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# taz.de -- taz-Serie Inklusion (6): Füttern? Kriegen wir hin!
> Jedes Kind darf laut Gesetz eine Kita besuchen. Eine Familie suchte
> monatelang einen Platz für ihre behinderte Tochter. Am Ende hatte sie
> Glück.
Bild: Hart erkämpfte Normalität: Ihr Name steht auf ihrem Fach im Flur
BERLIN taz | „Leider können wir eurer Tochter keinen Kita-Platz bei uns
anbieten. Wir haben lange darüber diskutiert – und dann entschieden, dass
es bei uns leider nicht passt.“ Die Facherzieherin für Integration einer
kleinen Kindertagesstätte in Berlin-Kreuzberg erläutert mir ihre Absage so:
zu wenig Platz, zu wenige Erzieher, zu viel Unsicherheit in Bezug auf das
spezielle Hörgerät, das meine Tochter ein paar Wochen später bekommen
sollte. Ich hörte zwischen den Zeilen die wahre Begründung: Eure Tochter
ist zu behindert für uns.
Zu diesem Zeitpunkt waren mein Mann und ich bereits seit einem halben Jahr
auf der Suche nach einem Betreuungsplatz für unsere mehrfach behinderte
Tochter, die ich hier Kaiserin 1 nenne. Sie kam mit einem seltenen
Chromosomenfehler zur Welt, verbrachte die ersten Tage ihres Lebens auf der
Intensivstation, die folgenden Wochen im Krankenhaus. Bis wir nach drei
Monaten das Krankenhaus in Form eines Überwachungsmonitors und eines
Sauerstofftanks mit nach Hause nahmen.
Kaiserin 1 gilt als taubblind, gehbehindert und entwicklungsverzögert.
Heute ist sie fast drei, auf ihrem Behindertenausweis steht „100 Prozent“.
Sie hat die Pflegestufe 3. Gerade beginnt sie selbst zu sitzen und will mit
Hilfe stehen. Eine Prognose für ihre weitere Entwicklung gibt es nicht.
In ihren ersten Lebenstagen dachte ich immer wieder, mein Leben sei nun
vorbei. Wie sollte ich mit diesem pflegeintensiven Kind jemals wieder
arbeiten gehen? Wie Freundschaften pflegen und meinen Hobbys nachgehen? Die
Psychologin, mit der mein Mann und ich anfangs täglich und später einmal
wöchentlich sprachen, klärte uns schließlich auf: „Jedes Kind kann in eine
Kita gehen. Für alle Kinder gilt das Recht auf Bildung – auch für Kinder
mit Behinderung.“ Wie viel Energie die Eltern allerdings aufbringen müssen,
um dieses Recht einzulösen, sagte sie nicht. Sie sagte auch nichts davon,
dass man Glück haben müsse.
## Wie sollte ich jemals wieder arbeiten gehen?
Als Kaiserin 1 ein Jahr alt war, waren wir von Hamburg nach Berlin gezogen.
Das war 2012. Damals begannen wir, nach einer Kita für unsere Tochter zu
suchen. Wir wussten, dass es nicht einfach ist, einen Platz für ein
Kleinkind zu finden, erst recht, wenn es behindert ist. Wir stellten uns
auf eine längere Suche ein.
Wir leben in Friedrichshain-Kreuzberg, in unserem Bezirk gibt es 237
Kindertagesstätten, 117 von ihnen betreuen gegenwärtig ein oder mehrere
Kinder mit Behinderung. 50 von ihnen betreuen nur ein Kind mit Behinderung
und gelten damit nicht als „klassische Integrationskitas“. Ich erstellte
eine Liste mit allen infrage kommenden Kitas und rief sie an.
Im Berliner Kita-Gesetz heißt es: „Keinem Kind darf auf Grund der Art und
Schwere seiner Behinderung oder seines besonderen Förderungsbedarfs die
Aufnahme in eine Tageseinrichtung verwehrt werden.“ Und weiter: „Kinder mit
Behinderungen werden in der Regel gemeinsam mit anderen Kindern in
integrativ arbeitenden Gruppen gefördert.“ Soweit die Theorie.
In der Praxis verliefen die Telefonate mit den Kitas immer nach demselben
Muster: „Hallo, ich suche einen Platz für meine Tochter.“ – „Das tut m…
leid, wir sind leider voll bis 2017.“ – „Ich suche einen integrativen
Platz, meine Tochter ist behindert.“ – „Ach so, dann können wir vielleic…
etwas machen. Wie alt ist sie denn?“ – „Fast anderthalb.“ – „Oh, da…
schwierig. Wir nehmen erst Kinder ab zwei Jahren. Was hat sie denn?“
## Viele Kitas trauten sich die Betreuung nicht zu
Meist war das Telefonat nach der Aufzählung der Diagnosen beendet. Oft
wurde mir direkt am Telefon gesagt, dass sich die Kita „das“ nicht zutrauen
würde. Zweimal wurden wir zum Vorstellungsgespräch eingeladen, zweimal
hörten wir danach, mit unserer Tochter würde „die Mischung“ innerhalb der
Einrichtung nicht stimmen. Das eine Mal waren die Räume zu klein, das
andere Mal war der Garten zu groß, in dem die anderen Kinder herumtollten.
Nie wurde zusammen mit uns eine Lösung gesucht, immer wieder bekam Kaiserin
1 den Stempel „zu behindert“ auf ihre hübsche kleine Stirn gedrückt.
Wir versuchten es weiter. Mein Mann klapperte an mehreren Tagen alle
Kinderläden in unserer Nachbarschaft ab – vergeblich. Entweder hatten sie
noch keine Erfahrung mit behinderten Kindern und trauten sich die Betreuung
auch nicht zu. Oder es gab schlicht keinen freien Platz.
Das Gespräch mit der vorletzten Kita auf meiner Liste lief anders ab, als
ich es gewohnt war. Die Kita-Leitung unterbrach mich während der
mittlerweile schon auswendig gelernten Diagnoseliste meiner Tochter und
sagte: „Kommt doch einfach mal bei uns vorbei. Dann lernen wir uns kennen
und schauen mal, was wir tun können. Wir nehmen die Kinder, wie sie
kommen.“ Ich war sprachlos.
Eine Woche später standen wir vor der Tür des kleinen Kinderladens in der
Nachbarstraße, den wir bisher immer übersehen hatten. In der Tür stand der
Facherzieher für Integration: fast zwei Meter groß, tätowiert, mit bunten
Haaren und einem warmherzigen Lächeln. Dahinter die Kita-Leiterin, mit der
ich telefoniert hatte, eine erfahrene Pädagogin. Es stellte sich heraus,
dass eigentlich kein integrativer Platz frei war. Doch sie wollten sich
erkundigen, ob da nicht doch was machbar wäre. „Und so wie’s aussieht,
braucht ihr dann bald auch noch einen zweiten Platz, oder?“, wurden wir mit
Blick auf meinen hochschwangeren Bauch angegrinst.
## Wir waren selbst zu Bedenkenträgern geworden
Im Gespräch brachten wir alle Bedenken vor, die wir inzwischen gesammelt
und verinnerlicht hatten. Die langwierige Suche hatte uns zu wahren
Bedenkenträgern gemacht. Die Leiterin und der Integrationserzieher
entkräfteten alle Vorbehalte – einen nach dem anderen. Kaiserin 1 braucht
Darmspülungen? „Wenn ihr das könnt, schaffen wir das auch!“ Sie kann nicht
sitzen? „Bringt doch ihren Therapiestuhl mit hierher. Was ihr zu Hause
könnt, können wir auch!“ Sie muss gefüttert werden? „Bekommen wir hin!�…
waren hier willkommen, als ganze Familie. Die Kita ist alles andere als
barrierefrei, aber zusammen mit den ErzieherInnen fanden wir Wege, sie an
die Bedürfnisse unserer Tochter anzupassen.
Die Eingewöhnung übernahm mein Mann. Länger als andere Eltern hat er
Kaiserin 1 viele Wochen lang in die Kita begleitet. Immer wieder musste sie
wegen Krankenhausaufenthalten oder Infekten aussetzen. Erst seit zwei
Wochen ist sie regelmäßig zusammen mit den anderen Kindern und geht jeden
Tag von 9 bis 16 Uhr in die Kita.
Sie sitzt beim Frühstück auf ihrem Therapiestuhl neben den anderen Kindern.
Im Morgenkreis, im Garten, beim Ausflug – Kaiserin 1 ist überall dabei.
Beim Mittagsschlaf liegt sie auf ihrer eigenen kleinen Matratze, inmitten
der anderen Kinder. Einziger Unterschied ist der Sensor für die
Sauerstoffüberwachung an ihrem großen Zeh. Sie ist ein Kita-Kind, so wie
die anderen siebzehn Kinder auch. Ihr Name steht auf ihrem Fach im Flur,
und seit einem halben Jahr auch der Name ihrer Schwester.
Kaiserin 2 hat sich blitzschnell eingewöhnt, und ist eine stolze kleine
Schwester. Die ErzieherInnen erzählen uns, sie passe immer auf, dass alle
anderen Kinder lieb zu ihrer großen Schwester seien. Und das sind sie.
Während ich bei den Eltern Unsicherheit im Umgang mit unserer behinderten
Tochter spüre, gehen ihre Kinder ohne Vorurteile auf sie zu. Nachdem die
ersten unbedarften Fragen nach Hilfsmitteln wie dem Hörimplantat geklärt
waren, wurde sie von den anderen Kindern angenommen, wie sie ist. Manchmal
streiten sie sich darum, wer Kaiserin 1 in ihrem Therapiestuhl durch den
Garten schieben darf.
## Sie soll nicht in einer Parallelwelt aufwachsen
Während der Eingewöhnungszeit fand auch unser erster Elternabend statt. Wir
sollten unsere Tochter den anderen Eltern vorstellen, aufklären. Ich hatte
mir Notizen gemacht und erklärte nervös ihre Behinderungen und Krankheiten.
Danach meldete sich ein Vater zu Wort: „Ich bin jetzt ein bisschen
verwirrt! Meine Tochter hat schon oft von Kaiserin 1 erzählt. Aber nur,
dass sie mit ihr spielt und sie eine Brille trägt. Und ich habe gesagt:
’Eine Brille trage ich auch.‘“
Unsere mehrfach behinderte Tochter hat offiziell einen „wesentlich erhöhten
Bedarf an sozialpädagogischer Hilfe“. Das bedeutet, dass die betreuende
Kita eine halbe Erzieherstelle zusätzlich bezahlt bekommt. Zwanzig Stunden
pro Woche ist also eine Integrationskraft an der Seite unserer Tochter.
Mehr als diese 20 Extrastunden sieht das Berliner Gesetz nicht vor. Selbst
wenn ein Kind eigentlich rundum eine Eins-zu-eins-Betreuung benötigt, wie
unsere Tochter. Die Stadt hat uns aber einen Kita-Gutschein über 35
Wochenstunden bewilligt. Wer passt also in den übrigen fünfzehn Stunden auf
Kaiserin 1 auf?
Wir kämpfen gerade noch um eine gute Lösung. Seit einigen Wochen begleitet
eine Krankenschwester unsere Tochter durch den Kita-Alltag. Sie ist für
alle medizinischen Notfälle gewappnet und kontrolliert ihre
Sauerstoffsättigung im Schlaf. Für uns und die ErzieherInnen ist das eine
große Entlastung. Doch die Krankenkasse hat den ersten Antrag auf Übernahme
der Kosten abgelehnt. Wir haben nun Widerspruch eingelegt.
Vielleicht hätten wir es einfacher haben können, wenn wir Kaiserin 1 in
einer Spezialeinrichtung für behinderte Kinder angemeldet hätten. Aber wir
haben uns ganz bewusst für eine integrative – oder wie es eigentlich heißen
müsste: inklusive – Kindertagesstätte entschieden. Unsere Tochter ist ein
Teil dieser Gesellschaft. Wir sehen sie so, und wir möchten nicht, dass sie
in einer Parallelwelt groß wird. Für die Kinder in der Kita meiner Töchter
ist Inklusion jetzt schon alltäglich und normal.
6 Sep 2014
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