konnte | |
| sie keinen Unterricht mehr halten. | |
| Daraufhin wechselte sie die Schule. „Dort lief es im Großen und Ganzen ganz | |
| gut“, sagt die 34-Jährige. Aber sie kenne viele blinde und stark | |
| sehbehinderte Lehramtsstudierende, die ihr Referendariat aus Frust | |
| abgebrochen hätten. | |
| Diese Einschätzung teilt die Berliner Schwerbehindertenvertreterin Karin | |
| Krause. Das Referendariat sei ein Härtetest, sagt Krause. „Es hapert es oft | |
| an Unterstützung, Verständnis und Regelungen. Dabei ist der Lehrerberuf für | |
| die meisten Behinderungen besonders gut geeignet.“ | |
| Die Arbeitszeit könne reduziert werden, es gebe einen Nachteilsausgleich, | |
| so dass behinderte Lehrkräfte weniger Stunden unterrichten müssten, zählt | |
| Krause die Vorteil auf. Außerdem sei in diesem Job sehr viel organisierbar. | |
| Lehrkräfte könnten weitgehend selbst entscheiden, wie sie sich vorbereiten | |
| und ihren Unterricht gestalten. „Doch in der Gesellschaft muss sich noch | |
| einiges tun“, meint Krause. | |
| Zwar hätte sich die Rechtslage für Behinderte enorm verbessert in den | |
| letzten 20 Jahren. Aber die Menschen dächten nur langsam um. Dabei wäre es | |
| wirklich toll, mehr Menschen mit Behinderung im Schuldienst zu haben, sagt | |
| die Behindertenvertreterin. „Sie könnten dazu beitragen, Vorbehalte | |
| abzubauen.“ Für die Schüler hätten diese Lehrkräfte eine Vorbildfunktion. | |
| Fatma Sentürk ist überzeugt: „Eine gute Lehrerin zeichnet nicht aus, dass | |
| sie sehen kann. Sondern was sie für einen Unterricht abhält.“ | |
| 2 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Kathrin Hedtke | |
| ## TAGS | |
| Inklusion | |
| Blinde | |
| Schule | |
| Diskriminierung | |
| Inklusion | |
| Inklusion | |
| Inklusion | |
| Inklusion | |
| Inklusion | |
| Kino | |
| Inklusion | |
| Inklusion | |
| Inklusion | |
| Inklusion | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| taz-Serie Inklusion (8): Helikopter-Eltern, notgedrungen | |
| Kommt ein Kind mit einer Behinderung zur Welt, verändert es den Alltag | |
| seiner Eltern radikal. Ihr Leben kreist um dieses eine Kind. | |
| taz-Serie Inklusion (6): Wenn Olav rot blinkt | |
| Gemeinsames Lernen erfordert Selbstdisziplin, feste Rituale und moderne | |
| Unterrichtsmethoden. Das zeigt ein Besuch in einer Berliner Grundschule. | |
| Inklusion im Beruf: Beinahe freie Wirtschaft | |
| Bei Weserwork in der Überseestadt können Start-up-Unternehmen Büros mieten | |
| – und Serviceleistungen von Menschen mit Behinderung. | |
| taz-Serie Inklusion (7): LehrerInnen dringend gesucht | |
| Für den Unterricht werden vermehrt Sonderpädagogen gebraucht. Schnappen | |
| sich die Länder ihre Absolventen gegenseitig weg? | |
| taz-Serie Inklusion (6): Füttern? Kriegen wir hin! | |
| Jedes Kind darf laut Gesetz eine Kita besuchen. Eine Familie suchte | |
| monatelang einen Platz für ihre behinderte Tochter. Am Ende hatte sie | |
| Glück. | |
| Kino für Blinde: Der Film entsteht im Kopf | |
| Auch Blinde gehen ins Kino. In Hörfilme. Diese stellen die Idee der | |
| Inklusion, aber auch das Medium selbst infrage. Wie wichtig ist das Bild | |
| für Filme? | |
| taz-Serie Inklusion (4): Schrecklich nette Leute | |
| Emma besucht eine normale Grundschule. Alle finden das Mädchen im Rollstuhl | |
| süß. Das ihr entgegengebrachte Mitleid findet sie schrecklich. | |
| taz-Serie Inklusion (3): Streiter für die Sonderschule | |
| In Nordrhein-Westfalen kämpfen Eltern für den Erhalt der Förderschule. Sie | |
| befürchten, dass ihre Kinder in der Regelschule untergehen könnten. | |
| taz-Serie Inklusion (2): „Inklusion ist wie Kommunismus“ | |
| Seit dem Fall Henri wird diskutiert, ob Gymnasien ein Ort für Kinder mit | |
| geistiger Behinderung sind. Eine Schule in Rheinau macht vor, wie das gehen | |
| kann. | |
| taz-Serie Inklusion (1): Rampenfieber | |
| Das deutsche Bildungssystem klebt am Ausschlussverfahren für Behinderte. | |
| Dabei würden alle von inklusiven Schulklassen profitieren. |