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# taz.de -- taz-Serie Inklusion (2): „Inklusion ist wie Kommunismus“
> Seit dem Fall Henri wird diskutiert, ob Gymnasien ein Ort für Kinder mit
> geistiger Behinderung sind. Eine Schule in Rheinau macht vor, wie das
> gehen kann.
Bild: Einige Schulen in Baden-Württemberg nehmen bereits seit Jahren auch Mens…
RHEINAU taz | Linus (13) dürfte eigentlich nicht dort sein, wo er Tag für
Tag ist: am Gymnasium. Linus wird nie das Abitur schaffen, sagen seine
Lehrerinnen. Er ist in Deutsch gut, in Mathe sehr schwach. Ein
Förderschüler. Und er sitzt im Rollstuhl. Sein Skelett ist nicht stabil
genug zum Gehen. Linus ist ein wacher Kerl mit Sommersprossen auf der Nase.
Im Pausenhof parkt er neben vier Mädchen, die auf dem Rand der
Tischtennisplatte sitzen. Er kennt sie aus dem Orchester, wo er Trompete
spielt. Solche Gespräche, solche Freizeitgestaltung hätte er an einer
Sonderschule nicht. Hier gehört er dazu und wird wegen des zu erwartenden
Schulabschlusses nicht separiert, wie es das deutsche Schulsystem
eigentlich vorsieht.
Knapp eine halbe Million Schüler haben in Deutschland einen sogenannten
sonderpädagogischen Förderbedarf. Fast drei Viertel von ihnen lernen in
speziellen Förderschulen. In Baden-Württemberg gilt derzeit noch eine
Sonderschulpflicht. In der vergangenen Woche beschloss die grün-rote
Regierung, dass Eltern von behinderten Kindern künftig selbst entscheiden
sollen, ob ihr Kind eine Sonder- oder eine Regelschule besucht.
Bereits im Jahr 2009 trat in Deutschland die UN-Konvention für die Rechte
von Behinderten in Kraft, nach der Behinderte ungehindert Zugang zum
regulären Schulsystem erhalten sollen.
## Rollstühle vor dem Klassenzimmer
Das Anne-Frank-Gymnasium in Rheinau war vor sieben Jahren das erste
Gymnasium in Baden-Württemberg, das mehrfach körper- und geistigbehinderte
Kinder ins Schulleben integriert hat. Sonderschüler und Gymnasiasten werden
unter einem Dach, gelegentlich auch im selben Klassenzimmer unterrichtet.
In Rheinau bilden Linus und acht weitere Schüler eine Außenklasse der
Oberlinschule, einer Sonderschule für Kinder mit Körperbehinderung im 13
Kilometer entfernten Kork. Die neun Schüler der Außenklasse sind zwischen
13 und 20 Jahre alt, körperbehindert und haben sonderpädagogischen
Förderbedarf.
Vor der Tür von Linus’ Klassenzimmer parken mehrere Rollstühle und
Stehpulte. Ein ganzer Fuhrpark. Ihre Lehrerinnen Julia Meier und Tatjana
Roser begrüßen jeden einzelnen Schüler aufmerksam. Die beiden Frauen leiten
die Außenklasse seit dem ersten Tag und haben das Modell mit Leben gefüllt.
„Anfangs lag der Schwerpunkt auf der Begegnung“, sagt Julia Meier. Die
Sonderschüler hatten ihren eigenen Stundenplan. In den Pausen blieb Zeit,
die anderen Schüler kennenzulernen. Doch mit der Zeit ist das Vertrauen der
Gymnasiasten, der Sonderschullehrerinnen und der Gymnasiallehrer in das
Modell gewachsen. Französischlehrerin Margit Velte hat ihre zehnte Klasse
mit der Sonderschulklasse zusammen unterrichtet. Thema waren das Buch
„Ziemlich beste Freunde“ und Fragen nach Glück, nach Freundschaft.
„Mit dem Film war das ein Selbstläufer“, sagt Velte. Für ihre Zehner sei
der gemeinsame Unterricht nicht anspruchslos, sondern sehr anstrengend
gewesen. Der Schwerpunkt habe auf Übersetzung gelegen – für die
Sonderschüler vom Französischen ins Deutsche, danach wieder zurück. Und für
Linus war der Unterricht einer der spannendsten seit Langem. Vor allem,
weil die Klasse dem Autoren, dem querschnittsgelähmten Philippe Pozzo di
Burgo, eine Einladung geschickt hat. „Er ist grad in Marokko, aber er würde
gerne mal kommen“, berichtet Linus und strahlt.
## Kein Frontalunterricht
Die Vorbereitung des Unterrichts erfordert indes viel Arbeit. „Wir müssen
differenzierte Lernziele festlegen und jede Stunde gemeinsam vorbereiten“,
sagt Französischlehrerin Velte über sich und ihre Sonderschulkolleginnen.
„Das ist absolutes Teamteaching.“ Frontalunterricht funktioniere nicht.
„Bei der Kooperation mit der Außenklasse habe ich methodisch umgestellt,
das gefällt meinen Schülern.“ Velte ist vom Modell begeistert, macht aber
nur ein Kooperationsprojekt pro Jahr. Weil viele Zusatzstunden nötig seien,
für die es keinerlei Ausgleich gebe.
Schulleiter Thomas Müller-Teufel legt denn auch Forderungen ans
SPD-geführte Kultusministerium auf den Tisch: „Geld für Räume und
Ausstattung, Stunden, Weiterbildungsmöglichkeiten.“ Es reiche nicht, zu
sagen, wenn man sich ein bisschen anstrenge, dann ginge das schon mit der
Inklusion.
Was die Rheinauer Schule macht, ist im engeren Sinne gar keine Inklusion,
das betonen Schulleiter und Lehrerinnen. Inklusion hieße, dass Schüler mit
Behinderung überhaupt nicht mehr separiert und in Sonderklassen
zusammengefasst werden. Was hier passiert, ist Integration. Und für
Müller-Teufel ist das ein Schritt in die richtige Richtung. „Inklusion ist
so was wie Kommunismus: Ein Idealzustand, den man nie erreicht.“ Jene, die
jetzt Inklusion fordern, besser gestern als heute, nennt er „Maulhelden“.
Kinder mit und ohne Behinderung sollen auf allen Schularten gemeinsam
unterrichtet werden – die geplante Änderung des Schulgesetzes soll diesen
Anspruch in Baden-Württemberg ab dem Schuljahr 2015/16 festschreiben. Und
die Lehrer haben sich darauf vorzubereiten. Das hat Kultusminister Andreas
Stoch (SPD) den Schulen im Land aufgegeben.
Auslöser war die Diskussion um den elfjährigen Henri aus Walddorf. Seine
Eltern wollten, dass er mit seinen Grundschulfreunden aufs Gymnasium
wechseln kann. Doch sowohl das Gymnasium als auch die Realschule wollten
Henri nicht aufnehmen. Nun wiederholt er die vierte Grundschulklasse.
## Für den Schulleiter fatal
Auch in Rheinau stellt man sich die Frage nach dem Kindeswohl. Was nützt es
einem Kind, in einer Klasse zu sitzen, die eine Sprache spricht, die das
Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht versteht? Klassenlehrerin
Tatjana Roser sieht einige Kinder, die profitieren würden – wie Linus, der
nach der Französisch-Einheit Smalltalk in der fremden Sprache beherrscht.
Anders ist es mit Kevin (20). Er sitzt im Rollstuhl, er kann nicht
sprechen. „Bei ihm geht es darum, seine Beweglichkeit zu fördern. Wo ist
für ihn der Gewinn, wenn er in einer Gymnasiumsklasse sitzt?“
Inklusion einer Schule zu verordnen, wie Henris Eltern es gefordert hatten,
hält Müller-Teufel für fatal. „Verordnen heißt zum Misserfolg verurteilen…
sagt er. „Man muss ermöglichen, ermutigen, Freiräume schaffen.“ Die
Gymnasiasten werden vor einer Kooperation gefragt, ob sie zum gemeinsamen
Unterricht mit der Außenklasse bereit sind. Abgelehnt habe in sieben Jahren
noch keine Klasse.
Sarah-Sabrina Östreich hat in diesen Sommer ihr Abitur am
Anne-Frank-Gymnasium gemacht. Jetzt ist sie für ein Praktikum in der
Außenklasse zurückgekommen. Sie gibt zu, dass sie zu Beginn ihrer Schulzeit
Hemmungen im Umgang mit Menschen mit Behinderung hatte. „Früher wusste ich
nicht, wie ich die behandeln soll“, sagt sie. Ihre Klasse habe auch nie mit
der Außenklasse kooperiert. Aber man sei sich begegnet – im Flur, in der
Mensa, auf dem Schulhof. „Man sagt mal Hallo, dann irgendwann: ’Wie geht’s
dir?‘ Und: ’Wie heißt du eigentlich?‘ Es ist wie bei anderen Leuten, man
lernt sich kennen.“
Geht doch, sagt man sich im Ministerium, und fordert die schnelle Umsetzung
von Inklusion in den Schulen. Müller-Teufel schüttelt den Kopf. Seine
Schule arbeite seit sieben Jahren behutsam, Kritiker mögen sagen,
zögerlich, aber doch bedacht an einem Modell des schulischen
Zusammenlebens. „Wir sind vielleicht auf halbem Weg“, sagt Schulleiter
Müller-Teufel. Er wünscht sich weitere Schritte. Dass man die Schüler mit
Behinderung auch in solchen Schulfächern mal integriert, in denen man jetzt
noch sagt: „Das geht doch nicht!“ In Mathe vielleicht.
8 Aug 2014
## AUTOREN
Lena Müssigmann
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